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Gary Phillips – One-Shot Harry

Vor dem Hintergrund eines Besuchs von Martin Luther King im vom Rassismus geprägten Los Angeles des Jahres 1963 erzählt Gary Phillips von seinem rasenden Reporter Harry Ingram, der nicht nur als Reporter bei geschehenem Unrecht ganz genau hinsieht und der als One-Shot Harry tief in den Kosmos der Stadt eintaucht.


Mit One-Shot Harry hat Gary Phillips einen Kriminalroman der Sorte verfasst, der neben seinen Figuren auch den Handlungsort als ebenbürtigen Spielpartner der Handlung begreift. Im Falle von Phillips heißt dieser Partner Los Angeles im Jahre 1963. Besonders gut gelingt es dem US-amerikanischen Autoren, die Vielgestaltigkeit der Stadt einzufangen, indem er seinem Helden Harry einen Job zuweist, der ihn in fast alle Ecken der Stadt bringt, nämlich einen Job als Reporter.

Als wäre das nicht genug, arbeitet Harry Ingram zusätzlich auch als Zusteller von juristischen Dokumenten und Bescheiden. Eigentlich erreicht er damit qua Job eine optimale Abdeckung der Stadt und ihrer Bewohner*innen. Und doch bleibt sein Zugang zur Stadt ein limitierter – denn Harry ist Schwarz. Damit bleiben viele Türen für den Reporter verschlossen, der sich zudem noch immer dem Rassismus, Racial Profiling und Polizeigewalt ausgesetzt sieht. Da hilft es auch nur wenig, dass Harry für sein Vaterland im Koreakrieg sein Leben riskiert hat – die Gesellschaft lässt ihn immer wieder spüren, dass er nur ein Mensch zweiter Klasse ist.

Los Angeles im Jahr 1963

Von solchen Widrigkeiten lässt sich Harry allerdings nicht aufhalten. So elektrisiert der in drei Wochen bevorstehende Besuch des Bürgerrechtlers Martin Luther King halb Los Angeles, darunter auch Harry, der im Lauf des Romans direkt in ein Komplott um den Aufenthalt Luther Kings gezogen wird.

Gary Phillips - One-Shot Harry (Cover)

Bis es allerdings soweit ist, vergeht einige Zeit. Denn zunächst bekommt es One-Shot Harry mit einem Todesfall zu tun, der ihn persönlich betrifft. So verunglückte sein guter Freund Ben Kinslow mit seinem Auto am Mulholland Drive in den Hollywood Hills. Harry ist als einer der ersten am Tatort und von der Todesnachricht mehr als erschüttert. Denn so kämpften Kinslow und er nicht nur in einem gemeinsamen Bataillon in Korea, auch war Ben ein leidenschaftlicher Trompetenspieler, der sich nicht um die immer noch untergründig herrschende Segregation scherte und auch in Schwarzen Clubs auftrat und dort Jazz spielte.

Der Verdacht, dass es sich bei dem Todesfall nicht um einen Unfall, sondern eine gezielte Sabotage und damit einen Mordanschlag handeln könnte, lässt Harry nicht ruhen. Und so macht er sich auf, die Kontakte von Ben abzuklopfen und herauszufinden, wem der Veteran auf die Füße gestiegen sein könnte.

Ein Schwarzer Reporter als Ermittler

Damit ist One-Shot Harry natürlich ein klassischer Ermittlerkrimi, nur mit dem Unterschied, dass Harry nicht als Teil der rassistischen Polizeibehörde seine Ermittlungen vorantreibt, sondern als Reporte ganz eigene Ermittlungsansätze hat. Dabei stößt er immer wieder auf die Unterdrückung von Schwarzen, die sich diesen Zustand aber nicht mehr länger gefallen lassen wollen. Hierbei findet Gary Phillips viel Raum für Nuancen, indem der das Bild des Schwarzen Widerstands differenziert zeichnet.

So streitet die Schwarze Community über die richtige Strategie gegen den allgegenwärtigen Rassismus und bevorzugt in Teilen Martin Luther King und dessen gewaltlosen Weg. Andere Teile der Community neigen Malcolm X und dessen Nation of Islam zu und sind auch der Anwendung von Gewalt gegenüber nicht abgeneigt. In diesen Richtungsstreit hinein führen Harrys Recherchen, der sich darüber hinaus auch noch im Auftaktband dieser als Reihe konzipierten Romane verliebt und dank seiner neuen Freundin Zugang zu weiteren Kreisen von Los Angeles findet.

Es ist ein schon fast soziologisch geschulter Ansatz, der One-Shot Harry kennzeichnet und mit dem Gary Phillips dem genauen fotografischen Blick seines Helden um nichts nachsteht. Vom japanisch geprägten Vierteln wie den J-Flats am Rande des Echo Park über Schwarze Viertel wie Sugar Hill im Stadtteil West Adams bis hin zu mexikanischen Stadtteilen führen die Schauplätze des Romans, der mit Sinn für Szenen und Timing geschrieben ist. Die verschiedenen Ethnien im Schmelztiegel Los Angeles fängt Phillips ebenso genau ein, wie er Zeitgeschichte und Lokalkolorit in diesen gelungenen Krimi einfließen lässt.

Fazit

So entsteht ein starker historischer Krimi, der besonders durch die Perspektive seines Schwarzen Helden und den genauen Blick auf die Milieus und deren Zusammenwirken in der Stadtgesellschaft von Los Angeles überzeugt. One-Shot Harry lässt auf weitere Bände dieser Reihe hoffen, deren Auftakt von Karen Gerwig ins Deutsche übertragen wurde.


  • Gary Phillips – One-Shot Harry
  • Aus dem Englischen von Karen Gerwig
  • ISBN 978-3-948392-98-7 (Polar)
  • 312 Seiten. Preis: 26,00 €
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Henry Hoke – Ganz wie ein Mensch

Literatur, die die Perspektive eines Affen einnimmt, kennt man seit Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie, der darin das Leben des Affen Rotpeter zwischen Mensch und Tier schildert. T. C. Boyles wendete Jahrzehnte später für seinen Roman Sprich mit mir eine ähnliche Erzählperspektive an, indem er einen Laboraffen zu einem Protagonisten in seinem Buch machte. Ein Roman, der aus der Sicht eines Berglöwen erzählt ist, das ist aber (zumindest für mich) neu. Henry Hoke wagt in seinem Roman Ganz wie ein Mensch das Experiment und erzählt von einem Berglöwen, der in den Hügeln Hollywoods umherstreift und einen ganz eigenen Blick auf die Menschheit dort drunten in „Ellej“ hat.


Einst lebten Berglöwen (beziehungsweise Pumas, so die geläufigere Benennung dieser Spezies hierzulande) in Amerika in einem Verbreitungsgebiet vom südlichen Kanada bis nach Patagonien, so weiß die Online-Enzyklopädie Wikipedia zu berichten. Doch die Bestände der viertgrößten Katzenart der Welt sind nicht nur in Amerika gewaltig geschrumpft. Erst langsam erholen sich die Bestandszahlen wieder und die Anzahl an Berglöwensichtungen nimmt zu.

Ein Berglöwe in den Hügeln Hollywoods

Im Falle von Henry Hokes Roman Ganz wie ein Mensch ist es der Großraum Los Angeles, in der sich eine dieser Großkatzen niedergelassen hat. Es ist ein historischer verbürgter Fall, auf dem sein Roman beruht, denn einen solchen Berglöwen gab es in den Hügeln der Millionenmetropole wirklich. Der Löwe namens P-22 lebte gute zehn Jahre dort, ehe er 2022 eingeschläfert wurde.

Ein Leben wie im Hollywoodfilm war es allerdings nicht, wenn man Henry Hokes und seiner Variante eines Berglöwens Glauben schenken darf. Denn es gibt kaum mehr Rückzugsorte für das Raubtier, Wasser ist Mangelware, ebenso wie „richtiges“ Essen. Hunger und Durst prüfen den Berglöwen und so offenbart er gleich zu Beginn seine Notlage mit folgenden Worte:

„Ich habe noch nie einen Menschen gefressen aber heute könnte es soweit sein“

Henry Hoke – Ganz wie ein Mensch, S. 7

Genügend Menschen zur Speise hätte er dort in den Hügeln der Millionenmetropole auf alle Fälle. Wanderer, Menschen in ihren Villen, Obdachlose. Bei seinen Streifzügen lernt der Berglöwe alle gesellschaftlichen Schichten kennen, die er belauscht und beobachtet. So versorgt ihn ein Zeltlager von Obdachlosen mit Essen, später bricht er in einen womöglichen Privatzoo ein und wird zum Kuscheltier der Tochter eines Villenbesitzers.

Angefetzte Sätze

In kurzen Flashs und Ellipsen blicken wir durch die Augen des Berglöwen auf das absonderliche Treiben dort in Hollywood. Henry Hoke nutzt dafür einen minimalistischen Stil, der auf Punkte und Kommata weitestgehend verzichtet und seine Sätze nur anfetzt, wie es ein Berglöwe mit seiner Beute zu tun pflegt (übersetzt von Stephan Kleiner):

Meine Mutter hat mir einen Namen gegeben den ich nicht verraten kann

Ich bin nicht aus Ellej ich bin bloß hier gelandet

Ich war ein Baby weit weg wo die Sonne untergeht

Einem tiefen Wald am Wasserufer wo wir nachts das Salz schmecken konnten das der Wind rübertrug

Wir

Denn da waren viele von uns auf dem grünen Hügel wo die Farben Farben waren die ich hier nicht sehe und Rehe rumstreunten denen wir bloß geduldig auflauern mussten um sie zu fangen

Henry Hoke – Ganz wie ein Mensch, S. 42 f.

Vieles muss man sich selbst zusammenreimen durch diese Wahrnehmung des Berglöwen abseits unserer erlernten Muster erst zusammenreimen oder bekommt es an späterer Stelle im Buch halbwegs erklärt. Einfach macht es sich Henry Hoke weder seinen Leser*innen, noch sich selbst.

Das Erzählexperiment geht nicht ganz auf

Henry Hoke - Ganz wie ein Mensch (Cover)

Diese Gedanken und Wahrnehmungen des Berglöwen zu lesen, ist wirklich ein spannendes Leseexperiment, das aufgrund seiner Knappheit in Stil und Seitenumfang zu einer geradezu gehetzten Lektüre einlädt. Ganz geht das erzählerische Experiment in meinen Augen allerding nicht auf, etwa wenn der Löwe, der normalerweise von Santa Feh oder Ellej spricht, was er den Menschen abgelauscht hat, plötzlich des Englischen mächtig wird.

So kann er eine Musikaufnahme, die aus einer der Villen in den Hügeln Hollywoods dringt, plötzlich ganz korrekt zuordnen: Sie singt Living alone is all I’ve ever done well (S. 117).

Wie das funktionieren soll und der musikalisch ungebildete Löwe plötzlich polyglott und grammatikalisch einwandfrei Songtitel korrekt wiedergeben kann, das erschließt sich mir auch in der Logik des übrigen Erzählens nicht. Auch wäre vielleicht ein näher am Originaltitel Open Throat liegender deutscher Titel eine bessere Wahl gewesen für diese animalische Prosa denn das etwas im Ungefähren verharrende Ganz wie ein Mensch.

Fazit

Insgesamt aber ist Ganz wie ein Mensch ein schnelles, stilistisch rohes und minimalistisches Erzählexperiment, das zur Abwechslung mal aus den Augen eines Pumas auf Los Angeles blickt. Übersetzt von Stephan Kleiner gibt Henry Hokes Erzählexperiment Einblick in die Seele eines hungrigen Tieres und legt so dort in den Hügeln Hollywoods das Tierische im Menschlichen frei und umgekehrt.


  • Henry Hoke – Ganz wie ein Mensch
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner
  • ISBN 978-3-96161-188-1 (Eisele-Verlag)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
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Jordan Harper – Alles schweigt

Los Angeles Noir: Stau, Schmutz und düstere Geheimnisse hinter der Hochglanzfassade Hollywoods. Showrunner Jordan Harper legt einen großartigen Großstadtthriller vor, der von der Verkommenheit der Stadt und ihrer Elite erzählt. Wie soll man den mächtigen Netzwerken dort das Handwerk legen, wenn Alles schweigt?


Wenn es einen Begriff gibt, der in den letzten Jahren steile Karriere gemacht hat, dann ist es unzweifelhaft der Begriff des Narrativs. Alles und jeder heute setzt auf ein Narrativ, eine Erzählung oder einen Spin, um Dinge zu erklären oder sich seine Thesen zurechtzuzimmern. Auch Mae, eine der beiden Hauptfiguren in Jordan Harpers Alles schweigt arbeitet mit dem Narrativ. Manchmal mit ihm, manchmal auch dagegen. Denn sie ist eine Art Spindoktor der öffentlichen Wahrnehmung in Los Angeles.

Dort, wo Hollywoodproduzenten, Politiker oder Schauspielerinnen in hoher Konzentration auftreten, ist auch das Risiko ein Fehltritts immer in der Nähe. Und Mae ist im Auftrag ihres Chefs Cyrus von der Agentur Mitnick & Associates darauf spezialisiert, solche Fehltritte auszubügeln oder wenigstens dafür zu sorgen, dass an den Skandalverursacher*innen in der Öffentlichkeit möglichst wenig hängen bleibt. Eine echte Narrativ-Arbeiterin also.

Niemand fragt, ob das wahr ist. Niemanden interessiert’s. Die Aufgabe besteht darin, Verantwortung und Macht zu trennen.

Jordan Harper – Alles schweigt, S. 44

Die Öffentlichkeitsarbeiterin und der Ex-Polizist

Wenn die Manipulation von Journalisten und Instagramfeeds nicht ausreicht, dann kommt in Hollywood der Ex-Polizist Chris Tamburro zum Einsatz. Dieser ehemalige Steroid-Junkie bietet auch nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst immer noch eine imposante Erscheinung, sodass er für seine Auftraggeber immer dann tätig wird, wenn Menschen eingeschüchtert oder mit purer Gewalt Ziele durchgesetzt werden sollen. So ergänzt Chris Maes Tun um eine physische Komponente – und auch früher waren die beiden ein Paar, ehe sie sich voneinander trennten.

Nun bekommen sie es in Jordan Harpers Krimi zunächst unabhängig voneinander mit zwei Fällen zu tun, deren Zusammenfinden aber nur eine Frage der Zeit ist. So beschäftigt die Öffentlichkeitsarbeiterin Mae neben Routinejobs wie der Rückführung einer suchtkranken Schauspielerin in die Erfolgsspur das außergewöhnliche Verhalten ihres Vorgesetzten. Dieser möchte sie unter den Augen der Öffentlichkeit zu einer Nachforschung in eigener Sache überreden. Doch ehe sich Mae genauer mit dem Anliegen ihres Chefs beschäftigen kann, wird dieser erschossen – und Mae wittert alles andere als einen Zufall hinter dem Raubmord auf offener Straße.

Auch Ex-Cop Chris ist besorgt. Denn er folgt den Spuren des Gangmitglieds, das Maes Chef erschossen haben soll. Immer stärker verflechten sich die Spuren der beiden Ex-Geliebten, die schnell die dunkle und gefährliche Seite Los Angeles‘ zu spüren bekommen. Denn zunehmend verdichten sich die Zeichen, dass einzelne, für sich wie Zufall scheinende Ereignisse, doch in größerem Zusammenhang zu stehen scheinen. Die beiden bekommen es mit mächtigen Netzwerken hinter den Kulissen der Traumfabrik zu tun. Netzwerken, denen man kaum beikommen kann.

Macht und Machtmissbrauch in allen Facetten

Jordan Harper - Alles schweigt (Cover)

Alles schweigt ist ein aktueller Thriller, der als Großstadtkrimi ebenso gut funktioniert, wie er auch die unterschiedlichen Facetten von Machtmissbrauch offenlegt. Mittlerweile sind durch die Prozesse um Harvey Weinstein, Jimmy Savile und Co. die (macht)missbräuchlichen Taten einflussreicher Männer im Showgeschäft zwar gut dokumentiert und in der Öffentlichkeit bekannt. Was dieses Treiben aber tatsächlich bedeutet, das führt Jordan Harper hier wirklich eindrücklich und nachvollziehbar vor Augen.

Besonders die Schweigenetzwerke und die stillen Bewahrer der Macht, die dafür sorgen, dass Täter immer wieder trotz Tuscheln hinter vorgehaltener Hand und eigentlich vorhandenem Wissen um die schlimmen Zustände davonkommen, nimmt sein Krimi in den Blick (der in der Kombination des englischen Originaltitels Everbody knows und dem Deutschen Alles schweigt eine bezeichnende Verbindung eingeht).

Zudem widmet sich Harpers Roman neben diesem Machtmissbrauch in der Hochglanzindustrie, bei dem die verschiedenen Zahnräder von großen Playern bis zu Vertuschungskünstlerinnen wie Mae ineinander greifen, auch dem Machtmissbrauch durch Polizeibehörden. Jordan Harper zeigt durch die Figur von Chris eine Welt, bei der sich organisiertes Verbrechen und Polizeibehörden eigentlich nur noch durch das Tragen einer Marke unterscheiden. So erzählt er von selbstherrlichen Polizeigangs, die diverse Gegenden terrorisieren und sich durch Korruption und Schweigen in ihrem Tun unantastbar und sakrosankt fühlen.

Ihm gelingt es beeindruckend, von korrupten Gangs mit tätowierten Erkennungszeichen, abgezweigten Drogen und illegalen Waffen zu erzählen, die eben nicht zum organisierten Verbrechen, sondern dessen eigentlichen Bekämpfern zählen. Ein Zustand, vor dem die Verantwortlichen schon längst kapituliert haben, wenn sie ihn nicht selbst weiter befeuern.

Einmal quer durch Los Angeles

Houchtourig ist dieser Roman, der Mae und Chris an verschiedenste Schauplätze Los Angeles bringt, von Obdachlosenlagern mit ergreifenden Schicksalen bis zu den Hügeln Hollywoods und den Luxusvillen am Mulholland Drive. Immer tiefer verstrickt er seine beiden Helden in die unsichtbaren Netzwerke von Mächtigen und deren Schutztruppen, gegen die ein Kampf aussichtslos erscheint.

Hier zeigt sich die Erfahrung Jordan Harpers als Autor, die er durch seine Tätigkeit als Showrunner für Serien wie Gotham oder The Mentalist zweifelsohne hat. Alles ist sauber gearbeitet, die verschiedenen Schauplätze werden gut beschrieben und der Plot nachvollziehbar und mit stetig anziehender Spannungsschraube entwickelt (der zudem von Conny Lösch wieder einmal sehr souverän ins Deutsche übertragen wurde, Wortneuschöpfungen wie den „Penner-Sprenger“ inklusive).

Mag das Cover mit seiner hellen Anmutung und den pittoresken Hügeln Hollywoods auch schöne Assoziationen an die Stadt der Engel wecken – im Kern ist Alles schweigt ein sozialkritischer Thriller über Machtmissbrauch, den aussichtlosen Kampf dagegen und das vielgestaltige vielgestaltige Stadtporträt Los Angeles‘ in düsteren Farben. In meinen Augen reiht sich das Buch hervorragend neben Ivy Pochodas grandiosem Diese Frauen, Steph Chas Brandsätze und A. G. Lombardos Stadtvermessung Graffiti Palast ein.


  • Jordan Harper – Alles schweigt
  • Aus dem Englischen von Conny Lösch
  • ISBN 978-3-550-08151-4 (Ullstein)
  • 384 Seiten. Preis: 22,99 €
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Don Winslow – City of Dreams

Don Winslow setzt seine Neuinterpretation der großen griechischen Dramenstoffe im Gewand eines Mafiathrillers fort. Erlebte Danny Ryan in City on Fire eine Wiederauflage des Trojanischen Kriegs mit, so sieht er sich nun gestrandet in fernen Gestaden und darf der Verwandlung seines Lebens in einen Kinofilm in der City of Dreams beiwohnen. Hochtourige Mafiaaction, souverän ausgeführt und packend erzählt.


Schon im ersten Teil der geplanten Trilogie um den Mobster Danny Ryan zitierte Don Winslow neben Homers Ilias auch die Aeneis von Virgil. Im zweiten Teil der Reihe wird dieses Epos nun zur Vorlage für die Abenteuer und Irrfahrten, die Danny Ryan erleben muss.

Im 2. Buch [der Aeneis] flieht er [Aeneas] auf Geheiß Jupiters aus der brennenden Stadt, um ein neues Troja zu gründen. Er kann seinen Sohn Ascanius (Iulus), seinen Vater Anchises und die Penaten retten, nicht aber seine Frau Krëusa.

Wikipediaeintrag zur „Aeneis“

So fasst Wikipedia die Handlung des insgesamt aus 12 Bücher bestehenden Epos von Virgil zusammen. Auch Don Winslow kennt das Epos sehr gut, orientiert sich City of Dreams stark an diesem antiken Handlungsbogen. Bei Winslow setzt die Erzählung unmittelbar nach den brutalen Geschehnissen in Rhode Island Ende der 80er Jahre ein. Dort hat der Zwist um eine schöne Frau den bisherigen Frieden zwischen irischer und italienischer Mafia abrupt beendet – und für viele Tote und großes Leid gesorgt.

Von Rhode Island nach Hollywood

Danny Ryan und seine Crew unterlagen im Kampf um Rhode Island und so befindet sich Ryan nun zusammen mit seinem Vater und seinem Sohn auf der Flucht. Ryans Frau Terri hat die Geschehnisse in City on Fire nicht überlebt und so ist es nun an Ryan, für das Überleben seiner Familie und seinen Penaten, seiner Mafiacrew zu sorgen.

Don Winslow - City of Dreams (Cover)

Immer weiter nach Westen führt der Weg der Crew, wobei die Geschehnisse rund um den Konflikt, korrupte Polizisten und die Falle, in die Ryan getappt ist, immer noch in dessen Hinterkopf herumspuken. Auch die DEA macht noch Jagd auf Danny, sodass an ein normales Leben in der Öffentlichkeit nicht zu denken ist.

Doch nach einigen blutigen Volten und einem Königsmord im Kreis der italienischen Mafia könnte nun alles in ruhigere Bahnen kommen. Ryans einflussreiche Mutter kümmert sich in Las Vegas hingebungsvoll um ihren Enkel, Danny gewöhnt sich langsam an sein neues Leben – doch dann steht neuer Ärger in Form der „Messdiener“ Kevin und Sean ins Haus. Die beiden so geheißenen Mitglieder seiner Crew sind nämlich Gerüchte zu Ohren gekommen, dass in Hollywood ein Film über die brutalen Ereignisse in Rhode Island gedreht werden soll – Ereignisse, die sie ja aus erster Hand kennen. Und so heuern sie als „Berater“ am Filmset an und sorgen für viel Aufmerksamkeit, die Danny eigentlich überhaupt nicht gebrauchen kann.

Doch auch er macht es nicht besser – denn als er in Hollywood aufschlägt, um die Probleme zu bereinigen, verliebt er sich in die Hauptdarstellerin seines eigenen Films und schlägt dafür alle bisher geltenden Sicherheitsmaßnahmen in den Wind und wählt nun statt eines Lebens im Schatten nun das Leben im Licht der hellsten Studioscheinwerfer der Traumfabrik. Damit macht er aber auch alte Feinde auf sich aufmerksam und bringt all das, was er sich erabeitet hat, in Gefahr.

Ein moderner Aeneas

Es sind zahlreiche Motive aus der Aeneis-Dichtung, die Winslow ganz organisch in seinen Thriller einwebt. Die Rückblicke auf den Untergang Trojas alias Dogtown, Dannys mächtige Mutter, die ebenso wie Venus im Originalepos die Irrfahrten ihres Sohns durch die Liebe zu einer Frau beenden möchte, der Königsmord in Form der Hinrichtung des italienischen Paten, all das kann man im Abgleich des historischen Stoffs und Winslows Bearbeitung leicht herauslesen.

Man kann sich aber auch einfach nur von der geschmeidig erzählten Prosa mitnehmen lassen. Sein Talent zur Rhythmisierung und filmischen Gestaltung zeigt Winslow hier in City of Dreams einmal mehr. Brutale Morde, Momente aufkeimender Liebe, Ryans Sorge um seinen Sohne und die gleichzeitig Gewalt, derer er sich bedient. Hier vereint Winslow unterschiedliche Tempi und Register zu einem überzeugenden Thriller, der trotz der Vielzahl an Schauplätzen und Beteiligten nie unübersichtlich zu werden droht.

Winslow hält die erzählerischen Zügel souverän in der Hand und leitet durch Ryans Versteckspiel, Machtkämpfe und große Gefühle, was sich in City of Dreams hervorragend miteinander verbindet. Schade einzig und allein, dass nach diesem Thriller nur noch einmal die Irrfahrten und Kämpfe des modernen Aeneas alias Danny Ryan zu erleben sein werden. Denn mit der vorliegenden Trilogie wollte Don Winslow dann seine schriftstellerische Karriere letzten Meldungen zufolge beenden. Man kann nur hoffen, dass er es sich noch einmal überlegt, denn Thrillerautoren dieses Kalibers haben wir zu wenige, als dass man auf Don Winslow einfach so verzichten könnte, besonders hierzulande!


  • Don Winslow – City of Dreams
  • Aus dem Englischen von Conny Lösch
  • ISBN 978-3-365-00169-1 (Harper Collins)
  • 368 Seiten. Preis: 24,00 €
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Gabrielle Zevin – Morgen, morgen und wieder morgen

Vor vier Jahren sorgte die Nachricht der damals frischberufenen Leiterin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar für Aufsehen, als diese verkündete, man wolle künftig auch Computerspiele sammeln und bewahren. Eine überfällige Entscheidung, wie es die SZ nannte, sind Computerspiele doch längst Kulturgut, die in unserer Gegenwart eine größere Breitenwirkung entfalten als so manches Buch. Dass nicht nur die Computerspiele selbst Geschichten zu erzählen haben, sondern auch die dahinterstehenden Entwickler*innen, das zeigt Gabrielle Zevin in ihrem neuen Roman Morgen, morgen und wieder morgen. Dieser erzählt von der Entstehung eines Spieleentwicklerstudios und den kreativen Köpfen dahinter, deren Verhältnis sich sehr komplex gestaltet.


Alles beginnt mit einem ikonischen Videospiel, nämlich Super Mario Brothers. Dieses Spiel zockt der junge Sam Masur in einem Krankenhaus in Los Angeles, als er dort auf Sadie Green trifft, deren Schwester dort ebenfalls im Krankenhaus zur Behandlung ist. Beide Kinder freunden sich über das Videospiel an, da sich Sam als Virtuose an den Controllern erweist. Ihm gelingt es, seine Super Mario-Figur auf der Spitze der Fahnenstange landen zu lassen. Ein Trick, den Sadie bislang noch nirgends beobachtet hat – und der zum Ausgangspunkt der Beziehung der beiden wird.

Sam befindet sich aufgrund eines schweren Autounfalls im Krankenhaus. In den Hügeln Hollywoods kam es zu diesem Unglück, bei dem seine Mutter starb und Sam eine schwere Verletzung am Fuß davontrug. Verletzungen, die ihn zeit seines Lebens zeichnen und belasten werden.

Pflegerinnen und Ärzte fanden bislang kaum Zugang zu ihm – doch im gemeinsamen Spiel mit Sadie kann sich Sam öffnen. Und auch Sadie profitiert, bekommt sie doch für die gemeinsame Zeit mit Sam für ihr soziales Engagement im Rahmen ihrer Bat Mizwat Punkte gutgeschrieben.

Komplexe Dynamiken

Gabrielle Zevin - Morgen, morgen und wieder morgen (Cover)

Doch schon in dieser Frühphase der beiden Kinder an der Schwelle zum Erwachsenenwerden zeigen sich komplexe Dynamiken. Denn nachdem Sam herausfindet, dass das gemeinsame Videospielen Sadie auch zur Auffüllung ihres Punktekontos für die Bat Mizwat diente, erleidet das Verhältnis der beiden einen Riss und wird erst später wieder vom anfänglichen Vertrauen geprägt sein.

Auch das Verhältnis Sadies mit einem verheirateten Dozenten im Rahmen ihres Studiums der Spieleentwicklung in Harvard ist nicht dazu angetan, das Zusammenwirken der beiden jungen Menschen zu vereinfachen, im Gegenteil. Von ihrem Geliebten kommt die junge Studentin auch im Folgenden nicht wirklich los. Spätestens, als die beiden im Rahmen der Entwicklung ihres ersten gemeinsamen Computerspiels Ichigo diesen als Entwickler und Zulieferer für ihre Grafikengine einbinden, entsteht hier eine komplexe Gemengelage, in der im Folgenden auch noch Marx mitmischen wird, der vom verständnisvollen Mitbewohner Sams zum Unterstützer und Manager des Entwicklerduos werden wird.

Während Sam und Sadie Spiele entwickeln, sich stets um die künstlerische Ausrichtung streiten ist es im Folgenden Marx, der die beiden zusammenhält und als Produzent Unfair Games, so der Name der Spieleschmiede, für das Funktionieren des komplexen Trios sorgt, bis ein Zwischenfall das bisher gekannte Miteinander völlig auf den Kopf stellt.

Ein Roman aus der Welt der Entwicklerstudios

Gabrielle Zevin, die bislang in Deutschland eher mit Jugendbüchern und (zumindest in der deutschen Aufmachung) recht kitschig aufgemachten Romanen in Erscheinung trat, gelingt hier ein spannendes Buch, das sowohl in der beschriebenen Thematik als auch in seinem Personal durchaus überzeugen kann.

So gibt es Romane über Videospiele inzwischen häufig – aber ein Roman, der die Welt der Entwicklerstudios spielt und die Arbeit des Spieleerfindens und die Realisation der digitalen Welten beschreibt, das ist doch (zumindest für mich) neu.

Zevin zeigt, wie sich seit den Anfangstagen die Spiele fortentwickeln, die Grafiken, Spielmechaniken und Ansprüche der Spiele ausgefeilter werden, Gewissensentscheidungen und komplexe Abwägungen in die Titel hineinfinden – was sich auch im Verhältnis von Sadie, Sam und Marx spiegelt, das im Lauf des Buchs in dem Maße an Wucht und Dramatik gewinnt, wie auch ihre entwickelten Spiele ambitionierter und populärer werden.

Dabei gelingt es der Autorin auch, mit Erzähleinfällen zu überraschen und neue Blickwinkel zu eröffnen.

Ist es zu Beginn der Dozent und Liebhaber von Sadie, der erbarmungslos alle von den Student*innen vorgestellten Titel verreißt und aburteilt, wenn sie ihn nicht überraschen und Neues bieten, so sieht sich das Buch selbst zunächst diesem Vorwurf der linearen Vorhersehbarkeit ausgesetzt.

Aber spätestens ab der Hälfte des Buch gelingt es Gabrielle Zevin dieses Forderungen auch für ihr Buch selbst umzusetzten und die Leser*innen emotional einzubinden (obgleich so manche der vielfach geschilderten Anziehung und Abstoßung, Depressionen und körperliche Pein des Schmerzenmanns Sam und der Schmerzenfrau Sadie dann doch auch etwas an exzessive Prosa Hanya Yanagiharas erinnern).

Bis zur Mitte schnurrt dieser geschmeidig erzählte Roman durchaus vor sich hin, bietet aber wenig Überraschendes oder Neues – was sich dann spätestens ab dem oben erwähnten Zwischenfall ändert. Ab hier kann Gabrielle Zevin mit eigenen Erzähleinfällen überzeugen, wagt ungeahnte Perspektivwechseln und probiert sich am Ende sogar an der Erzählform eines Computerspiels aus, das sie organisch in die Rahmenhandlung einbettet.

Ein bisschen von diesem inszenatorischen Mut der zweiten Hälfte hätte man auch dem ersten Teil von Morgen, morgen und wieder morgen gewünscht.

Aber auch so ist dieser Roman über die erzählten Inhalte hinaus eine gelungene Reflektion über die eigene Vergänglichkeit und die Möglichkeiten, die ein Computerspiel bieten kann und das, was Spiele mit uns machen.

„Was ist ein Spiel“ fragte Marx. „Es ist morgen, morgen, und wieder morgen. Die Möglichkeit einer unendlichen Wiedergeburt und unendlichen Erlösung. Die Vorstellung, dass du, solange du weiterspielst, gewinnen kannst. Kein Verlust ist von Dauer, denn nichts ist von Dauer, niemals.“

Gabrielle Zevin – Morgen, morgen und wieder morgen, S. 471

Denn dass die Endlichkeit schneller auf uns wartet, als es ein Computerspiel mit seiner Illusion der Unsterblichkeit vorgaukelt, dass weiß nicht nur Banquos Geist in Shakespeares Hamlet (dem auch der Buchtitel entlehnt ist). Das weiß auch die Dichterin Emily Dickinson, die zur Inspirationsquelle für Sadie wird und das weiß und zeigt auch Gabrielle Zevin in ihrem Roman mit der Wucht jener großen Welle des japanischen Künstlers Katsushika Hokusai, die nicht nur das Cover des Buchs ziert, sondern auch Sadie und Sam Anregungen für die Entwicklung ihrer ersten Spiele gibt.

Fazit

Mit Morgen, morgen und wieder morgen gelingt Gabrielle Zevin ein souverän erzählter Roman, der von den Illusionen der Unsterblichkeit, von komplexen Beziehungen und von den Mühen der Spieleentwicklung erzählt. Sie stellt ein komplexes Figurendreieck in den Mittelpunkt ihres Romans und weiß vor allem in der zweiten Hälfte des Romans mit originellen und überraschenden Erzähleinfällen zu punkten, was aus Morgen, morgen und wieder morgen somit eine empfehlenswerte Lektüre macht!


  • Gabrielle Zevin – Morgen, morgen und wieder morgen
  • Aus dem Englischen von Sonia Bonné
  • ISBN 978-3-8479-0129-7 (Eichborn)
  • 560 Seiten. Preis: 25,00 €
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