Ein verschlafenes Nest irgendwo in England kurz nach dem Zweiten Weltkrieg- und eine ungeheure Anschuldigung, die nicht nur den lokalen Anwalt Robert Blair aufrüttelt. Josephine Tey erzählt in ihrem ursprünglich 1948 erschienenen Krimi Nur der Mond war Zeuge von der Suche nach Wahrheit zwischen Beschuldigten und Beschuldigerin – und der Sensationsgier der Boulevardpresse.
Es war doch seltsam, dachte Robert, als er in die Runde blickte, dass der Anlass zu dieser so fröhlichen, so warmherzigen, so geborgenen Familienfeier die große Not zweiter hilfloser Frauen sein sollte, die in diesem dunklen, stillen Haus zwischen den endlosen Feldern lebten.
Josephine Tey – Nur der Mond war Zeuge, S. 294
Anrufe, die einen kurz vor Feierabend erreichen, sollte man besser nicht annehmen. Meistens bringen sie nur Arbeit und vergällen einem den ruhigen Feierabend. Das ist eine Erkenntnis, die auch der Anwalt Robert Blair machen muss. Bei ihm ist es ein solcher nachmittäglicher Anruf, der ihn kurz vor seinem Aufbruch aus der Kanzlei erreicht. Versunken in der Behaglichkeit seines Daseins als Anwalt, bei dem nur die Keksauswahl etwas Abwechslung verspricht, macht er sich gerade auf, um die Dorfstraße von Milford hinabzupromenieren, als ihn der Anruf von Marion Sharpe erreicht, die ihn um anwaltlichen Beistand ersucht.
Ihrer Mutter und ihr wird nämlich ein ungeheures Verbrechen zur Last gelegt, was Blair nach seiner widerwilligen Annahme des Mandats direkt bei der Ankunft am einsam gelegenen Häuschen der Sharpes offenbart wird. Scotland Yard ist in Form von Inspektor Grant anwesend (der hier im Gegensatz zu den anderen Krimis der Reihe nur eine kleine Nebenrolle spielt) und die Zeichen stehen auf Sturm. Denn es ist der Vorwurf der Entführung und Misshandlung, der die Polizeibehörden auf den Plan gerufen hat, weswegen nun anwaltlicher Beistand für Mutter und Tochter Sharpe notwendig ist.
Im Gespräch kristallisieren sich rasch die Hintergründe für den Aufruhr heraus. So wurde ein junges Mädchen aufgegriffen, das schwere Anschuldigungen gegen die Sharpes erhebt. Es sei von Mutter und Tochter entführt und im „Franchise“ genannten Haus der beiden gefangen gehalten worden. Misshandlung und Zwangsarbeit seien an der Tagesordnung gewesen, ehe sich das Mädchen aus der Gewalt seiner Peinigerinnen befreien konnte.
Wer spricht hier die Wahrheit?
Schwere Anschuldigungen, die die beiden Frauen weit von sich weisen und sich die Hilfe Roberts ausbedungen haben. Komplizierter wird der Fall dann auch noch, als das Mädchen bei einer Gegenüberstellung sämtliche Details aus dem Inneren des Hauses nennen kann, womit sich der Vorwurf der Entführung und Misshandlung erhärtet.
Obwohl zunächst noch widerwillig, verbeißt sich Robert schon bald in den Fall, der nicht nur in Milford für Aufsehen sorgt. Wer spricht die Wahrheit? Seine beiden Klientinnen oder das junge Mädchen, das sogar die Bespannung der Koffer im Schrank der Sharpes benennen kann? Da ja tatsächlich nur der Mond Zeuge der potentiellen Ereignissen gewesen zu sein scheint, steht es zunächst noch nach Aussage gegen Aussage. Scotland Yard sieht keinen Grund für weitere Untersuchungen, doch dann tritt die Presse auf den Plan. So wird der Fall durch eine Thematisierung in der Boulevardpresse rasch zu einer überregionalen Causa.
Das Ack-Emma genannte Revolverblatt setzt den Fall mit einer Inszenierung des jugendlichen Opfers auf die Titelseite – was für eine erhebliche Beschleunigung und Dynamisierung des Geschehens rund um die Sharpes sorgt. Leserbriefe werden geschrieben, sensationslüsterne Scharen von Besuchern wollen das „Franchise“ sehen, wo sich das Verbrechen mutmaßlich zugetragen hat – und je mehr der Boulevard spekuliert, umso aufgeheizter wird die Stimmung. Dabei sind die Steine, die gegen die Fensterscheiben der Sharpes fliegen, nur der Anfang….
Viel Wirbel in der Kleinstadt
Nur der Mond war Zeuge erzählt von den Kreisen, die eine Anschuldigung ziehen kann. So ist der Anruf, der Blair aus seiner Ruhe reißt, nur ein kleiner Dominostein in einer Kette immer dramatischer werdenden Ereignisse. Vor der Kulisse des kleinen Dorfs zeigt Tey, wie sich die Stimmung durch die skandalisierende Berichterstattung immer weiter aufheizt und wie die eh schon nicht so gut gelittenen Sharpes durch die Anschuldigungen zu Parias werden.
Josephine Tey erzählt mit einem genauen Gespür für die psychologischen und sozialen Mechanismen des Dorfs Milford. Während sich Robert Blair nach dem anfänglichen Hadern mit der Situation immer mehr im Fall verbeißt und selbst vom Anwalt zum Detektiv mutiert, wachsen auch die Zweifel an den unterschiedlichen Versionen der Geschichte. Wie kann es dem Mädchen möglich sein, die Beschaffenheit der Böden und die Anordnung des Dachfensters in der Kammer beschreiben, wenn es nie in dem Zimmer anwesend war? Immer stärker werden die Indizien, die Mutter und Tochter Sharpe und damit auch Robert Blair in die Bredouille nehmen.
Hellsichtig und gut beobachtet
Dabei ist dieser Roman eine genaue Studie des Dorfs, wie er auch die Dynamiken der öffentlichen Meinung in den Blick nimmt. Zwar mag man manche Meinung oder Äußerung eines Dorfbewohners und Polizisten heute mit Verwunderung zu Kenntnis nehmen (generell haben sich doch viele Ansichten deutlich überlebt) und nicht alles im Roman ist plausibel und sauber motiviert. Im Kern aber ist Nur der Mond war Zeuge aber ein sehr hellsichtiges und gut beobachtetes Buch, das auch nach über 75 Jahren immer noch wirklich lesenswert ist.
Nicht nur als ruhiger Kleinstadtkrimi, sondern vor allem als Beobachtung dieser beschriebenen Dynamiken funktioniert Nur der Mond war Zeuge ausgezeichnet, auch wenn man über manche Unplausibilitäten gnädig hinwegsehen sollte.
Schön, dass mit diesem Buch die schottische Autorin wieder neu entdeckt werden kann – ihr Werk ist es wert, Josephine Tey auch heute wieder oder erst recht zu lesen, auch wenn man den in der neuen Version titelgebenden Mond hier wirklich suchen muss. Mit einer passenderen Übertragung des Originaltitels „The Franchise Affair“ als der eher generisch wirkenden Titelwahl hätte man den Kern des Buchs besser getroffen – aber sei’s drum!
- Josephine Tey – Nur der Mond war Zeuge
- Aus dem Englischen von Manfred Allié
- Mit einem Vorwort von Louise Penny
- Produktnummer 173832 (Büchergilde Gutenberg)
- 432 Seiten. Preis: 22,00 €