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Tomasz Różycki – Die Glühbirnendiebe

Wenn der Weg über den Flur zum Anschauungsunterricht in Sachen Leben im Kommunismus wird, dann handelt es sich um den Roman Die Glühbirnendiebe von Tomasz Różycki. In diesem Buch schickt der polnische Autor einen Jungen zu Nachbarn, um dort Kaffeebohnen mahlen zu lassen. Der kurze Gang wird zu einer großen Reflektion über das Lebensgefühl und den Alltag im Plattenbau zur Zeit des Spätsozialismus


Kaffee, für viele von uns gehört er zum täglichen Leben dazu und ist meist auf Knopfdruck innerhalb von Minuten und nahezu überall verfügbar. Ganz anders jedoch bei Tomasz Różycki. Denn der Roman des 1970 geborenen Autors spielt irgendwann in der Spätphase des Kalten Kriegs in Polen.

Karol Wojtyla ist Papst und segnet auf Bildern und Fotos auch die Wohnungen der Familien im Plattenbau – Güter des täglichen Bedarfs sind aber weit weniger verfügbar als der omnipräsente Papst und Landsmann. Teils über Tage hinweg müssen sich Familienmitglieder gegenseitig abwechseln, um ihren Platz in langen Schlangen zu behaupten, an deren Ende im besten Fall einige wenige Rationen von Luxusgütern wie etwa Kaffee warten.

Die Sache mit dem Kaffee

Und wenn man aufgrund eines guten familiären Netzwerkes und einer wohlkoordinierten Anstelltaktik zu den Glücklichen zählt, dann kann es passieren, dass sich sich der sehnlich begehrte Kaffee als nicht verarbeitetes Produkt in Bohnenform herausstellte. So zumindest im Falle des Romans von Tomasz Różycki, der mit genau diesem Fall eröffnet, der sich in der Folge zu einem Panorama des Lebens im Spätsozialismus entfaltet.

Hört euch an, wie meine Mutter gesprungen ist. Also, das war so: Als es uns kurz vor Vaters Namenstag endlich gelungen war, Kaffee zu organisieren, und sich herausstellte, dass es Bohnen waren, sagte Vater, der vorm Fernseher saß, wo im pulsierenden grauen Pixelwirbel gelegentlich die fantastischen Formen des Plattenbaupanoramas von Ursynów auftaucheten, zu mir: „Geh zu Stefan und lass ihn mahlen“, denn sie hatten eine Kaffeemühle. Er ging natürlich nicht selbst, obwohl man dazu über den schrecklichen Dachboden musste, und wir klopften auch nicht bei den Nachbarn links und rechts, weil die von links keine Mühle und wir mit denen von rechts kein sonderlich gutes Verhältnis hatten, warum, wusste, keiner genau.

Tomasz Różycki – Die Glühbirnendiebe, S. 5

Und so macht sich der junge Held Tadeusz auf den Weg hinauf zum Dachboden, wo der gefürchtete Gaang auf einer Länge von etwa 120 Meter die verschiedenen Plattenbauten miteinander verbindet, um die Kaffeebohnen in einen nutzbaren Daseinszustand verwandeln zu lassen.

Was eigentlich nicht länger als ein paar Minuten dauern dürfte, wird im Falle von Die Glühbirnendiebe zu einer Erzählung von 220 Seiten. In dieser Erzählung taucht man man mit Tadeusz gemeinsam tief ein in das Leben dort im Plattenbau ein und erhält eine Ahnung davon, wie Gemeinschaft und Alltag einst aussahen in jenem spätkommunistischen Betonmonstrum, das von Rissen und Brandnarben durchzogen am Rande eines Steinbruchs harrt.

Leben im Plattenbau

Tomasz Różycki - Die Glühbirnendiebe (Cover)

Aufgrund des Vandalismus, der sich auch im steten Diebstahl von Leuchtmitteln im Haus zeigt, ist der Gang äußerst schummrig beleuchtet. So flößt sich Różyckis junger Erzähler selbst Geschichten und Erinnerungen ein, um sich damit von der Schaurigkeit seines Wegs zu den Nachbarn abzulenken.

Meter um Meter kämpft sich Tadeusz dort oben auf dem Flur voran, während seine Gedanken immer wieder abschweifen und sich in Erinnerungen verharken. Der Müllschlucker, die ständigen Zündeleien und Brandstiftungen und die Risse im Gebäude, die einen Ausblick auf die Tristesse des Stadtteils Ursynów im Süden Warschaus erlauben, sie alle zeigt uns Tadeusz in seiner Art der Autosuggestion.

Ähnlich wie das aufgrund von Sprengungen im benachbarten Steinbruch immer wieder schwankende Gebäude zeigen sich auch im Alltag der Menschen immer mehr Risse und das System beginnt langsam zu bröckeln. Noch aber regiert der Sozialismus in seinem ganzen Lauf – was sich aber keineswegs einem grauen und deprimierenden Leseerlebnis äußert – ganz im Gegenteil.

Ein gewitzter Roman über den Spätsozialismus

Die Glühbirnendiebe ist ein gewitzter Roman, der mit viel Liebe zu seinem Erzählgegenstand den Alltag im Plattenbau mit all seinen Mängeln, vor allem aber mit der Findigkeit seiner Bewohner noch einmal wachruft. Die Familie Tadeusz‘, die aus der Ukraine stammt und in der vor allem die Altlemberger Flüche des Vaters Zeugnis von der Herkunft ablegen, die Nachbarn, die mal als äußerst kreative Denunanzianten die Mitbewohner im Plattenbau anschwärzen, mal mit besonders rigorosen Ernährungsvorschriften ihrer Kinder Tadeusz‘ Familie herausfordern, sie alle leben im wahrhaftigen Erinnerungsgang des Jungen auf.

Die Anforderungen, die das Leben im Block stellte, werden bis heute unterschätzt- Dabei war es eine echte Schule des Lebens, vielleicht eine kommunistische, aber eine Schule.

Tomasz Różycki – Die Glühbirnendiebe, S. 53

Tomasz Różycki erzählt von Familienfeiern, deren Tabakkonsum alle Feinstaubmesswerte pulverisiert haben dürfte, von kuriosen Schwarzbrennereien in der Platte oder dem Fest, das die Zuteilung von Schweinsfüße bedeutete, denn das Endprodukt von Sülze konnte ganze Familien in kulinarische Ekstase versetzen, wie Die Glühbirnendiebe beweist.

Es sind die kleinen Momente, die so anschaulich vom Leben im großen Plattenbau erzählen. Tadeusz erweist sich als durchaus sprachmächtiger Erzähler (Übersetzung aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann), der von Menschen und deren Zusammenleben erzählt, und damit wieder einmal jenes vielzitierte und vielen Denker*innen zugeschriebene Zitat erfüllt, dem nach der Historiker sagt, wie es war und der Schriftsteller, wie es sich angefühlt hat.

Fazit

Wie es sich angefühlt hat, das Leben im Plattenbau, das zeigt Tomasz Różycki in seinem Roman eindringlich. Der Spätsozialismus ersteht in diesem Roman wieder auf und straft damit auch die Worte von Tadeusz‘ Freundin Bermuda Lügen. Denn diese bekennt, dass sie Bücher für Zeitverschwendung hält, das Lesen sie langweile. „Wozu lesen, wenn man leben kann?“ so ihre Haltung. Dabei sind es genau solche Bücher wie Die Glühbirnendiebe, bei denen man nicht nur Lesen, sondern gleich ganze Leben mitleben kann. Mehr kann gute Literatur nicht schaffen!


  • Tomasz Różycki – Die Glühbirnendiebe
  • Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
  • ISBN 978-3-949262-45-6 (edition. fotoTAPETA)
  • 224 Seiten. Preis: 25,00 €
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Menachem Kaiser – Kajzer

Grabungen in der eigenen Familiengeschichte, polnische Schatzsucher, ein unbekannter Verwandter, der die Konzentrationslager überlebt hat, ein mythenumrankter Goldzug – und die Geschichte eines Prozesses, der in seinem Anrennen gegen juristische Gegebenheiten etwas an Kleists Kohlhaas erinnert. Das alles bietet der US-amerikanische Autor Menachem Kaiser in seinem facettenreichen erzählenden Sachbuch Kajzer, dem für mein Empfinden ein etwas klarerer Fokus und mehr Kontur gutgetan hätten.


Menachem Kaiser dürfte es wie vielen von uns gehen. Man hat zwar eine grobe Ahnung der Familiengeschichte, aber die genauen Umstände der biographischen Herkunft liegen trotzdem im historischen Dunkel. Zwar wusste er als Sohn jüdischer Eltern von seinem Großvater, der im KZ überlebt hatte, recht viel mehr Erkenntniswert und Interesse war bei den nachfolgenden Generationen aber nicht, sodass er konstatiert:

Wir wussten, dass mein Großvater aus seiner Familie der Einzige gewesen war, der den Krieg überlebt hatte, dass seine Eltern und seine Geschwister ermordet worden waren, ebenso wie beinahe alle in seiner weiteren Verwandtschaft. Aber als Wissen war dies dunkle Materie.

Wir wussten nichts über sein Leben vor dem Krieg oder in der Zwischenkriegszeit. Wir wussten nicht, in welchen Konzentrationslagern er gewesen war oder wie sein Vater seinen Lebensunterhalt verdient hatte. Wir wussten nichts über seine Eltern, Tanten, Onkel, Cousin und Cousinen; mein Vater und seine beiden Geschwister – ganz zu schweigen von meiner Generation – hätten Mühe gehabt, die Namen der Geschwister meines Großvaters zu nennen; nicht einmal, wie viele es waren, hätten sie genau sagen können. Wir wussten, dass sie gestorben, hatten aber keine Ahnung, wer sie gewesen waren.

Menachem Kaiser – Kajzer, S. 13

Dieses Desinteresse änderte sich allerdings, als sich Menachem Kaiser im Zuge eines Forschungsstipendiums in Krakau aufhielt. Er, der eigentlich als Journalist und Autor arbeitet, wollte, wenn schon einmal vor Ort, dort dem persönlichen Erbe näherkommen, schließlich stammte sein Großvater aus Schlesien. Der Weg zum Ort des Aufwachsens seines Großvaters war somit nicht mehr weit, weswegen er sich daran machte, nach den familiären Wurzeln zu graben.

Ein enteignetes Haus in Sosnowiec

Für seine Suche erhielt Kaiser von seinem Vater eine Mappe mit ungeordneten Dokumenten. Aus diesen ging hervor, dass sein Großvater einst im Besitz eines Hauses im Ort Sosnowiec war, einem kleinen polnischen Ort. Als Jude war ihm dies während der Naziherrschaft allerdings enteignet worden.

Menachem Kaiser - Kajzer (Cover)

Zwanzig Jahre lang, so dokumentiert es das Konvolut, hatte sich der Großvater nach den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs angestrengt, seinen enteigneten Besitz wiederzuerlangen. Ein hoffnungsloses Unterfangen, das von keinem Erfolg gekrönt war.

Diese Nachricht rüttelt Menachem Kaiser auf, sodass er sich als Nachfahre daranmacht, dieser historischen Ungerechtigkeit im Nachhinein Recht zu verschaffen. Wieder zurück in den USA strengt er mithilfe einer „Killerin“ geheißenen Rechtsanwältin einen juristischen Kampf an, um das einst verlorene Haus wiederzuerlangen. In Polen recherchiert er zu Geschichte des Hauses – wird dann aber auch noch auf einer anderen Front mit einer Entdeckung überrascht.

Schatzsucher und Familienforschung

Denn während Kaiser zu einem Schatzsucher in Sachen eigener Historie wird, stößt er auf einen anderen legendären Schatzsucher namens Abraham Kajzer, der einst den Holocaust überlebte und der zur inspirierenden Figur für polnische Schatzsucher wurde, die sich auf die Suche nach dem legendären Goldzug der Nazis begaben. Die Namensgleichheit mit diesem Abraham Kajzer macht Kaiser stutzig, und so entdeckt er eine faszinierende biographische Volte. Bei Abraham Kajzer handelt es sich um niemand anderen als den Cousin seines eigenen Großvaters.

Ein Umstand, der ihn bei anderen Schatzsuchern in geradezu legendäre Höhen hebt, die ihm von ihren Grabungen in der Historie und im polnischen Boden berichten wollen, während er vor Ort den Spuren des eigenen Großvaters und denen Abraham Kajzers nachspürt, der nicht nur die Konzentrationslager überlebte, sondern auch nach Israel auswanderte und ein Buch mit seinen Aufzeichnungen an die Zeit in den Lagern veröffentlichte.

Das alles ist natürlich – um im Bild zu bleiben – eine wahre erzählerische Goldgrube. Die unbekannte Verwandschaft, die Suche in Polen nach dem eigenen Erbe, das Graben in metaphorischer und tatsächlicher Hinsicht. Und dann ist da auch noch der Prozess um das Haus, den nun der Enkel als Erbe an des Großvaters statt führt und der dabei eine Ahnung vom massiven Umbau des polnischen Staats bekommt, als die autoritär regierende PiS-Partei eine Justizreform anstrengt, die Sand in das juristische Getriebe streut, das für Kaisers Geschmack eh schon zu umständlich und langsam läuft.

Eine erzählerische Goldgrube – nicht ganz ausgeschöpft

Leider holt Kaiser aus dieser Goldgrube nicht das Optimum heraus. Denn das, was die New York Times auf der Rückseite des Buchs eine „verschlungene“ Geschichte nennt, ist für meinen Geschmack deutlich zu verschlungen. Oder anders gesagt: mir fehlt es hier an klarer Fokussierung auf sein erzählerisches Anliegen.

Beständig mäandert das Erzählen zwischen der eigenen Familiengeschichte, Abraham Kajzers packendem Schicksal, dem Prozess rund um das Haus und die Spurensuche vor Ort sowie die Porträts polnischer Schatzsucher, ihre Mythen und die Faszination für den Zweiten Weltkrieg, Goldzug und Projekt Riese inklusive, hin und her.

All das sind zweifelsohne spannende Themen und für sich genommen auch schon einzelne Sachbücher wert. Im Zusammenwirken all dieser erzählerischen Motive wird daraus aber leider ein doch recht unkonturiertes und unentschlossenes Durcheinander, bei der immer wieder einzelne Erzählstränge abbrechen, die Gedanken Kaisers abschweifen oder wieder zu angefangenen Themen zurückkehren.

Statt sich auf die Wiederentdeckung seines familiären Erbes zu besinnen und dies einfach mit dem schon fast Kolhhaas’schen Prozess um die Wiederelangen des enteigneten Hauses und die dafür notwendige Dokumentation zu kombinieren, eröffnet Menachem für meinen Geschmack deutlich zu viele Baustellen und Nebenkriegsschauplätze, die die eigentlich so kraftvollen und beeindruckenden Themen etwas von ihrer Wirkung nehmen. Hier wäre erzählerisch weniger gewesen, um mehr in Form eines wirklich stringenten und überzeugenden Buch zu sein.

Fazit

Kajzer ist fraglos ein relevantes erzählendes Sachbuch, das gerade in diesen Tagen mit dem Thema der Erkundung der eigenen jüdischen Biografie einen wichtigen Punkt macht. Allerdings verliert sich dieses wichtige und interessante Thema im zu unfokussierten Allerlei zwischen Schatzsuchern und Mythenbildung, um in letzter Konsequenz zu überzeugen. Hier wäre ein stärkeres Lektorat und ein klar erkennbarer erzählerischer roter Faden Trumpf gewesen.


  • Menachem Kaiser – Kajzer
  • Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer
  • ISBN 978-3-552-07339-5 (Zsolnay)
  • 336 Seiten. Preis: 28,00 €
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Timothy Garton Ash – Europa

Eine persönliche Geschichte

Wie soll man von Europa reden, wie seine Geschichte und seine Entwicklungen zusammenfassen? Der Brite und stolze Europäer Timothy Garton Ash entscheidet sich in seinem Buch Europa für eine persönliche Herangehensweise, indem er die mannigfaltigen Berührungspunkte seines Lebens mit der europäischen Idee in den Mittelpunkt stellt.


Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ein Brite, Professor für Europäische Studien an der University Oxford, ein Buch schreibt, das Europa lobpreist. Timothy Garton Ash weist selbst in seinem Buch auf die Umstände hin, die Großbritannien aus der Europäischen Union ausscheiden ließen – und lässt keine Zweifel an seinem Schmerz über diesen Zustand. Denn Europa ist trotz aller Krisen und Probleme eine ebenso richtige wie wichtige Idee, an der auch der Brexit nichts ändert, wie Garton Ash meint.

Die Geschichte Europas seit 1945

Dieser Idee, ihrer Entstehung und Entwicklung geht er im Lauf der folgenden gut 430 Seiten ausführlich nach. Da die Geschichte Europas aber ebenso heterogen wie ihre Mitgliedsstaaten ist, wählt Timothy Garton Ash einen klugen Erzählansatz, den auch schon der Untertitel des Buchs verrät. Anstelle einer Analyse der Gleichzeitigkeit und Verschiedenheiten in der Historie der EU geht der Brite radikal subjektiv an sein Erzählprojekt heran. So nimmt er seine eigene Geschichte in den Blick, die auf das engste mit den entscheidenden Entwicklungen und Weichenstellungen der Europäischen Union verknüpft ist, wie die folgenden Seiten eindrücklich unter Beweis stellen.

Timothy Garton Ash - Europa (Cover)

Angefangen vom Jahr 1945 in der Stunde Null (die es so einheitlich in Europa niemals gab, wie Garton Ash zeigt) blickt der Historiker auf den Neubeginn der europäischen Idee und Gemeinschaft. Dafür begibt er sich nach Deutschland, das schon sein eigener Vater nach dem D-Day als englischer Soldat befreite, und das nun zu seinem Ausgangspunkt für seine Geistesgeschichte Europas wird. Ausgehend von der Idee nach der Erfahrung der Kriegsgräuel, einen besseren Ort zu schaffen, der solchen Schrecken wie dem Zweiten Weltkrieg verhindern sollte, geht es dann zurück in Timothy Garton Ashs eigene Jugend.

In dieser lernte der 1955 geborene Brite erstmals die 68er-Bewegungen kennen, erfuhr die Aufbruchsstimmung rund um die Solidarnosc-Bewegung in Polen mit ihrem Führer Lech Walesa, war in Deutschland Zeuge eines geteilten Landes und erlebte dieses Europa als einen Ort der Vielfalt und Ungleichzeitigkeit, was er in seinem Buch mit dem Begriff eines Kaleidoteppichs umreißt, der für ihn Europa ausmacht:

Der Kaleidoteppich als Symbol Europas

Welche Metapher kann diese Vielfalt auch nur annähernd erfassen? Palimpsest? Millefeuille? Patchwork-Quilt? Das Beste, was mir einfällt, ist eine Kombination aus Kaleidoskop und Wandteppich: ein Kaleidoteppich. Europa ist ein Wandteppich in dem Sinne, dass er von vielen Händen bearbeitet wurde, um ein einziges, einzigartiges Bild zu schaffen – eine Straßenszene vielleicht oder eine Landschaft oder ein Ereignis wie den Palio, das Pferderennen zwischen benachbarten Gemeinden auf dem Hauptplatz von Siena, das erstmals für das Jahr 1239 dokumentiert ist und immer noch alljährlich stattfindet.

Aber es ist auch ein Kaleidoskop, denn immer wieder tauchen dieselben bunten Elemente in neuen Kombinationen auf: die immer wiederkehrende visuelle Grammatik von Kirche, Schloss, Marktplatz und Rathaus, Anspielungen auf Rom, Elemente der Gotik, des Barock, des Jugendstils oder des Brutalismus der 1960er Jahre; Leitmotive wie der Minotaurus, die Sirenen oder die Madonna mit dem Kind, Cafés in allen möglichen Formen und Arten; der griechische Kaffee, der dem türkischen so merkwürdig ähnelt, Kohl in unendlichen gastronomischen Variationen. Überall findet man Feinheiten, die einzigartig sind, oder das, was in vielen europäischen Sprachen als „typisch“ bezeichnet wird, neben anderen, die verblüffend vertraut sind. Wenn man die Nationalhymne Liechtensteins anstimmt, hört man die Melodie von „God save the queen“. Das Gleiche, und doch anders, anders und doch gleich.

Timothy Garton Ash – Europa, S. 72

Doch eine einzige Erfolgsgeschichte ist dieses Europa natürlich nicht, was immer deutlicher wird, je näher sich das Buch an die Gegenwart heranarbeitet. So gelang es im Laufe der 68-Bewegung und durch den langsamen Zerfall der Sowjetunion, viele Länder aus ihren Diktaturen zu befreien. Von Portugal über Spanien bis hin nach Osteuropa – viele langjährige Machthaber und ihre Staatsparteien verschwanden und die Demokratie trat ihren Siegeszug an.

Europa in Gefahr

Ebenso wie aber beispielsweise Länder wie Ungarn oder Polen das Joch der Diktatur abstreiften, ebenso zerbrechlich war aber die neue Freiheit, was sich aktuell in Ungarn unter Premier Viktor Orban am deutlichsten zeigt. Aber auch Polen mit der regierenden PiS-Partei war ein Negativbeispiel eines solchen Rückfalls in autokratische Zeiten, obgleich man dem Land nun nach der Abwahl der Partei unter ihrem Strippenzieher Jaroslaw Kaczynski einen raschen Weg zurück zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wünscht.

Die Demokratie, sie ist ein bedrohtes Gut, das zeigt Timothy Garton Ash in seinen Ausführungen sehr deutlich. Nicht nur der aktuell grassierende Rechtsruck in fast allen Ländern Europas, der durch Probleme mit der Migration verstärkt wird – auch sein eigenes Heimatland entschied sich lieber, populistischen Lügen und Unwahrheiten zu folgen, statt sich auf die Stärken der Europäischen Gemeinschaft zu besinnen, was Garton Ash lesbar schmerzt:

Ich verspürte einen beinahe körperlichen Schmerz, als nach dem Brexit die europäischen Flaggen an offiziellen Gebäuden in Großbritannien abgenommen wurden und wir stattdessen mit dem Schauspiel der Churchill-Parodie Boris Johnson konfrontiert waren, der jetzt allein von zwei Union Jacks flankiert wurde. Etwas Größeres war verloren gegangen, so wichtig wie die Freizügigkeit oder die Mitgliedschaft im Binnenmarkt: das Bestreben, gleichzeitig unser nationales Selbst und mehr als nur unser nationales Selbst zu sein.

Timothy Garton Ash – Europa, S. 177

Gut lesbar, unterhaltsam, minimal elitär prunkend

Hier wird auch die Erzählweise dieses sehr gut lesbaren Buchs offenbar. Denn anstelle von Fußnoten und Zitaten entscheidet sich Garton Ash, seine Quellen nur auf der Verlagshomepage nachzuweisen und auf lange Zitate und Zeugnisse seiner eigenen Bildung zu verzichten. Stattdessen ist sein Buch ganz in der angelsächsischen Tradition der Geschichtsschreibung verhaftet. Das bedeutet einen flüssigen, barrierefreien Stil, der sich auch subjektive Wertungen und Einordnungen erlaubt. Seine Ausführungen sind nachvollziehbar, gut lesbar und wirklich unterhaltsam (übersetzt durch Andreas Wirthenson).

Manchmal gerät das Ganze dabei doch etwas arg elitär prunkend, etwa wenn Garton Ash immer wieder auf seine Kontakte und Zugänge zu den Schaltzentralen der Macht verweist. Von Gesprächen im Kanzlerbungalow mit Helmut Kohl über Hintergrundgespräche mit Tony Blair bis hin zu Konsultationen mit Ang Suu Kim oder Viktor Orban stellt sein Buch die Weltläufigkeit seines Verfassers sehr gerne aus.

Weil das aber mit erkenntnisreichen Passagen und neben allem Sinn für die großen Momente auch durchaus mit einem Sinn für Selbstkritik und dem Benennen von Fehleinschätzung einhergeht, sehe ich das diesem ebenso gut vernetzten wie gut erzählenden Professor und Träger des Aachener Karlspreises sehr gerne nach.

Fazit

Europa ist eine unterhaltsame Reise durch fast 80 Jahre europäischer Geschichte. Volten. Erfolge und Niederlagen, all das betrachtet Timothy Garton Ash in diesem persönlich Buch, das als Einführung in die EU hervorragend funktioniert. Neben allem Enthusiasmus für die europäische Idee lässt das Buch durch seinen Rückblick auf Vergangenes auch die Gegenwart besser verstehen. Nicht zuletzt macht Europa zudem klar, was nicht nur in diesem Jahr in Form der Europawahlen auf dem Spiel steht.

Denn einmal mehr gilt, was auch Garton Ashs Kaleidoteppich zeigt: Europa ist mehr, als die Summe seiner Einzelteile. Und wir sollten gut achtgeben darauf, damit dieser Teppich ebenso bunt und faszinierend bleibt, wie er es in den letzten achtzig Jahren war.


  • Timothy Garton Ash – Europa. Eine persönliche Geschichte
  • Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
  • Produktnummer 175045 (Buechergilde Gutenberg)
  • 448 Seiten. Preis: 32,00 €
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Ulrike Draesner – Die Verwandelten

Eine Familie, ebenso kompliziert und verwinkelt wie das 20. Jahrhundert. Ulrike Draesner in ihrem neuen Großroman Die Verwandelten über deutsch-polnische Familienbande, den Lebensborn und die Nachwirkungen der Kriegsgräuel des Zweiten Weltkriegs.


Alles beginnt eigentlich recht überschaubar in diesem an Themen wie auch Seiten satten Roman, der uns mitnimmt in ein abgelegenes Institut in Hamburg, in das Kinga Schücking per ICE anreist. Die alleinerziehende Rechtsanwältin will dort einen Vortrag über den Lebensborn, das „Zuchtprogramm“ der Nationalsozialisten, halten. Ungewollte oder uneheliche Kinder wurden in diesem Programm aufgezogen und an „arische“ Familien vermittelt. Auch Kinga selbst ist die Nachfahrin eines Lebensborn-Kindes. Ein Erbe, das sie bis heute nicht losgelassen hat, und das sowohl ihr berufliches als auch privates Leben bestimmt.

Besonders groß ist die Überrarschung, als Kinga dort in Hamburg beim Smalltalk nach dem Vortrag auf Doro stößt, die sich als polnische Verwandte von Kinga entpuppt. Die genauen Verflechtungen zwischen der ebenfalls auf einen polnischen Namen hörenden Kinga und Dorota entwirrt (beziehungsweise manchmal auch verwirrt) UIrike Draesner nun auf den folgenden gut 550 Seiten.

Eine Familie zwischen Deutschland und Polen

Dabei geht die Professorin für Literarisches Schreiben weit in der Vergangenheit zurück und lässt immer wieder unterschiedliche Frauen der Familie Schücking beziehungsweise der Familie Valerius zu Wort kommen. Durch diese in unterschiedlichen Tonlagen gehaltenen Erinnerungen entsteht ein dichtes und nicht immer einfach zu überblickendes Bild der Kriegswirren und deren Nachwirkungen, die sich in ganz unterschiedlicher Form manifestierten.

Ulrike Draesner - Die Verwandelten (Cover)

So ist Kingas verstorbene Mutter Alissa ein Lebensbornkind, das aber auch auf den Namen Gerhild hörte und vom regimetreuen und ideologisch sehr wendigen Ehepaar Gerda und Gerd adoptiert wurde. Diese waren zwar mit dem familieneigenen Konservenunternehmen zu Reichtum gelangten, die Elternschaft blieb ihnen allerdings verwehrt, obschon sich Gerda als fleißige Propagandistin des arischen Familienideals erwies.

So war es ein Lebensbornkind, auf das die beiden zurückgriffen – Alissa Gerhild, die eigentlich aus Wrocław stammte, besser bekannt noch unter dem Namen Breslau. Sie war das Ergebnis einer unehelichen Liaison des glühenden Shakespearefans und Theaterdirektors Marolf Valerius mit dessen Dienstmädchen – ein Fakt, den sich Kinga und wir mit ihr erst langsam erschließt.

Über den Familienstamm der Valerius‘ findet die polnische Seite der Familie ins Buch, auf deren Seite ebenfalls Umbenennungen und Identitätswechsel stattfanden, um die Kriegsgräuel und die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs zu überstehen.

Geschichte aus Frauenperspektive

Allmählich verfestigt sich das Bild einer deutsch-polnischen Familie, in der es stets die Frauen waren, die auf ganz unterschiedliche Art und Weise ihre Generationen über die Runden brachten, sich anpassten und sich selbst mit großer Härte behandelten, um die Zeiten zu überleben. Gewalt, Lieblosigkeit und Lügen waren dabei in allen Jahrzehnten die Mittel, derer sich die Frauen bedienen mussten, wie Ulrike Draesner in ihrem Roman zeigt. Dabei ist es kein chronologischer Erzählbogen, der Die Verwandelten ausmacht. Vielmehr sind es viele kleine Fragmente und Erinnerungssplitter, die sich allmählich zu einem großen Familienbild der Bagasche zwischen Oder und Isar verfestigen.

Bei der Lektüre dieses ambitionierten Werks hilft ein Blick auf das hintere Vorsatzblatt des Buchs ungemein. Denn hier ist die komplizierte Familiengeschichte der Valerius‘ und Schückings visualisiert, ebenso wie sich ein Dramatis Personae und ein Verzeichnis polnischer Begriffe im abschließenden Teils des Buchs findet. Es sind Hilfestellungen, die die Lektüre von Die Verwandelten erleichtern und die komplizierte Reise durch die Zeit und das familiäre Geflecht hindurch etwas durchschaubarer machen.

Manchmal ist es zu viel des Guten, etwa wenn Draesner neben den über hundert Jahre umspannenden Familien- beziehungsweise Frauenverästelungen im zwanzigsten Jahrhundert dann auch noch ein unbemanntes, drohnenähnliches Bohrobjekt in den Wurmloch genannten Zwischenteilen losschickt, das sich einmal durch die deutsche und polnische (Erd-)Geschichte und Tektonik wühlt. Es sind Kapitel, in denen einmal mehr Draesner Begeisterung für die Erdgeschichte über das Anthropozän hinaus aufscheint, die aber in meinen Augen verzichtbar gewesen wären, auch wenn sie die voluminösen drei Hauptteile unterbrechen und gliedern.

Sprache in ihrer ganzen Ausprägung

Ulrike Draesner ist ja eine Meisterin der Sprache. Stets sucht sie nach einer eigenen Form für ihre Erzählungen und ringt ihren Untersuchungsgegenständen unzählige Sprachbilder und Spracheinfälle ab. So umspielte sie in der Biographie des Dada-Mitbegründers Kurt Schwitters ebenjene Dada-Poesie oder fand in Kanalschwimmer zu einem englisch-deutschen Sprach- und Bewusstseinsstrom passend zur Überquerung des Ärmelkanals. Auch in Die Verwandelten ist unverkennbar die Sprachkünstlerin Draesner am Werk, die ihre Frauen mit unterschiedlichen Draesner-Sound in Sachen Sprachmelodien und Mustern ausstattet. Zudem ist allen Kapiteln eine Form konkreter Poesie voranstellt, die mal erkennbarer, mal kaum chiffrierbar erscheint.

Großartig geraten ihr etwa die Passagen der in einem Pflegeheim liegende Gerda, Kingas Großmutter, die sich in ihren Erinnerungen verliert und dabei immer wieder zwischen Pflegebedürftigkeit im Altenheim und eigener Wendigkeit zur Zeit des „Dritten Reichs“ hin und herwandert. Auch die Beschreibungen der Vertreibung im Osten, die Gewalt vor allem gegen Frauen, das Leid und die Not – all das schildert Draesner plastisch und eindringlich erfahrbar.

Und doch war es mir angesichts des anspruchsvollen Gesamtumfangs von fast 600 Seiten neben allen geschichtlichen Rückblicken und Sprüngen auf sprachlicher Ebene dann die Frequenz ihrer sprachschöpferischen Kraft etwas zu viel des Guten. So hätte ich auf das ein oder andere originelle Kompositum oder Sprachbild der Lyrikerin verzichten können, sorgten diese in ihrer Fülle doch eher für ein Gefühl der sprachlichen Übersättigung und waren für mich eher Ausdruck eines gewissen Manierismus denn eine wirklich zielführende Flankierung des Inhalts.

Mittelteil einer Trilogie

Die Verwandelten ist das Mittelstück von Ulrike Draesners geplanter Trilogie über familiäre Verflechtungen zwischen Polen und Deutschland, die sie mit Sieben Sprünge vom Rand der Welt begann. Ohne dieses erste, vor neun Jahren erschienene Werk gelesen zu haben, sind es doch die Themen der Vertreibung, des deutsch-polnischen Erbes und der familiären Verflechtungen über die Generationen hinweg, die sich als Themenfelder dieser Trilogie herauszukristallisieren scheinen.

Persönlich bin angesichts dieses fordernden Familienromans nun erst einmal überwältigt und werde mir bei Gelegenheit zu einem späteren Zeitpunkt einmal den Auftakt der Trilogie vornehmen. Unabhängig davon zolle der Autorin Respekt für ihre schier unerschöpfliche Sprachkraft und Genauigkeit, mit der sich Draesner in ihre fiktive Großfamilie hineinspürt und die deutsch-polnischen Geschichte ebenso genau untersucht, wie es die Drohne in ihrem Roman mit den Gesteinsschichten dort im Untergrund tut.

Die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse erscheint mir folgerichtig, obschon es Die Verwandelten einem nicht wirklich leicht macht und schnell für ein Gefühl der Überforderung sorgen kann. Aber dafür ist Literatur ja auch da und Ulrike Draesner beherrscht diese Kunst wahrhaftig.


  • Ulrike Draesner – Die Verwandelten
  • ISBN 978-3-328-60172-2 (Penguin)
  • 608 Seiten. Preis: 26,00 €
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