Tag Archives: Kindheit

Benedict Wells – Vom Ende der Einsamkeit

Fünf Jahre nach seinem letzten Titel meldet sich Benedict Wells mit seinem neuen Titel Vom Ende der Einsamkeit zurück – und wie: Einstieg auf Platz 3 der Bestsellerliste, sich überschlagende Lobeshymnen in den Blogs und Feuilletons. Doch sind die Lorbeeren wirklich gerechtfertigt? Mit großer Neugier nahm ich mir ein paar Stunden Zeit für das Buch und wurde mehr als belohnt.

 

„Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.“ (Lew Tolstoi, Anna Karenina)

 

Ende EinsamkeitDiesen berühmten Romananfang des Jahrhundertwerks Anna Karenina füllt Benedict Wells in seinem Roman mit neuem Leben. Er erzählt von Liz, Marty und Jules Moreau, dreier Geschwister, die schon früh ihre Eltern bei einem Autounfall verlieren. Dies wirft alle drei aus der Bahn und führt zu ganz unterschiedlichen Konsequenzen. Nach der Zeit im Internat taumelt der Ich-Erzähler Jules durch sein Leben, versucht sich in der Fotografie und Kurzgeschichten, doch sein Kompass im Leben scheint den Dienst zu versagen. Seine Schwester Liz treibt von Mann zu Mann, ohne wirklichen Inhalt im Leben zu finden. Und Jules‘ Bruder Marty wandelt sich vom Nerd zum Entrepreneuer, doch glücklich ist auch er nicht. Mit dem Verlust der Eltern haben die drei Figuren eine so schwerwiegende Last aufgeladen bekommen, dass sie alle drei ihr Leben lang daran zu tragen haben werden.

Einen Ausweg aus seinem Durchs-Leben-Treiben könnte Jules nur Alva bieten, zu der er seit seiner Kindheit im Internat eine enge Bindung hegt, doch auch diese Beziehung ist alles andere als einfach und verlangt von Jules alles ab. Bei seinem Kampf um Glück und die Befreiung von seinem schweren Ballast ist der Leser ganz nahe dran und verfolgt gebannt, ob Jules Moreau je das Ende der Einsamkeit erreichen wird.

 

Foto: © Bogenberger / autorenfotos

Foto: © Bogenberger / autorenfotos

Vom Ende der Einsamkeit ist ein großes, trauriges und dabei doch auch versöhnliches Buch, das nie in Pathos oder erdrückende Gefühlsduselei abgleitet. Hier schreibt ein neuer (und ich möchte fast sagen noch besserer) Benedict Wells. Viele Szenen, Dialoge oder Aphorismen möchte man aus dem Buch heraus notieren, zitieren und nie wieder vergessen. Seine einfühlsame Schilderung des Lebens seiner Figuren zeugt von großer Reife und Einsicht. Den Sound der Melancholie, den Wells schon in den ersten drei Büchern pflegte (Becks letzter Sommer, Spinner und Fast genial) hat er hier noch einmal perfektioniert, wenn auch mit einer erheblich traurigeren Grundorchestrierung.

Dass das alles nicht zu erdrückend wird, verdankt das Buch auch seiner tollen Erzählkonstruktion. Das chronologisch geraffte Erzählen (stets fasst Wells ein paar Jahre als Kapitel zusammen) durchbricht er mit Vorausschauen, die die Spannung und den Wunsch nach mehr hochhalten. Er hält die Balance zwischen seinen Figuren und fasst die 30 Jahre dauernde erzählte Zeit auf 360 Seiten so zusammen, dass alles passt und stimmig wirkt. Die Liebe und Mühe, die über fünf Jahre in dieses Buch geflossen sind, merkt man dem Titel definitiv an.

 Fazit:

Vom Ende der Einsamkeit ist ein trauriges, aber auch von Hoffnungsfäden durchwirktes Buch, das noch über die letzten Seiten und das Zuklappen des Buchs nachhallt. Zu recht ganz weit oben in den Bestsellerlisten und einer der stärksten Frühjahrstitel. So gut war das Diogenes-Programm schon lange nicht mehr (man denke nur auch an den nahezu parallel erschienen Trick von Emanuel Bergmann). Unbedingt lesenswert!

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Hanns-Josef Ortheil – Die Berlinreise

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Nach der Moselreise veröffentlicht der Schriftsteller und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus hier das zweite Buch aus seiner Kindheit. Nachdem er im Alter von 11 Jahren mit seinem Vater die Moselregion bereiste und in der Folge eine Collage aus Erlebnisbericht, Postkarten und Beschreibungen für seine Eltern anfertigte, tat er dies auch ein Jahr später in Berlin. Analog zur Moselreise collagiert der 12-jährige Hanns-Josef in der Berlinreise auch wieder Eindrücke, die er im Jahr 1964 aus der geteilten Stadt Berlin mitnahm. Über mehrere Tage hinweg durchstreift der Bub zusammen mit seinem Vater die Stadt, bereist Orte aus der Vergangenheit des Vaters und seiner Mutter und unternimmt auch einen Ausflug in den Ostsektor der Stadt.

Langsam fühlt sich Hanns-Josef in die Geschichte der Stadt und die Geschichte seiner Eltern ein. Einfühlsam von seinem Vater betreut erkundet er das Leben seiner Eltern während des zweiten Weltkriegs und erfährt traurige Geschichten seiner Familie, die sein Weltbild gehörig durcheinander wirbeln.

Der Text ist chronologisch in die Tage des Aufenthalts aufgeteilt, eingeleitet werden die Kapitel stets mit Bildern oder Postkarten aus jenen Tagen, die Ortheil während seiner Reise sammelte. Neben den Nacherzählungen seiner Erlebnisse, die er im Nachhinein der Reise arrangierte, wird der Text von Postkarten an seine Mutter unterbrochen, die aufgrund einer Erkrankung in Köln bleiben musste. Zudem ist der Text mit kurzen Einschüben und Betrachtungen des jungen Ortheils angereichert, in denen er seine kindliche Sicht auf bestimmte Dinge schildert, z. B. den Unterschied beim Frühstücken oder Bummeln in Köln und Berlin.

Auch in der Berlinreise lässt sich wieder der hellsichtige junge Beobachter Ortheil erkennen, dessen Talent zum Schreiben und Beobachten auf jeder Seite zu Tage tritt. Gewählt und stilsicher verfasst der 12-Jährige seine Beobachtungen und Collagen und ruft damit Erinnerungen an ein Berlin vergangener Tage wach, in dem die Mauer verlief, die Ausläufer des Wirtschaftswunders zu spüren waren und die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland Bonn hieß.

Der kindliche naive Ton verliert sich hier ein wenig, man merkt die Reifung des Kindes im Vergleich zur Moselreise. Das Volumen dieses Buchs ist mit 288 Seiten schon gewichtiger als Ortheils erster Reisebericht, schafft es aber, genauso anzurühren und den Leser in die vergangene Welt der Kindheit abtauchen zu lassen. Ein literarisches Dokument und der Erlebnisbericht aus einer vergangenen Epoche, der mich in seinen Bann zog und sicher nicht mein letzter Kontakt mit Hanns-Josef Ortheil bleiben wird.

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Karl-Ove Knausgård – Spielen

Eine norwegische Kindheit

 „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Friedrich Schiller :  Über die ästhetische Erziehung des Menschen.

Friedrich Schiller fasste schon Ende des 18. Jahrhunderts zusammen, was der norwegische Bestseller-Autor Karl-Ove Knausgård im dritten Teil seines Min-Kamp-Zyklus‘ mit der deutschen Übersetzung Spielen bestätigt.

 

Um dieses ehrliche, unbändige Spielen zu betrachten, begibt sich Knausgård tief hinein in seine Erinnerungen an seine Kindheit. Spielen im Park, Herumstrolchen, erste Erfahrungen des eigenen Körpers – all das packt er wieder hinein in dieses wilde literarische Kaleidoskop , wie er es zuvor schon mit den Themen Sterben und Lieben getan hat.

In einem wilden Erinnerungsstrom gedenkt er seiner ruhigen Kindheit in Norwegen, dem Aufwachsen in einem strengen und disziplinierten Haushalt und die Freundschaften und Streifzüge, die er im Laufe seiner Schulzeit unternahm.

Erkundungen einer Müllkippe, Beschreibungen der Urlaube auf dem Bauernhof der Großeltern oder Schikanen seines disziplinversessenen Vater, unter denen Karl-Ove ständig leiden musste.

Neben alltäglichen Betrachtungen stehen auch hier wieder existenzialistische Einsichten, Überlegungen und Gedanken, die den Leser in Knausgårds Welt einladen und unwiderstehlich in eigene Erinnerungen überführen. Für mich bietet das autobiographische Romanprojekt Knausgård stets viele Reflektionsvorlagen und schleuderte mich durch die Beschreibung  alltäglichen Ereignisse direkt wieder zurück in die eigene Kindheit und jene Tage, in denen die Tage scheinbar endlos waren und an jeder Ecke Überraschungen und spannende Streifzüge lauerten.

Dieses ehrliche, ungefilterte und echte Spielen – Knausgård holt es wieder hervor und versetzt den Leser damit selbst wieder in seine Kindheit. Erneut eine superbe literarische Reflektionsvorlage für die eigene Biographie!

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Joe R. Lansdale – Ein feiner dunkler Riss

Ein typischer Lansdale

Wann ist ein Autor ein Großer? Wenn seine Schreibe unverkennbar ist, wenn man schon auf den ersten Seiten den Eindruck hat, heimzukehren und wenn der Autorenname nicht auf dem Cover stehen müsste, um ihm das Buch zuordnen zu können.

Joe R. Lansdale zähle ich definitiv zu den großen Krimiautoren unserer Tage – und sein Roman Ein feiner, dunkler Riss stammt definitiv aus der Feder des Romanciers. Ursprünglich schon 2002 erschienen hat es das Buch nun beim Suhrkamp-Verlag ins Taschenbuch-Format geschafft (Übersetzung Heide Frank)

Der Roman wird vom Ich-Erzähler Stanley als Kindheitserinnerung erzählt (auch so ein typischer Lansdale-Kniff) und enthält alle Zutaten, die die Bücher Lansdales kennzeichnen: ein unschuldiges Kind in Texas wird im Laufe des Buchs zum Erwachsenen, ein Verbrechen aus der Vergangenheit wird aufgeklärt, das Kind tritt dem Rassismus entgegen. Im vorliegenden Fall entdeckt Stanley eine Kiste mit alten Liebesbriefen und stößt auf ein verlassenes Haus, das nur der Auftakt zu größeren Abenteuern ist. Zusammen mit seinen Freunden und dem alten farbigen Filmvorführer Buster, der er sich als ehemaliger Polizist entpuppt, ermittelt er um den Geheimnissen seines Städtchens auf die Spur zu kommen.

Ein solides Buch aus der Feder Lansdales, aber kein Meisterwerk

Mit Ein feiner, dunkler Riss ist Lansdale erneut eine spannende und wehmütige Hommage an ein lang vergangenes Texas gelungen. Zwar kommt Ein feiner, dunkler Riss nicht an Lansdales Meisterwerke Die dunklen Wälder am Fluss und Der Teufelskeiler heran, dennoch wieder ein grandioser Roman übers Erwachsenenwerden und die Erinnerungen an die Kindheit.

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Cathi Unsworth: Opfer

Eher Jugendroman als Krimi

Sie sind zweifelsohne das Jahrzehnt mit der absonderlichsten Mode und dem bizarrsten Geschmack gewesen – die Rede ist von den 80ern. In diesem Jahrzehnt ist auch der eine der beiden Stränge von Opfer von Cathi Unsworth angesiedelt.

Damals wurde im kleinen englischen Städtchen Ernemouth Corinne Woodrow festgenommen, da sie im Verdacht stand, einen Jungen ermordet zu haben. Der zweite Strang, der zwanzig Jahre später im Jahr 2003 spielt, präsentiert nun Sean Ward, einen versehrten Privatermittler, der sich mit dem damaligen Mord beschäftigt.

Neue Spuren haben ergeben, dass Corinne Woodrow unter Umständen für eine Tat zur Rechenschaft gezogen wurde, die sie vielleicht gar nicht begangen hat. Dies ist ein schon fast klassischer Plot – ein einsamer Ermittler, der einen alten Fall neu aufrollt und dabei Überraschendes zutage fördert.

Doch leider vermag Cathi Unsworth in Opfer diesem altbekannten Muster keine neue Facetten abzugewinnen. Sie beschreibt detailliert die Dynamiken innerhalb der Jugendclique um Corinne Woodrow 1983 und lässt auch Sean Ward ausführlich herumschnüffeln. Leider geht ob der ausführlichen Beschreibung ihrer beiden Hauptcharaktere die Spannung über die ganze Länge des Buches ab. Als Kriminalroman würde ich deshalb Opfer mitnichten bezeichnen. 

Es ist ein ruhiger Roman über das Erwachsenwerden und den Sinn, der darin liegt. Cathi Unsworth vermag gekonnt von den Sehnsüchten und Taten der jungen Engländer in den 80ern zu erzählen – ein spannendes Buch wird daraus trotzdem nicht. Wer einen Coming-Of-Age-Roman sucht, der könnte mit Opfer sein Buch in Händen halten, allen anderen, denen die Spannung wichtig ist, sollten diesem Buch nicht unbedingt den Vorzug geben!    

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