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Lili Cassel-Wronker – A London Diary

Ein bemerkenswertes Kunst-Stück hebt der unabhängige Verlag Das kulturelle Gedächtnis mit Lili Cassel-Wronkers A London diary. Denn darin zeichnet und beschreibt die gerade einmal fünfzehn Jahr alte Lili einen Aufenthalt während des Kriegsjahres 1939/1940 bei ihrem Vater in London – und zeigt damit den Alltag im Krieg aus kindlicher Perspektive. Neben der Gestaltung des Buchs ist auch die Geschichte der Autorin selbst beeindruckend.


Ein Mädchen kommt zu Besuch in die Hauptstadt Großbritanniens und führt darüber Tagebuch. Was so alles andere als außergewöhnlich klingt, ist es im Falle von Lili Cassel-Wronker durchaus. Denn nicht nur, dass das Buch als grafisches Gesamtprojekt konzipiert ist, auch die Begleitumstände des Buchs und die Vita von seiner Verfasserin sind außergewöhnlich.

Denn wir schreiben das Jahr 1939, das sich langsam seinem Ende zuneigt. Hitler hat Großbritannien den Krieg erklärt und überzieht die britische Insel mit Angriffen. Kurz zuvor hatte Lili mit ihrer Schwester ihre Heimat in Deutschland verlassen müssen, da die Nazis jüdische Familien spätestens seit den Nürnberger Rassegesetzen immer stärker verfolgten.

Ihr Vater Josef Cassel, eigentlich ein in Berlin ansässiger Arzt, hatte sich 1938 entschlossen, zusammen mit seiner Familie aus Deutschland zu fliehen. Die Ausreise gestaltete sich allerdings schwieriger als gedacht und so wurde die Familie in verschiedene Richtungen zerstreut.

Während sich Josef Cassel als Arzt in London ein neues Leben aufzubauen versuchte, blieben seine Frau und die Großmutter in Brüssel. Die beiden Töchter indes besuchten eine Schule in Surrey, die speziell für junge jüdische Geflüchtete aus Österreich und Deutschland eingerichtet worden war.

Ein Besuch in London 1939

Lili Cassel-Wronker - A London diary (Cover)

Zumindest partiell gelang die Familienzusammenführung im Winter 1939/1940, als Lili und ihre Schwester ihren Vater in London besuchten. Zum Glück für die Nachwelt hielt die damals fünfzehn Jahre alte Lili diesen Besuch in Form eines Tagebuchs fest, indem sie mit klarer Schrift und gespitztem Zeichenstift ihre Eindrücke des Großstadtlebens und der Auswirkungen des Kriegs im Stadtbild und Alltag auf Papier bannte.

Nun hat der Peter Graf, verdienter Bergungsspezialist außergewöhnlicher Bücher, diesen im Deutschen Exilarchiv 1933 – 1945 schlummernden Schatz erstmals der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht.

In der Übersetzung von Beate Swoboda und mit einem Vorwort der Büchner-Preisträgerin Ursula Krechel versehen gibt es die bunt illustrierten Seiten zu entdecken, die von den Freuden eines Kinobesuchs erzählen, bei der die Cassels einem amerikanischen Spielfilm mit der jungen Gloria Jean beiwohnen, Weihnachten mit Gesellschaftsspielen feiern oder bei der Hochzeit ihrer Englischlehrerin zugegen sind.

Neben allen touristischen und gesellschaftlichen Eindrücken finden sich inmitten der bunt illustrierten Seiten aber auch immer wieder Echos des Kriegs, der sich zum Entstehungszeitpunkt des Tagebuchs schon zu einem Weltkrieg ausgewachsen hat. Die Verdunklung oder die Sperrballons am Londoner Himmel zeichnet Lili Cassel-Wronker ebenso wie die Anprobe einer Gasmaske, bei der das junge Mädchen hoffnungsvoll notiert, dass sie hoffentlich nie in die Verlegenheit kommen möge, diese Maske anzulegen.

Eindrücke aus einer Hauptstadt im Krieg

Hellsichtig auch, wie sie mit nur wenigen Strichen den Propagandisten Lord Haw-Haw alias William Joyce als distinguiert-dümmlichen Esel darstellt. Dieser überzog von Deutschland aus die Briten mit Falschmeldungen und Propaganda, um deren Moral zu schwächen. Stattdessen ruft der Agitator bei der aus Deutschland geflohenen Lili eher Abscheu und Lächerlichkeit hervor.

Großartig — nicht nur in persönlich-beruflicher Hinsicht — auch die Seite, in der sich Lili Cassel-Wronker den Vorzügen der britischen öffentlichen Büchereien widmet und neben einer zum Schmunzeln anregenden Zeichnung auch die Erkenntnis festhält, dass das Großartige an diesen Bücherhallen ist, dass „du […] die wunderbarsten oder teuersten Bücher lesen und anschauen [kannst] – ganz ohne Geld.“

Schon früh zeigt sich hier eine Künstlerin, deren Strich das genaue Studium von Modezeitschriften verrät und schon in jungem Alter eine enorme künstlerischer Ausdruckskraft an den Tag legt.
In späteren Jahren verfestigte sich dieses Talent nur noch mehr und Lili Cassel-Wronker wurde in den USA zu einer erfolgreichen Illustratorin und Zeichenlehrerin, die gleich für ihr erstes offizielles Buch mit einem Preis als eines der jahrgangsbesten durch das American Institute of Graphic Arts ausgezeichnet, wie Ursula Krechel in ihrem Vorwort erklärt.
Auch später sollte sie sich in ihren Arbeiten immer wieder auch mit ihrem jüdischen Erbe auseinandersetzten.

Eine Fluchtgeschichte mit Happy End

Und auch wenn das junge Mädchen in ihrem Buch angesichts des in der britischen Hauptstadt nicht gefeierten Silversterfests resignierend festhält, dass ihr angesichts des bevorstehenden Jahres eh nicht zum Feiern zumute ist, so erfreut doch die historische Erkenntnis, dass es ebenjenes Jahr 1940 war, das zumindest für Lili und ihre Familie selbst durchaus Positives bereithielt.

In jenem Jahr gelang nämlich die Familienzusammenführung der Cassels, die gemeinsam die Flucht nach New York antreten konnten. So wurde dann auch wahr, was sie ihrem Buch voranstellt.

Gewidmet ist A London diary nämlich einem Ehepaar in New York, ihren „noch unbekannten Freunden“, wie Lili schreibt. Dass sich diesem Abstand mit der Ankunft der Familie in den USA vielleicht dann Abhilfe geschaffen werden konnte, es ist eine schöne Hoffnung, die die Publikation des Buchs zumindest weckt.


  • Lili Cassel-Wronker – A London diary
  • Aus dem Englischen übersetzt von Beate Swoboda
  • Herausgegeben von Peter Graf
  • ISBN 978-3-946990-86-4 (Verlag Das kulturelle Gedächtnis)
  • 32 Seiten. Preis: 22,00 €

David Szalay – Was nicht gesagt werden kann

Vom Mörder zum Baulöwen in der englischen High-Society, von der Einsamkeit in die Arme einer Geliebten: In seinem Roman Was nicht gesagt werden kann schickt David Szalay seinen Protagonisten István auf einen Weg zwischen tiefen Tälern und steilen Höhen des Lebens. Nur das mit dem Ankommen, es will zu keinem Zeitpunkt so recht klappen.


Liest man den neuen Roman des 1974 in Kanada geborenen David Szalay, ist man doch verwundert, schaut man auf die bislang erschienen Romane. In diesen erhob er das episodische Erzählen zur Kunstform, etwa in seinem letzten, von Hennig Ahrens ins Deutsche übertragenen Roman Turbulenzen. Dort schüttelte er in den titelgebenden Turbulenzen eines Flugzeugs die Leben mehrerer Passagiere auf einem Linienflug durcheinander und erzeugte dadurch einen Reigen von Leben und Schicksalen.

Schon in seinem ersten, ebenfalls von Henning Ahrens übersetzten Roman Was ein Mann ist, wandte Szalay dieses Erzählprinzip eines Reigens an, um von mehreren Männern in ganz verschiedenen Altersstufen und Lebensstadien zu erzählen – und dabei nicht nur einen Blick auf Männlichkeit in der Gegenwart zu werfen, sondern auch für einen englischsprachigen Erzähler reichlich ungewöhnliche Schauplätze wie etwa den oberfränkischen Pilgerort Vierzehnheiligen aufzusuchen.

Ein biografischer Roman anstelle von Reigen

David Szalay - Was nicht gesagt werden kann (Cover)

Liest man nun diesen dritten, wieder von Ahrens ins Deutsche übertragenen Roman, ist eine völlige Abkehr von diesem multipersonellen Erzählkonzept zu beobachten. Stattdessen nimmt sich David Szalay diesmal einen ganz konventionellen biografischen Rahmen vor, um wie etwa Robert Seethaler das Schicksal eines Mannes chronologisch von der Kindheit bis zum Tod durchzuerzählen.

Sein Held heißt István. Er wächst in einem ungarischen Plattenbau auf, wo er bei seiner alleinerziehenden Mutter wohnt. Schon bald folgt er der Lust des Fleischs (das im englischsprachigen Original den Titel bildet), die sich ihm im Zuge der Offerte einer verheirateten Nachbarin bietet. Diese übernimmt die sexuelle Initiation des deutlich jüngeren Mannes, was von ihr aber deutlicher ernst genommen wird als von István.

Dieser verfällt der Nachbarin immer mehr und wird in seinem fleischlichen Begehren sogar zum Mörder. Eine Gefängnisstrafe und ein Abstecher zum Militär folgen, ehe István später in einer Art Pygmalion-Moment zu einem Personenschützer in London aufsteigt.

Die Lust des Fleisches

Dort wird er zum Aufpasser des absurd reichen Oligarchenpaares Nyman, das unter umgekehrten Vorzeichen eine ähnlich hohe Altersdifferenz aufweist, wie es damals bei István und seiner Nachbarin der Fall wird. Auch hier erscheinen sie wieder, die Verlockungen des Fleisches – und wieder folgt eine Affäre, die István – so viel Klischee darf sein – zum Liebhaber seines eigentlichen Schutzobjekts macht. Diese Affäre ist es auch, die ihm den Aufstieg in die höchsten Kreise der englischen High Society ermöglicht, wo István zu einer Art Baulöwe, oder im Businesssprech zum Projektentwickler wird. Doch wie es schon Ikarus erging, so muss auch István feststellen, dass auf einen Höhenflug auch ein tiefer Absturz folgen kann.

Tatsächlich sind es hohe Gipfel des Erfolgs wie auch tiefe Täler, die István in Form von Gefängnis oder Traumata durchwandert. Gemein ist allen Stationen dieses Lebenswegs, dass er sie stoisch erträgt. Selbst der Mord am Nachbar wird bei ihm zu einer recht kühlen Angelegenheit, die er ebenso wie Traumata oder den Abstieg nach seinem Aufstieg in die englische Oberschicht durchmisst, ohne davon tiefer ergriffen zu sein, und das obschon David Szalay als Erzähler ja ganz nah dran ist an seiner Figur.

Ein moderner Mann ohne Eigenschaften

Mit István erschafft Szalay einen modernen Mann ohne Eigenschaften, der erkennbar aus Fleisch und Blut geformt ist, dessen Seele und inneren Kämpfen man aber überhaupt nicht nahekommt. In den Dialogen recht minimalistisch und zurückhaltend agierend erfüllt David Szalays Held so auch den völlig anderen, aber ebenso zutreffenden Titel Was nicht gesagt werden kann.

Hieraus zieht Szalays Roman seinen Reiz: intime Momente, Gefühle, eine enorme Spanne von Berufen, Emotionen und Bindungen und doch stehts das Gefühl, dass sie István nicht tiefer gehend berühren, dieser Mann keine tiefere Verbindung zu sich selbst hat und stattdessen dieses Leben eher als Zuschauer des eigenen Lebens denn als gestaltender Protagonist erlebt.

Fazit

Damit greift Szalay trotz der völlig anderen Erzählform ein Stück weit auch seine Männlichkeitsvermessung aus Was ein Mann ist auf und zeigt uns hier ein wenig greifbares Exemplar dieser Spezies, bei dessen Schicksal man als Zuschauer deutlich mehr mitfiebert, als es das beobachtete Objekt selbst tut.

Erkennbar tat das im Übrigen auch die Jury des renommierten britischen Booker-Prizes, die in diesem Jahr David Szalay den Preis für den Roman zusprach, nachdem er es mit Was ein Mann ist bereits im Jahr 2016 in die engere Auswahl für den Preis geschafft hatte.


  • David Szalay – Was nicht gesagt werden kann
  • Aus dem Englischen von Henning Ahrens
  • ISBN 978-3-54610150-9 (Claassen)
  • 384 Seiten. Preis: 25,00 €

Paul Gallico – Der Krönungstag

Wir schreiben den 2. Juni 1953 und ganz Großbritannien steht Kopf. Denn heute ist er gekommen, Der Krönungstag, an dem Elizabeth II. zur Königin ausgerufen wird. Das möchte sich auch die Familie Clagg aus Sheffield nicht entgehen lassen – und stolpert in Paul Gallicos nostalgischer Geschichte in ein Abenteuer in der britischen Hauptstadt.


25 Guineen, so viel hat jedes der Tickets gekostet, das Familienvater Will Clagg für seine zwei Kinder Johnny und Gwendoline, seine Frau Violet und die griesgrämige Schwiegermutter erworben hat. Es ist ein halbes Vermögen für die Familie aus der Arbeiterschicht, das der Vater in Tickets investiert hat, um mit dabei zu sein, wenn Geschichte geschrieben wird und die frisch gekrönte Elizabeth II. am Krönungstag auf dem Weg vom Buckingham Palast hin zur Westminster Abbey mit einer großen Parade gefeiert wird.

Er sagte bloß an einem Sonntagnachmittag Anfang April, als sie in dem bescheidenen Haus in der Imperial Road Nr. 52 in Little Pudney am Esstisch saßen: „Hört mal, was würdet ihr sagen, wenn wir alle zur Krönung nach London fahren?“
Die Frage hatte seine Familie erschüttert, verblüfft, aufgewühlt, hypnotisiert, erschreckt und verzaubert. Er hatte sie wie eine glimmende Zündschnur auf den Tisch geworfen, wo sie brannte und sprühte und den Rauch und die Flammen des Abenteuers entfachte.

Paul Gallico – Der Krönungstag, S. 20

Für die Familie bedeuten die Tickets eine echte Entscheidung, denn um sich die Kosten leisten zu können, hat der Familienrat getagt und entschieden, anstelle des jährlichen Urlaubs am Meer diesmal das Geld in die Krönungstickets zu investieren.

Eine Familie im Krönungsfieber

Paul Gallico - Der Krönungstag (Cover)

Doch dann das: als sich die Familie übermüdet nach einer nächtlichen Bahnfahrt von einem Vorort in Sheffield im vibrierenden London wiederfindet, folgt auf die Euphorie schnell die Ernüchterung. Denn die über einen Verwandten besorgten Karten sind eine dreiste Fälschung. Das Haus, von dem aus sie in der ersten Reihe einen Blick auf die Parade werfen wollten, erweist sich als Brandruine. Die Familie ist Betrügern aufgesessen.

Und so gibt es statt der erhofften Blicke auf Kutsche und Königin, Champagner und Parlando mit Menschen von Welt nur lange Gesichter im Nieselregen der britischen Hauptstadt. Doch davon lassen sich die Claggs nicht unterkriegen und verbringen den Krönungstag trotzdem in London, das vor Erregung über die kurz bevorstehende Krönung zu vibrieren scheint.

Gelungen erzählt der 1897 geborene US-amerikanische Sportreporter und Schriftsteller Paul Gallico in dem ursprünglich 1962 erschienenen Roman Der Krönungstag von der einzigartigen Atmosphäre in der britischen Hauptstadt. Es ist das Nebeneinander von großen Enttäuschungen und kleinen Dingen, die den Tag dann doch unvergesslich machen, das anrührt.

Ein ganz besonderer Tag

Denn trotz der großen Enttäuschungen des aufgesessenen Ticketbetrugs erlebt die Familie immer wieder kleine besondere Momente, die für sie den Tag besonders machen und die zumindest kurzzeitig die im Alltag stets manifesten Klassenschranken an diesem Tag als überwindbar erscheinen lassen:

Denn der Korken stand in gewissem Sinne für das Durchbrechen des Musters der Enttäuschungen in ihrem Leben

Paul Gallico – Der Krönungstag, S. 177

Ein Fläschchen Champagner im Bordbistro, ein Regimentsabzeichen, ein Schluck Gin für die miesepetrige Großmutter – es sind die kleinen Dinge, die für die Claggs doch so viel bedeuten, wovon Paul Gallico anschaulich zu erzählen vermag. Ähnlich wie in R. C. Sherriffs Roman Zwei Wochen am Meer ist es auch hier eine durchschnittliche Arbeiterfamilie, die trotz materieller Beengtheit einem Tag etwas ganz Besonderes abzuringen vermag.

Fazit

Das Besondere in einfachen Leben und der Moment, wenn Momente in Leben unvergesslich werden, Paul Gallico vermag in diesem nostalgischen Roman rührendend davon zu erzählen und erinnert damit auch an andere Erzähler wie den schon erwähnten R. C. Sherriff, Reginald Arkell oder J. L. Carr.


  • Paul Gallico – Der Krönungstag
  • Aus dem Englischen von Robert Lucas
  • ISBN 978-3-311-70422-5 (Oktopus)
  • 192 Seiten. Preis: 16,99 €

Andreas Storm – Die Victoria-Verschwörung

Die Klärung der Provenienz eines Gemäldes bringt den Kunstsachverständigen und Bonvivant Lennard Lomberg in Andreas Storms Kunstkrimi Die Victoria-Verschwörung einmal mehr in Kontakt mit einem dunklen Kapitel der Historie. Diesmal ist es die deutsch-britische Geschichte, in die er bei seinen Recherchen tief eintaucht. Die Suche nach den Hintergründen einer möglichen Kunstfälschung führt ihn von den Kreise der Royals bis ins Köln der 1960er Jahre, als die Queen Köln besuchte…


Waren es in seinen beiden vorherigen Einsätzen die eigene Familiengeschichte, in die der Kunstsachverständige Lennard Lomberg nach einem Mordfall in Bonn eintauchte (Das neunte Gemälde) und die Zeit der Franco-Diktatur in Spanien (Die Akte Madrid), so bleibt Andreas Storm seinem Erzählkonzept der Verschmelzung von erzählter Gegenwart und Nachkriegsgeschichte treu. Nach Deutschland und Spanien ist es nun Lombergs zweite Heimat England, in die den Kunstkenner ein Auftrag führt, der nach der Expertise und den Kontakten Lombergs verlangt.

Ein Gemälde mit heikler Provenienz

Abermals löst ein Gemälde mit heikler Provenienz die ganze Handlung des Romans aus. So soll Lennard Lomberg auf Vermittlung seines Freundes Peter Barrington diskret für den Verwalter der royalen Kunstschätze in Großbritannien tätig werden. Denn dieser steht vor einem großen Problem.

McEwan zögerte. Dann wandte er sich Lomberg zu: „Nun ja. Die Wahrheit, Dr. Lomberg, lautet: Wir werden erpresst.“

„Wer ist wir?“

„Der Royal Collection Trust. Letzten Mittwoch, also am 21., wurde ein Brief an den Trust zugestellt. An mich adressiert, ohne Absender. In dem Schreiben behauptet ein Unbekannter, dass es sich bei der Victoria 1845 um eine Fälschung handelt. Das Original würde sich aber nicht in Windsor Castle befinden. Als vorläufiger Beleg für diese Behauptung war dem Schreiben ein Foto beigefügt.“ McEwan deutete auf den Tisch: „Das hier.“

Andreas Storm – Die Victoria-Verschwörung, S. 28

Ein in den Privatgemächern der Queen hängendes Aquarellgemälde, das ihre Amtsvorgängerin Königin Victoria zeigt, es setzt die Handlung in Gang, die zu Teilen in München, in London und Nordrhein-Westfalen spielt.

Die verschwundene Victoria 1845

Andreas Storm - Die Victoria-Verschwörung (Cover)

Lange Zeit war das Gemälde von Königin Victoria verschwunden, ehe es von den Deutschen im Rahmen eines Besuchs von Königin Elizabeth II. im Nachkriegsdeutschland der 60er Jahre an die Krone zurückgegeben wurde. Doch nicht nur, dass den royalen Kunstschatz der Ruch einer Fälschung umweht – auch die Vorgeschichte des Kunstwerks ist mehr als spektakulär und dubios. So befand sich die Victoria 1845 einst im Besitz des früheren Prince of Wales und kurzzeitigen Königs Eduard VIII., der das Gemälde nach seiner Abdankung vom Thron ins gemeinsame Pariser Exil mit seiner Frau Wallis Simpson nahm.

Nach der Besatzung von Paris durch die Deutschen und den Wegzug des abgedankten Königs verschwand das Bild spurlos, ehe es dann pünktlich zum Besuch der Queen im Köln des Jahres 1965 wieder auftauchte. Was ist in der Zwischenzeit mit dem Gemälde geschehen und was hat eventuell die Sympathie des abgedankten Regenten für die Nationalsozialisten mit dem Gemälde und dem anonymen Erpresser zu tun?

Es ist eine höchst delikate Angelegenheit, die viel Fingerspitzengefühl erfordert und für die Lomberg tief eintaucht in die Geschichte des Gemäldes und die verschlungenen Wege, die die Victoria 1845 nahm.

Dafür setzt Storm auf sein bewährtes Erzählkonzept der verschachtelten Rückblenden, die zurückführen nach München und zum britischen Geheimdienst, der im besetzten Paris unter gefährlichen Umständen operierte. Verbunden mit der Spurensuche rund um das Gemälde in der Gegenwart entsteht so ein komplexer Kunstkrimi, der Zeitgeschichte, Spekulation, britisches Lebensgefühl und die Welt der Kunst miteinander gut verzahnt.

Ein formidabler Kunstkrimi

Vielleicht sind es ein paar Zufälle zu viel, wenn sich ausgerechnet eine einstige Münchner Kindergärtnerin aus den 60er Jahren dann als Trauma-Expertin im England der Jetztzeit entpuppt, die die richtigen Diagnosen fällt, um den Zustand jener Kunstrestauratorin zu lösen, die mit der Begutachtung der Victoria 1845 beauftragt war und die in eine tiefe Krisis fällt, da ihr eigenes Schicksal aufs Engste mit dem Gemälde verbunden ist.

Von solchen knirschenden Erzählscharnieren abgesehen ist Andreas Storm auch im dritten Streich wieder ein formidabler Kunstkrimi gelungen, der niveauvolle Unterhaltung mit Savoir Vivre und Spannung bietet und der mit seiner ambitionierten Erzählstruktur keine Langweile aufkommen lässt.

Mit seinen Kunstkrimis ist er zu einer deutschen Antwort auf Martin Suter und dessen Ermittler Johann von Allmen avanciert und bedient so seine eigene Nische auf dem schier unübersichtlichen Krimimarkt. Man darf sich schon auf den vierten Einsatz des Kunstkenners freuen!


  • Andreas Storm – Die Victoria-Verschwörung
  • ISBN 978-3-462-00668-1 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 368 Seiten. Preis: 17,00 €

Virginia Woolf – Mrs. Dalloway

Bewusstseinsstrom im Takt des Big Ben. In ihrem vor hundert Jahren erschienenen Roman Mrs. Dalloway erprobt Virginia Woolf die Möglichkeiten des modernen Erzählens und erschafft so einen Roman, der dem Fluss der Gedanken, der Zeit und des Lebens Raum gibt. Literatur, deren Ästhetik auch heute noch verblüfft.


Nein, eine inhaltliche Zusammenfassung von Virginia Woolf Mrs. Dalloway muss eigentlich scheitern. Denn obschon der zeitliche Rahmen eines Tages eigentlich ganz klar umrissen ist, herrscht im Inneren dieses Rahmens ein wildes Durcheinander. So beginnt zwar alles mit Clarissa Dalloway, die sich zum Blumenkauf außer Haus begibt und durch die Straßen von London wandert. Damit lösen sich aber auch rasch sämtliche konkreten Bezüge auf. Schon nach wenigen Seiten hat Virginia Woolf die Leserinnen und Leser in einem wilden Literaturdschungel verstrickt, bei dem von den anfänglichen Gewissheiten rasch nicht mehr viel übrigbleibt.

Denn es war Mitte Juni. Der Krieg war vorbei, außer für jemanden wie Mrs. Foxcroft gestern Abend in der Botschaft, die sich zu Tode grämte, weil dieser nette Junge umgekommen war und das alte Herrenhaus jetzt einem Cousin zufallen musste; oder Lady Bexborough, die, wie es hieß, einen Wohltätigkeitsbazar eröffnet hatte mit dem Telegramm in der Hand, John, ihr Liebling, tot; aber es war vorbei; Gott sei Dank – vorbei. Es war Juni. Königin und Königin waren in ihrem Palast.

Virginia Woolf – Mrs. Dalloway, S 2 f.

Die anfänglich genauen Koordinaten leiten schon wenige Seiten später nicht mehr zielführend durch das Buch. Denn Virginia Woolf experimentiert unerschrocken mit Satzperioden, Perspektiven, wörtlicher und indirekter Rede, verschneidet innerer mit äußerer Handlung. So webt sie einen herausfordernden Sprachteppich, den Melanie Walz mindestens ebenso unerschrocken ins Deutsche übertragen hat.

Sie strich die Ecken der Papiere glatt, legte sie zusammen und verschnürte das Päckchen, fast ohne hinzusehen, saß nah bei ihm, neben ihm, als wären all ihre Blütenblätter um sie herum, dachte er. Sie war ein Baum in voller Blüte; und aus ihren Zweigen blickte das Gesicht eines Gesetzgebers, der eine Zuflucht gefunden hatte, wo sie niemanden fürchtete, weder Holmes noch Bradshaw – ein Wunder, ein Triumph, der letzte und größte.

Virginia Woolf – Mrs. Dalloway

Ein Tag im Juni in London

Virginia Woolf - Mrs. Dalloway (Cover)

Das Personal bildet einen Reigen, der von Clarissa Dalloway als Mitglied der gehobenen englischen Mittelschicht angeführt wird. Sie durchmisst Straßen und Plätze von Westminster und plant in Gedanken den abendlichen Empfang, zu dem sich kein geringerer als der Premierminister angesagt hat. Dann wiederum springt Virginia Woolf zu Peter Walsh, der Clarissa einst anbetete und es eigentlich noch immer tut.

Ärzte, Kriegsheimkehrer, Eheleute, alles wechselt sich ab, geht ineinander über und bildet das assoziative Grundrauschen dieses Romans, bei dem schnell nur noch die kontinuierlichen Schläge des Big Ben Indiz für das Verstreichen des Tages sind, den Woolf schildert. Diese Schläge sind einer der wenigen verlässlichen Bezüge auf die Außenwelt, die hier zugunsten der reichen Gedankenwelt von Woolfs Figuren in den Hintergrund tritt (und aufgrund derer der eigentlich geplante Titel The hours der treffendere gewesen wäre, ist doch der Personenreigen im Stundentakt das eigentliche Thema).

Ähnlich wie ihr irischer Schriftstellerkollege James Joyce nutzt auch Virginia Woolf in ihrem Roman ausgiebig die Erzähltechnik des Gedankenstroms, der durch den Roman leitet und in dem immer wieder einzelne Motive wie der Suizid oder die unerfüllte Liebe auftauchen und Figuren miteinander verbinden.

Ein Paradebeispiel der literarischen Moderne

Mrs. Dalloway fügt sich passgenau in die Moderne ein, die auf ganz unterschiedlichen Kunstfeldern vor hundert Jahren Blüten trieb. In Deutschland etwa verfasste Alexander Döblin sein bahnbrechendes Werk Berlin Alexanderplatz, das eine Ahnung vom Durcheinander im modernen Berlin der Zwischenkriegszeit gab. In der Kunst experimentierten Lyonel Feininger, Georges Braque oder Ernst Ludwig Kirchner mit Formen und deren Auflösung, Verfremdung und malerischem Ausdruck. In Wien brachen Arnold Schönberg und seine Schüler wie etwa Alexander von Zemlinsky das herkömmliche Tonsystem auf und entwickelten die Zwölftontechnik, die die bisher eingeübte harmonische Praxis vollends auf den Kopf stellte.

Virginia Woolfs Text ist das literarische Gegenstück zu diesen Entwicklungen in den anderen Kunstsparten. Ihr gelingt es mit Worten, herkömmliche Perspektiven und Lesegewohnheiten aufzubrechen und Leserinnen und Leser vor eine literarische Herausforderung zu stellen. Ihr fiebriges, unermüdlich in den Gedanken ihrer Figuren herumirrendes Werk ist eines, von dem auch heute noch Kreative zehren.

Wie dies aussehen kann, das zeigt auch die vorliegende Ausgabe der Büchergilde Gutenberg, die mit dem diesjährigen Gestalterpreis der Buchgenossenschaft ausgezeichnet wurde. So lieferten 26 Studierende und Alumni der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle Illustrationen zu diesem Werk, die ebenso polyphon und vielgestaltig sind, wie es die Prosa von Virginia Woolf ist.

Leicht unterschiedliche Schrifttypen und eine Uhr anstelle von herkömmlichen Seitenzählungen unterstreichen den Fluss des Textes, der durch die Schläge des Big Ben strukturiert wird. Zahlreiche Fußnoten mit hilfreichen Erläuterungen zu Bezügen und Anspielungen in Woolfs Text runden das Lese- und Kunsterlebnis dieser Ausgabe ab. So zeigt sich wieder einmal, welche Kraft noch immer von dieser Mrs. Dalloway ausgeht und wie sie Kunst und Künstler inspiriert. Ein eindrucksvoller Beweis für die Modernität dieses Werks!


  • Virginia Woolf – Mrs. Dalloway
  • Aus dem Englischen von Melanie Walz
  • Artikelnummer 174707 (Büchergilde Gutenberg)
  • 368 Seiten. Preis: 32,00 €