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Robin Robertson – Wie man langsamer verliert

Eine schier endlos wirkende Autoschlange. Nichts geht, Stau. Doch anstelle sich in Langeweile oder Verdruss zu ergehen, hüpfen plötzlich zahlreiche bunt gekleidete und quietschvernügte Menschen aus den Autos. Die Musik setzt ein, der Bass treibt, das Schlagzeug tickert und eine typische Musicalnummer beginnt. Man schlägt Salti, rutscht über Motorhauben und tanzt eine Choregraphie. Und die ganzen jungen Menschen singen im Chor:

Climb these hills
I’m reaching for the heights
And chasing all the lights that shine (lights that shine)
And when they let you down (it’s another day of)
You’ll get up off the ground (it’s another day of)
‚Cause morning rolls around
And it’s another day of sun

Überzuckerter und besser gelaunt als in der Auftaktszene zu Damien Chazelles Musicalfilm „La La Land“ wurde der Mythos Los Angeles in letzter Zeit nicht inszeniert. Auch wenn man am Boden liegt, erwartet einen immer wieder ein neuer Tag voller Sonne und Sonnenschein. Die Lichter glänzen, jeder kann es an die Spitze schaffen, der Mythos Hollywood ist ungebrochen, so die Auftaktbotschaft zu Chazelles Film. Und selbst wenn der Film sich in der Folge Mühe gibt, ein paar der Klischees über Los Angeles und die Traumfabrik Hollywood zu brechen, so bleibt doch das Bild einer Stadt (und eines Landes) in der es jeder schaffen kann, wenn man nur fest an sich glaubt. Ein Koffer in der Hand und ein paar Träume im Kopf genügen, um durchzustarten. Von ganz unten nach ganz oben, nur eine Frage des Willens und der eigenen Arbeitsleistung.

Ein Antidot zum amerikanischen Traum

Diesen amerikanischen Traum zertrümmert Robin Robertson in seinem Buch Wie man langsamer verliert mit Verve. Er zeigt ein Amerika, das wenig mit dem ewig postulierten Karrierturbo Selbstvertrauen und Chancengleichheit gemein hat. Er hat ein Buch geschrieben, das einen genauen Blick auf die Zeit der 40er und 50er Jahre in Amerika erlaubt. Eines, das auch das Unglamouröse und das Abründige ins Auge fasst und das das auf großartige Art und Weise tut.

Wir haben den Krieg gewonnen, doch leben so, als hätten wir ihn verloren.

Robin Robertson – Wie man langsamer verliert, S. 116

Es ist diese bittere Erkenntnis, die der Redaktionsleiter der Zeitung Press im Gespräch mit seinem Angestellten Walker teilt. Jeder sechste Angelino habe im Krieg gedient und doch mangele es nun an Arbeit und Wohnungen. Vielen wohnten auf der Straße im Viertel Skid Row (ein Zustand, der sich bis heute nicht grundlegend geändert hat), so das Fazit des Redakteurs. Walkers Auftrag besteht im Porträtieren dieser Wohnungslosen und Ausgestoßenen für die Press. Dabei ist es nur der Job bei der Zeitung, der ihn selbst von den obdachlosen Veteranen trennt.

Auch er hat im Zweiten Weltkrieg gedient. Walker war an der Landung in der Normandie beteiligt. Er hat in die Abgründe der Menschheit geblickt, hat sinnloses Morden, Grausamkeit und Gewalt am eigenen Leib erfahren. Doch nach seiner Rückkehr aus den den tiefsten Abgründen der Geschichte in Europa fühlt er sich in Amerika nun fehl am Platz. Die Gesellschaft kennt für Menschen wie ihn keine große Dankbarkeit oder so etwas wie einen Platz in ihrer Mitte. Walker fehlt die Gemeinschaft der Soldaten, der Gesellschaft das Verständnis für seine Erlebnisse.

Von New York nach Los Angeles

Mit ein paar Groschen in der Tasche wird er abgespeist. Nachdem er sich zunächst in New York nach Arbeit umgetan hat, beschließt er mit seinem letzten Geld aufzubrechen. Von der Ostküste geht es für ihn per Bahn gen Westen. Er strandet in Los Angeles. Doch mit dem Mythos der Stadt der Engel ist es nicht weit her. Walker lernt eine Gemeinschaft von Veteranen kennen. Über Umwege gelangt er zu seinem Job der Press, der zum Rettungsanker für ihn wird. Er gibt ihm die Möglichkeit eines Einkommes und damit auch die Rettung vor der Obdachlosigkeit.

Robin Robertson - Wie man langsamer verliert (Cover)

In der Folge ist er bei der Press für das Lokale zuständig. Seine Reportagen über die Randständigen und die immer größer werdende Not und Obdachlosigkeit bringen ihm Renomee ein. Er darf sogar nach San Francisco reisen, um dort über die gravierenden Probleme der Gesellschaft zu berichten. Während er in der Redaktion seine eigene Sicherheit durch junge und aufstrebende Karrieristen in Gefahr sieht, kann er sich in verschiedenen Metiers ausprobieren. So versucht er sich als Filmkritiker, berichtet über Verbrechen und ist Zeuge von omnipräsentem Rassismus und Gewalt. Doch auch wenn man fleißig um den Mythos Hollywood bemüht ist – die Wahrheit, die Walker schaut, ist eine andere.

Dieses Amerika ist kaputt. Es herrscht Segregation, die Zeitung ist voll von Fällen von wie dem des jungen Emmett Till, der aus rassistischen Motiven ermordet wurde. Die Leistung der Soldaten im Zweiten Weltkrieg wird nicht anerkannt, der Gesellschaft fehlt ein grundlegendes Verständnis für die Erlebnisse, die die Männer machen mussten. Verarbeitet ist hier nichts, immer wieder suchen Walker Flashbacks und Erinnerungsfetzen von Kriegsgräuel heim. Darüber können auch die interessantesten Hollywoodfilme nicht hinwegtäuschen.

Eher Langgedicht denn Prosa

Robin Robertson verschränkt diese ebenso eindrücklichen wie brutalen Erlebnisse mit seinen Schilderungen der Gegenwart. Eingeteilt in vier Kapitel (1946, 1948, 1951 und 1953) sowie einen Abspann (man ist schließlich in Los Angeles) schreibt Robertson ein Buch, das eher Langgedicht denn Prosa ist.

Und da war City Hall,

genau wie in den Filmen, nur größer, weißer,

beleuchtet wie ein Gott, und hier Main Street,

die sich Block um Block darunter hinzog: ein Neongeschlier.

Das war sie. Das war die Stadt.

Ein Magnesiumstreifen, ein Jahrmarkt

um eine lange Hauptmeile, ein Lodern

von etwas, das leer war und wild, soeben losgelassen

-auf dem Gewehweg hechelnd-, bereit zu fressen

von diesen heißen, stinkenden Körper, Licht trinkend.

Robin Robertson – Wie man langsamer verliert, S. 54

Wie impressionistisch hingetupft wirken diese Eindrücke, die auf Walker eindringen. In verknappter Form, in Dialogen, in Skizzen beschreibt Robertson das Treiben in den Straßen der Städte. Muss man sich erst etwas auf diese Erzählweise einlassen, wird sie im Lauf des Buchs doch immer stärker und zwingender. Irgendwo zwischen Döblins Berlin Alexanderplatz, John Dos Passos und Langston Hughes verortet sich dieses Buch, das sich in meinen Augen unbedingt mit Büchern dieses Klassikerstatus messen kann. Das Werk ist ungemein vielschichtig, in seiner literarischen Klasse zeitlos, setzt der Oberflächlichkeit des amerikanischen Traums eine mächtige Gegenerzählung entgegen und zeigt eine zerrissene Gesellschaft, die für Außenseiter keinen Platz hat, egal wie sehr sich diese anstrengen. Wenn man in Los Angeles oder anderswo in Amerika ein Verlierer ist, dann geht es eben doch wirklich manchmal nur darum: Wie man langsamer verliert.

Fazit

Sozialrealistisch, lyrisch, ja: brillant: ein unglaubliches Buch, dem Leser und Aufmerksamkeit gewiss sein sollten. Besonderes Lob auch für die Übersetzungsleistung von Anne Kristin Mittag, die für den Hanser-Verlag schon Ocean Vuong ins Deutsche übertrug. Das ist Lyrik auf Höhe der Zeit, die kritisch ist und den eigenen Blick schärft. Lyrik, die vom Wandel, von Traumata und den sozialen Abgründen erzählt. Meisterhaft und schon jetzt Teil meiner persönlichen Jahres Top10!


  • Robin Robertson – Wie man langsamer verliert
  • Aus dem Englischen von Anne Kristin Mittag
  • ISBN 978-3-446-26571-4 (Hanser)
  • 256 Seiten. Preis: 25,00 €
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Ryan Gattis – Das System

Es ist wirklich zum Haareraufen. Der größte kriminalliterarische Schund verkauft sich wie geschnitten Brot, literarische Stümpereien wie die sadistischen bis gewaltpornographischen Werke Sebastian Fitzeks erklimmen Jahr um Jahr Spitzenpositionen auf dem Buchmarkt. Und die wirklichen Könner*innen dümpeln unter ferner liefen auf dem Buchmarkt dahin. So ergeht es beispielsweise Dennis Lehane (mehr zu ihm hier in einigen Tagen) oder Simone Buchholz, die auf derartigen Listen sträflich unterrepräsentiert sind. Dagegen feiert als das Abgenutzte, dutzendfach Erzählte Erfolge um Erfolge und klettert in den Bestsellerlisten weit nach oben.

Ryan Gattis - Das System (Cover)

Zwar mache ich mir über den Einfluss meines kleinen Blogs hier keine Illusionen, dennoch möchte ich einmal mehr die Chance nutzen. Die Chance, auf einen außergewöhnlichen Thriller hinzuweisen, einen, der verschiedene Themen, literarische Spielarten und gesellschaftliche Analysen in sich vereint. Ein Buch, das die Zustände des amerikanischen Justizwesens und Gefängnissystem beleuchtet, eine Inneneinsicht in Rechtssprechung und Bandenwesen liefert, eines, das keine einfachen Antworten gibt. Geschrieben hat jenes Buch der Amerikaner Ryan Gattis und es trägt den Titel Das System. Die Übersetzung ins Deutsche besorgten Ingo Herzke und Michael Kellner.

Ein außergewöhnlicher Erzähler

Mit Das System liegt das dritte auf Deutsch übersetzte Buch von Ryan Gattis vor. 2016 erschien zunächst das Aufstandspanorama In den Straßen die Wut. Darin erzählte Gattis von sechs Tagen Ausnahmezustand, die in Los Angeles 1992 in Folge der Rodney King-Aufstände herrschten. Er entwarf darin das Panorama ein Gesellschaft, deren Widersprüche, Falschheit und Ungerechtigkeit zu einer Eruption führten, die der der Black Lives Matter-Proteste dieser Tage glich.

In seinem zweiten Buch Safe erzählte er die Geschichte eines Safeknackers, der nichts mehr zu verlieren hat und so gegen das organisierte Verbrechen für eine letzte Mission antritt. Sprach Die Presse vom „wohl herzzerreißendste Krimi des Jahres“, so unterschrieb ich dieses Urteil nac der Lektüre sofort. Ein außergewöhnliches Buch, das leider in der öffentlichen Wahrnehmung etwas unterging.

Bereits mit diesen beiden Werken ist es Gattis gelungen, einen eigenen, unverkennbaren Stil zu kreieren. Einen Stil, der nun auch in Das System Anwendung findet und der entscheidend ist für die Qualität dieses Buchs. Denn statt das Geschehen aus nur einer oder zwei Perspektiven zu beleuchten, wählt Gattis auch hier wieder ein ganzes Dutzend an Personen, die mit eigener Perspektive das Geschehen in der Ich-Perspektive schildern.

So erzählt Gattis von einem Strafverteidigerin, einer Staatsanwältin, Gangmitgliedern, Ermittlern und Bewohnern der Stadt Lynwood im County Los Angeles. Den Mittelpunkt des Geschehens aber bilden der Gangster Omar Tavira alias „Wizard“ und der Samoaner Jacob Safulu alias „Dreamer“. Letzterer bekommt von einem rassistischen Bewährungshelfer die Waffe eines Mordanschlags untergeschoben. In der Folge kommt es zur Verhaftung der beiden Männer, die in einem Prozess mündet.

Der Prozess – und seine Folgen

Diesen exerziert Ryan Gattis durch alle Stufen der Entwicklung. Als Leser*innen sind wir Zeuge, wie das Komplott seinen Anfang nimmt und wie sich die Dynamiken entwickeln. Die Verhaftung und die Untersuchungshaft, die Suche nach der Wahrheit über das Geschehen in der Nacht des Mordanschlags, es dominiert die Handlung des Buchs. Gattis liefert dabei Inneneinsichten in die Welt der Clans und der Strafjustiz. Auch wenn das Geschehen in Das System im Jahr 1993 kurz nach den Rodney King-Unruhen angesiedelt ist – Berichte aus den USA zeigen, dass sich das Strafsystem seither nicht merklich gebessert hat – im Gegenteil.

Das System ist formal konsequent gestaltet, in seiner Vielstimmigkeit überzeugend und gerade in seinem Verzicht auf einfache Antworten wirklich stark. Auch gelingt es Gattis eindrucksvoll zu zeigen, dass das System nur Verlierer kennt. Wer einmal in die Räder des Systems geraten ist, der findet kaum mehr heraus. Man mag so viel ungeschönten Realismus schwierig zu ertragen finden – das Buch überzeugt aber gerade durch diesen realistischen Blick und seine Schonungslosigkeit. In Form eines Justiz- und Gefängnisdramas gelingt hier Ryan Gattis ein Buch, das zeigt, was gute Kriminalliteratur kann. Und das dadurch dem üblichen Bestseller-Krimischund um Welten voraus ist.


  • Ryan Gattis – Das System
  • Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Michael Kellner
  • ISBN 978-3-498-02538-0 (Rowohlt)
  • 544 Seiten. Preis: 22,00 €
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Candice Fox – Dark

Candice Fox hat es schon wieder getan. Mit einer beachtenswerten Konstanz erscheint jedes Jahr ein neuer Krimi der australischen Autorin. Mit Dark liegt ein Band vor, der erneut eine Reihe begründen könnte. Und obschon ich bei einer derartigen Publikationsfrequenz stets skeptisch bin: auch hier enttäuscht Fox nicht und liefert gelungene Kriminalliteratur.


Auch nach einer Trilogie rund um den „Herren der Unterwelt“ Hades Archer und die Crimson Lake-Reihe (hier zuletzt Missing Boy) gehen Candice Fox die Ideen nicht aus. Mit Dark beginnt sie eine neue Reihe, die nun nicht mehr auf Fox‘ Heimatinsel Australien, sondern in Los Angeles angesiedelt ist.

Hier versieht die Hispanic Jessica Sanchez ihren Dienst auf dem lokalen Polizeirevier. Bei den Kolleg*innen ist sie nicht wohlgelitten. Der Grund: sie hat einen Cold Case durch Beharrlichkeit nach vielen Jahren zu einem erfolgreichen Ende geführt. Der Vater des Mordopfers hat ihr aus Dankbarkeit für ihre Aufopferung ein millionenschweres Haus vermacht. Das alarmiert nicht nur die internen Kontrollorgane der Polizeibehörde. Auch die Kolleg*innen neiden Jessica die Immobilie und schneiden sie, wo sie können.

Die zweite Hauptfigur in Candice Fox‘ neuester Kreation ist Blair. Die Ich-Erzählerin war früher eine erfolgreiche Chirurgin. Doch nach einer Anklage wegen Totschlags und dem anschließenden Gefängnisaufenthalt, hat sie ihren sozialen Status verloren. Auch ihr Kind musste sie gleich nach der Geburt im Gefängnis in die Obhut einer Pflegefamilie geben.

Eingedenk dieses Hintergrundes ist Blair höchst alert, als ihre ehemalige Mitinsassin Sneak sie um ihre Hilfe bittet. Sneaks Tochter Dayly ist verschwunden. Kurz zuvor hat diese die Tankstelle überfallen, an der Blair nach ihrer Haftenlassung jobbt, um sich durchzuschlagen. Die beiden Frauen beschließen, sich zusammenzutun, um die spärlichen Spuren von Sneaks Tochter zu verfolgen.

Vier Frauen auf der Suche nach Dayly

Hilfe bekommen sie dabei von zwei gegensätzlichen Seiten. In ihrer Not wenden sich die beiden Frauen an Ada, die sie als gefürchtete Bandenchefin noch aus dem Gefängnis kennen. Die vierte im Bunde ist keine Kriminelle, sondern Kriminalerin. Jessica Sanchez unterstützt die Suche ebenfalls. Sie treibt primär nicht die Suche nach Sneaks Tochter sondern das Gefühl einer Verpflichtung Blairs gegenüber. Die Ahnung aus , im Falle der Verurteilung Blairs einige entscheidende Details übersehen zu haben, sie lässt Jessica nicht los. Und so beteiligt sich an der Suche nach Dayly.

Candice Fox - Dark

So suchen die vier Frauen aus ganz unterschiedlichen Motiven nach Dayly, deren Spuren ins Hinterland von Los Angeles führen. Dort im Niemandsland verlieren sich die Spuren.

Konkreter allerdings werden die Spuren im Falle von Blair. Jessica vertraut, unbeirrt vom Mobbing ihrer Kolleg*innen, ihren Instinkten, und geht den alten Spuren nach. Immer stärker wird ihre Ahnung, damals im Fall der Verurteilung etwas Entscheidendes übersehen zu haben. Und so entwickeln sich in Dark zwei Spurensuchen. Die nach dem Verbleib Daylys und die nach den Hintergründen von Blairs Tat.

Dabei kommen dem regelmäßigen Leser der Werke Candice Fox‘ einige Motive sehr bekannt vor. Dass jemand für eine Tat verurteilt wurde, dessen Unschuld beziehungsweise der korrekte Tathergang im Laufe des Buchs offenbar wird, das war schon in ihrer Crimson Lake-Reihe ein zentrales Motiv. Auch andere Elemente kennt man, wenn man schon Bücher der Australierin gelesen hat. Das Mobbing durch Polizeiangehörige oder ungewöhnliche Haustiere, zu denen die Protagonist*innen eine Bindung entwickeln, all das sind Fox’sche Versatzstücke, die auch schon in anderen Büchern Verwendung fanden.

So fällt das Buch, im Gesamtkontext von Candice Fox‘ Schaffen betrachtet, nicht unbedingt durch Innovation auf. Vielmehr wirkt Dark stellenweise wie ein Remix aus früheren Erfolgstiteln der Australierin.

Candice Fox‘ knappe Figuren und Dialoge

Auch lässt die Figurenzeichnung und die manchmal fast comicartige Dialogregie zu wünschen übrig.

Dann: „Willst du mich verarschen?“

„Was? Liege ich etwa falsch?“

„Aber so was von, Bitch! Ich bin doch keine ersiffte Taube, die man vom Highway retten muss! Ich bin ein Raubvogel. Solche Opfer kill ich. Eiskalt!“

Mir erstarrt das Grinsen im Gesicht

„Wenn du jemandem diese Scheiße erzählst, tätowiere ich deine Fersse mit dem Taschenmesser!“

„Mach ich nicht“ stammelte ich, aber sie hatte schon aufgelegt.

Fox, Candice: Dark, S. 120

Für sich genommen liest sich das stellenweise schon arg dünn und klischiert. Aber wie es Candice Fox gelingt, die Perspektiven der vier Frauen auszubalancieren, die Handlung voranzutreiben und dann einen multiperspektivischen Showdown über zwei Erzählstränge anzulegen – das ist gut gemacht und zeigt ihr schriftstellerisches Können. Das Tempo ist bestechend hoch und so etwas wie Langeweile kommt auf den Seiten von Dark eh nie auf. Da nimmt man auch den ein oder anderen misslungen Dialog in Kauf.

Gekonnt beschreibt sie die ihren Schauplatz Los Angeles, weckt Sympathien der Leser*innen und unterhält auf einem wirklich tollen Niveau, sieht man über manche Dialoge und allzu grobe Pinseleien hinweg. Mit ihren vier Frauen renoviert sie das männderdominierte Genre des Krimis ordentlich. Davon gerne noch mehr!


  • Candice Fox – Dark
  • Übersetzt von Andrea O’Brian
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47101-2 (Suhrkamp)
  • 394 Seiten. Preis: 15,95 €
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Schnee von gestern

Jan Wilm – Winterjahrbuch

Da reist ein Ich-Erzähler namens Jan Wilm nach Los Angeles. Im Gepäck eine unverarbeitete Trennung und ein wahnwitziges Vorhaben. In der Stadt der Engel will Wilm ein Buch über Schnee bzw. über den Schneefotografen Gabriel Gordon Blackshaw schreiben. Dabei hat es dort seit 1949 nicht mehr geschneit. Ein ganzes Jahr wird Jan Wilm in Los Angeles verbringen – davon erzählt das Winterjahrbuch des Literaturwissenschaftlers und Übersetzers Jan Wilm.

Doch wer ist überhaupt dieser Jan Wilm? Was ist wahr, was ist erdacht? Geschickt entzieht sich der Philologe schon mit der Bezeichnung seines Buchs einer genauen Einordnung. Ein autofiktionaler Text ist sein Buch, so die Bewerbung durch Verlag und Autor. Was genau er darunter versteht, erläutert Jan Wilm in diesem lesenswerten Interview mit Knut Cordsen.

Autofiktional in Los Angeles

In den Straßen von Los Angeles

Ein autofiktionaler Text also, eine Melange aus Erlebtem und Erdachten. Dieser spielerische Umgang mit Fakt und Fiktion prägt das ganze Buch, bei dem vordergründig erst einmal gar nicht so viel passiert. Jan Wilm reist nach Los Angeles, durchmisst die Stadt, vergräbt sich in Archiven wie dem des Getty Research Insitute, kurz Getty genannt. Dort versucht er aus den Aufzeichnung und dem legendären Pestjahrbuch des Fotografen Gabriel Gordon Blackshaw schlau zu werden und seine Erkenntnisse in ein akademisches Werk zu überführen. Nebenbei ist er bestrebt, in Gedanken und Reflektionen die Trennung von seiner Partnerin zu verarbeiten. Dabei stagnieren sämtliche Bestrebungen oder sind sogar rückläufig.

Es sind drei Elemente, die das Buch strukturieren. Da ist zum Einen das akadmische Element der (reichlich dünnen) Blackshaw-Forschung, dann ist da zum Zweiten das Element der Trennungsverarbeitung und zum Dritten noch das Flanieren durch Los Angeles. Diese drei Elemente gehen immer wieder ineinander über und beeinflussen sich gegenseitig. Dazwischen, als Kapiteleingrenzung, gibt es jede Menge Indie-Songtitel, von Noah and the Whale bis zu Eliott Smith, von Jane Birkin bis zu den Mountain Goats (auch in einer Playlist hier zusammengefasst).

Ein literarischer Schneehase

Doch möchte man das Buch lediglich auf das Äußere reduzieren, entgeht einem der Hauptreiz dieses Buchs. Denn Jan Wilm kann und will seinen Studien- und Arbeitshintergrund gar nicht aus diesem Buch heraushalten. Wie eine Art literarischer Osterhase (oder sollte man besser von einem Schneehasen sprechen?) hat Wilm in diesem Buch derart viele literarische Anspielungen, Tricks und Kniffe versteckt, dass die Entzifferung selbst mit akademischen Bildungshintergrund kaum zu durchdringen ist. Alleine schon die mannigfaltigen Bedeutungen und Deutungsweisen des Schnees nehmen einen großen Raum ein. Dann ist das Winterjahrbuch auch noch randvoll mit Zitaten aus der Literaturgeschichte, von Martin Opitz bis hin zu Christa Wolf. Gedichtanalysen, Flaneursgedanken, philosophische Exkurse – dass aus dem Winterjahrbuch nichts herausfällt oder schwappt, ist ein kleines Wunder

Gerade auch auf Joan Didion und ihr Werk Das Jahr des magischen Denkens rekurriert Wilm gleich am Anfang seines Buchs. Es finden sich, wenn man denn möchte, erstaunliche Parallelen zwischen den Werken. Ich bin nach der Lektüre geneigt, im Winterjahrbuch auch Jan Wilms eigenes Jahr des magischen Denkens zu entdecken. Denn sein Aufenthalt in Los Angeles umfasst eben ein entscheidendes Jahr, vom Januar bis zum 31. Dezember, von Winter zu Winter. Ob danach eine Transformierung eingetreten ist, das muss jede Leserin und jeder Leser am Ende der 456 Seiten selbst deuten.

Faszinierend zu lesen in vielerlei Hinsicht

Wer jetzt von dem Buch aufgrund dieser Worte und einem möglichen zu akademischen Niveau zurückschreckt, der sollte sein Urteil noch einmal überdenken. Denn auch wenn Jan Wilm manchmal dazu neigt, die Leser*innen zu überfordern, so ist das Winterjahrbuch ein großer Reiz, den man nicht unbedingt in seiner ganzen Tiefe dechiffrieren muss, um an dem Buch seine Freude zu haben. Denn eins muss man einfach festhalten: Jan Wilm vermag zu schreiben und seine Geschichte zu erzählen. Und damit ist das Winterjahrbuch keinesfalls Schnee von gestern, sondern eine großartige Hommage auf Los Angeles, den Schnee, die Literatur und all das Dazwischen, dass das Leben ausmacht.

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Eine Odyssee in Los Angeles 1965

A. G. Lombardo – Graffiti Palast

A. G. Lombardo inszeniert in seinem Debüt eine Neuinterpretation von Homers Odyssee – und das im Los Angeles des Jahres 1965. Sein Homer heißt Americo Monk, ist Semiotiker und möchte eigentlich nur nach Hause zu seiner Geliebten. Doch dann kochen die Rassenunruhen in den Straßen L.A.s hoch. Und plötzlich brennt die ganze Stadt. Bei seinen Irrfahrten begleitet man Monk nach Hause – und lernt eine Stadt im Ausnahmezustand kennen.


Weder schwarz noch weiß, wie er ist, konnte Monk diese vom Kampf gezeichneten Straßen stets passieren. Im richtigen Licht und Brechungswinkel, zur rechten Tageszeit, sieht er aus wie ein Weißer aus, manchmal eher hellbraun oder kupfer. Sein Haar ist schwarz, gelockt aber nicht kraus, fällt gewellt und kringelig: afrikanisch, oder aber, in anderem Licht und für andere Betrachter: zerzaust oder geglättet, wieder andere sehen Mittelmeer, einen Südeuropäer oder Araber – ein wandelnder Rorschachspiegel, in dem der Betrachter mehr von sich als vom Betrachteten erkennt.

Lombardo, A.G.: Graffiti-Palast, S. 29

Dieses wandelnde Chamäleon begreift sich selbst als urbaner Grafologe und Graffiti-Semiotiker. Sein steter Begleiter auf seinen Reisen durch die Stadt ist sein Notizbuch. Darin hält er die verschiedenen Graffiti, Ganz-Symbole, Territorien und noch mehr fest. Das Buch ist sein Passierschein in der Stadt. Die Cops hätten es gerne als Schlüssel für die Gangtätigkeiten in der Millionenmetropole, die Gangs als Schlüssel für ihre Revierkämpfe. Doch Monk balanciert auf dem schmalen Grat zwischen organisierter Kriminalität und Kriminalern und erkundet Straßenzüge und Straßengemälde.

Auf dem Weg nach Hause

Eigentlich befindet er sich gerade auf dem Weg heim in den Süden Los Angeles. Dort lebt er mit seiner schwangeren Geliebten Karmann Ghia, die auf die Heimkehr von Monk wartet. 20 Meilen liegen noch vor ihm, bis er wieder bei seiner Geliebten ist. Doch dann explodiert die Gewalt in den Straßen. Die Wut der schwarzen Bevölkerung bricht sich Bahn und entlädt sich in massiven Aufständen.

Die Stadt versinkt im Chaos, und mittendrin Americo Monk, der eigentlich nur nach Hause möchte. Doch seine Irrfahrten werden ihn mit sämtlichen Milieus der Millionenstadt in Kontakt bringen. Polizei, Gangs, religiöse Eiferer, sogar einem Monster begegnet Monk auf seiner Odyssee. Denn auch Godzilla ist aus den Hügeln Hollywoods hernieder gekommen, um in den Straßen der Stadt Chaos zu stiften. Dabei ist die Nähe zu Homers Texten stets greifbar. So muss Monk in die Unterwelt hinabsteigen, seine Geliebte muss sich daheim anderer Menschen erwehren und ein Blinder namens Tyrone greift immer wieder mit Weisagungen ins Geschehen ein (Teiresias, ick hör dir trappsen).

Lombardos Buch ist wirklich abgedreht. Der reale, neuntätige Aufstand in den Gettos von Los Angeles ist die Folie, auf der sich dutzende wahrscheinliche und unwahrscheinliche Begegnungen ergeben. Mal begegnet er einer ominösen mexikanischen Sprayerlegende, mal verschwimmen im Chinatown-Viertel die Grenzen zwischen Jenseits und Diesseits. Das Chamäleon Monk begegnet den verschiedenen Ethnien die Schmelztiegels LA und erfährt am eigenen Leib die Disruptionslinien der Gesellschaft.

Burn, baby, burn.

Dazwischen schneidet Lombardo den Soundtrack des Jahres 1965, der die Aufstände begleitet. Ein schwarzer DJ liefert mit den Stones, den Supremes oder Roy Orbison die musikalische Kulisse für den Kampf um LA. Burn, baby, burn.

A. G. Lombardo (Copyright: Jack Hummel)

Über 300 Seiten kämpft sich Monk nach Hause, wird in seinen Bemühungen immer wieder zurückgeworfen wie ein Schwimmer in einer starken Brandung. Der Begriff rauschhaft-jazzig, den der Kunstmann-Verlag auf den Klappentext des Buchs drucken ließ, trifft dabei zu 102 Prozent zu. Wie in einem verrückten Free-Jazz-Rhapsodie montiert Lombardo Parts aneinander. Und wenn man meint, nun sei alles im Chaos verloren gegangen, dann werfe man man einfach einen Blick in die 20 ersten Gesänge der Homer’schen Odyssee um zu merken: hinter all dem steckt ein wohldurchdachter Plan. Wie dem Semiotiker Monk machte es auch mir einen großen Spaß, die Anspielungen und Zeichen, die Lombardo in seinem Text versteckt hat, immer wieder zu dechriffrieren. Aber auch ohne die Entschlüsselung der dahinterliegenden Ebenen macht Graffiti Palast großen Spaß. Das Buch ist ein außergewöhnlicher LA-Roman und einer der besten Flaneur-Romane, die ich in letzter Zeit lesen durfte.

Dass dieses Buch auch im Deutschen so gut funktioniert, das hat einen Grund. Und dieser Grund heißt Jan Schönherr. Seine Übertragung dieses hoch anspruchsvollen Textgebirges in die deutsche Sprache verdient großes Lob. Dialekte, Graffiti-Jargon, verschiedene Soziolekte – vor Schönherrs Übersetzung muss man wirklich den Hut ziehen. Ein solch komplizierter Text mit solcher Struktur und solchen sprachlichen Eigenwilligkeiten muss man erst einmal so übersetzen können. Eine Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung wäre hier nicht vermessen gewesen.

Fazit

Ein großes Ereignis, das ist dieser Roman. Eine Hommage an die Graffitikunst, eine präzises Panorama der Watts-Aufstände, ein LA-Porträt der Stadt und seiner Bewohner – ein anspruchsvoller und kluger Flaneurroman mit einer übersetzerischen Meisterleistung. Eines meiner persönlichen Highlights des Jahres!

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