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Gabriela Garcia – Von Frauen und Salz

Kuba, Miami und Mexiko sind die Schauplätze von Gabriela Garcias Roman Von Frauen und Salz. Aber vielmehr als die einzelnen Schauplätze ist es das Dazwischen, das die junge Autorin interessiert und von dem sie eindrucksvoll zu erzählen weiß, indem sie ganz unterschiedliche Figuren im Laufe der anachronologisch erzählten Geschichte in ihrer ganzen Zerrissenheit und Sehnsucht nach dem Unerreichbaren schildert.


Im Kern ist Von Frauen und Salz eine feministische Familiensaga, wie es sie insbesondere seit Isabel Allendes Das Geisterhaus dutzendfach auf dem Markt gibt. Frauen aus verschiedenen Generationen stehen im Mittelpunkt solcher Romane und werden bei ihren Kämpfen für weibliche Selbstbestimmung und gegen herrschendes Unrecht und Gewalt inszeniert. Intergenerationalen Traumata und Widerstände, gegen die sie sich die Frauen erwehren müssen, sind dabei stets Thema und werden in solchen Sagas mal gelungener und mal weniger gelungen herausgearbeitet.

Das ist bei Gabriela Garcia nicht anders, wobei ihr Debüt in die Kategorie der gelungenen Bearbeitungen fällt, um dieses Urteil gleich vorwegzunehmen.

Ihr Roman setzt mit einem kurzen Kapitel ein, das Carmen im Jahr 201 in Miami zeigt. Nach wenigen Seiten springt Garcia dann eineinhalb Jahrhunderte zurück in der Zeit, nämlich ins Jahr 1866. Dort lernen wir María Isabel kennen, die als Tabakrollerin ihr Auskommen auf der Insel Kuba bestreitet.

Sie lebt in Camagüey und behauptet sich als einzige Tabakrollerin unter einer ganzen Menge Männern. Während die spanischen Besatzungstruppen den revolutionären Umtrieben der Kubaner*innen ein Ende setzen wollen, erwartet María Isabel ein Kind, das sie mit einem jener kubanischen Revolutionäre gezeugt hat.

Von dieser Episode geht es wieder zurück nach Miami ins Jahr 2014, wo nun Jeanette im Mittelpunkt steht. Sie lebt in prekären Verhältnissen und beobachtet die Razzia der Einwanderungsbehörde bei ihrer Nachbarin. Diese wird von den Behörden festgenommen und weggebracht. An ihr Kind hat allerdings niemand gedacht. Und so nimmt Jeanette das Kind unter ihre Fittiche, um es wenig später dann doch den Einwanderungsbehörden zu melden und zu übergeben.

Eine anachronologische Familiensaga

Gabriela Garcia - Von Frauen und Salz (Cover)

Das sind die ersten drei kurzen Episoden in diesem Roman, die zeigen, dass Gabriela Garcia aus der klassischen Form der weiblichen Familiensaga hier etwas Eigenes macht. Denn statt auf einen linear erzählten Erzählfluss setzt sie lieber auf das Erzählen in Schlaglichtern, die mit der Chronologie brechen. Schlaglichter, die erst im Zusammenhang mit dem ganzen Buch eine logische Abfolge ergeben und die Beziehung der Frauen untereinander herausarbeiten.

Dabei sind die Hauptschauplätze von Von Frauen und Salz die Insel Kuba und Miami sowie das mexikanische Grenzland. An diesen Schauplätzen leben Garcias Frauen, denen aber immer ein permanentes Gefühl des Dazwischen und der Zerrissenheit eingeschrieben ist.

So sehnt sich die in Miami aufgewachsene Enkelin nach dem Kuba ihrer Großmutter oder die Tochter einer Migrantin aus El Salvador nach Amerika, wo sie aufgewachsen ist. Dessentwegen begbit sie sich in die Hände von Schleusern, um mit diesen über den Grenzfluss wieder nach Amerika zu gelangen und so die Sehnsucht nach einem besseren oder zumindest anderen Leben zu stillen.

Erzählen durch Schlaglichter

Fortführen lässt sich dieses Motiv der Zerrissenheit und Dissoziation über das geographische und psychische Spannungsfeld der Figuren hinein bis in die Umbrüche der Geschichte selbst. Dabei bildet die wechselvolle kubanische Geschichte den Schwerpunkt von Gabriela Garcias Erzählung.

Wie die spanischen Kolonialherren in den 1860 Jahren mit blutiger Macht regieren und trotzdem nicht vor den revolutionären Umbrüchen gefeit sind, das beschreibt sie ebenso wie die alte Ordnung unter dem kubanischen Präsidenten Fulgencio Batista, die knapp hundert Jahre später durch die Revolutionäre um Fidel Castro abgelöst wurde.

Auch hier setzt Garcia wie in der gesamten Komposition ihres Buch nicht auf umfassende Darstellung der Hintergründe der jeweiligen Umschwünge, sondern verdichtet diese Momente der Zeitgeschichte auf Schlaglichter, die ihr zur Schilderung der wechselvollen Geschichte genügen.

Fünf Frauen, 150 Jahre Geschichte

Dabei ist das Schöne an Von Frauen und Salz, dass dieses erzählerische Gesamtkonzept bei aller Knappheit aufgeht. Fünf Frauenschicksale und 150 Jahre amerikanisch-kubanischer Geschichte auf gerade einmal etwas mehr als 300 Seiten, das ist eigentlich deutlich zu knapp bemessen. Dass es trotzdem funktioniert, ist der klugen Auswahl entscheidender Kipppunkte im Leben der Frauen und der Geschichte insbesondere in Bezug auf Kuba zu verdanken.

Zwar hätte die ein oder anderen Figur noch etwas mehr Profil vertragen, auch geht es manchmal doch etwas arg schnell mit den anachronologischen Sprüngen, aber doch entwickelt Garcias Geschichte Drive und eine große emotionale Wucht, wenn die Frauen mit ihren Entbehrungen und Leidensgeschichten von gewalttätigen Ehemännern bis zur Drogensucht gezeigt werden. Auch vermittelt die junge Autorin in Von Frauen und Salz gelungen, welche Bedeutung Literatur in ganz unterschiedlicher Ausprägung für Menschen haben kann. So ist es hier Victor Hugos Roman Die Elenden bzw. Les Misérables, der über Generationen weitergereicht wird und der immer wieder Hoffnung und Sinn spenden kann.

Fazit

So ist Von Frauen und Salz ein geradezu prototypischer feministischer Generationenroman, der vom Kampf gegen die Unterdrückung und das Patriarchat durch die Jahrzehnte hinweg erzählt. Durch die anachronologische Erzählweise und die Verdichtung des Materials auf entscheidende Kipppunkte hin bekommt die Prosa von Gabriela Garcia eine eigene Note und stellt die weibliche Widerstandskraft in den Mittelpunkt ihres Erzählens. Prosa mit feministischem und zeitgeschichtlichem Schlag, wie sie gerade im Trend liegt. Prosa, die aber auch unabhängig von aktuellen Moden durch die Themen und Erzählweise überzeugt.


  • Gabriela Garcia – Von Frauen und Salz
  • Aus dem Englischen von Anette Grube
  • ISBN 978-3-546-10011-3 (Claassen)
  • 304 Seiten. Preis: 22,00 €

Maggie Shipstead – Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit

Solch ein grandioser Titel – und der Inhalt stimmt auch. Maggie Shipstead in Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit über drei Tage Ausnahmezustand im Vorfeld einer Hochzeit – und den unbedingten Wunsch, in den feinen Kreisen dazugehören zu wollen. Eine feine Sezierung der amerikanischen Oberschichtswelt – und das Porträt eines Mannes mit Fehl und Tadel.


Alles ist bereit auf Waskeke Island, einer Insel vor der Küste Maines. In drei Tagen soll die Hochzeit von Daphne Van Meter stattfinden, der Tochter von Winn Van Meter. Deshalb setzt der Familienpatriach auf die Insel über, um seinen Frauen das benötigte Brautkleid und Unterstützung zu liefern.

Vor Ort gleicht das Treiben im Anwesen der Familie auf der Insel einem Bienenstock. Die Brautjungfern müssen zu Kostüm- und Figurproben, die Hochzeitsplanerin will letzte Details durchgehen, die Familie des Bräutigams hat sich angekündigt und dann sind dann da auch noch die Erinnerungen an eine Begegnung mit einer der Brautjungfern, die so gar nicht schicklich und gesittet ablief, wie es sonst die Art von Winn ist.

Ein Leben wie aus dem Upperclass-Bilderbuch

Maggie Shipstead - Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (Cover)

Denn eigentlich lebt Winn ja ein Upperclass-Leben wie im Bilderbuch. Der Nachlass seiner Väter hat ihm finanzielle Unabhängigkeit beschert, mit seiner Frau hat er zwei Töchter (wenngleich ihm Jungen erheblich mehr bedeutet hätten) und Mitglied in den richtigen Clubs und Verbindungen ist er auch noch. Wenn da nur nicht die erstrebte Mitgliedschaft im Golfclub Pequod wäre, die ihm bislang verwehrt blieb und für ihn die Erfüllung seiner Träume bedeuten würde.

Ob diese ausbleibende Einladung in den Golfclub mit alten Rivalitäten zu tun haben könnte, darüber wird er das ganze Buch über nachgrübeln, besonders da seine jüngere Tochter eine Liasion an die Familie eines alten Intimus und Intimfeind band.

Das alles dröselt Maggie Shipstead Stück für Stück auf und verquickt die turbulente Gegenwart der drei Hochzeitstage gekonnt mit der Vergangenheit Winns und dessen Lebensweg, der ihn bis nach Waskeke führte.

Ein Familienpatriach mit Fehl und Tadel

Dabei zeichnet sie das Bild eines Mannes, der sich in der Rolle des Familienpatriarchen gefällt, dessen Leben aber doch mehr Fehl und Tadel bereithält, als die Fassade den Anschein macht. Denn neben seinem Traumhaus, der materiellen Sorglosigkeit und seinem Dasein als Hobbykoch, der für ein Dinner mit der Schwiegerfamilie schon einmal zwanzig respektive 19 Hummer in den Topf wirft, gibt es noch andere, deutlich weniger hell glänzende Punkte in seiner Vergangenheit.

Das seziert Magie Shipstead gekonnt und zeichnet leichtfüßig und mit viel Humor das Treiben auf Waskeke, das mich persönlich an zwei filmische Referenzen erinnerte. Da wäre das chaotische und familiäre Treiben rund um die Hochzeit auf einer Insel, das an das Abba-Musical Mamma Mia erinnert. Ebenso trägt das Geschehen von Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit aber auch Züge des Weihnachtsfilm-Klassikers National Lampoon’s Christmas Vacation beziehungsweise Schöne Bescherung, wie der Film mit Chevy Chase in der deutschen Fassung hieß.

Auch hier gerät die Welt eines Familienvaters gehörig ins Wanken, als in dessen Haus neben der eigenen Familie auch noch die Schwiegerfamilie einfällt uns sich die Ereignisse überstürzen. Alles kommt anders als geplant und am Ende entpuppen sich im Strudel der Ereignisse grundfeste Gewissheiten als durchaus trügerisch, eben Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit.

Fazit

Die komischen Züge dieses filmischen Geschehens trägt auch die Geschichte von Maggie Shipstead ein Stück weit und schafft damit ein leichtes, aber keineswegs belangloses Buch, das gekonnt vom Treiben der Oberschicht an der amerikanischen Ostküste erzählt. Es ist auch das Bild eines Mannes, dessen Leben leicht in Turbulenzen gerät, als sich Gewissheiten verschieben und der Strömungsgeschwindkeit, die ihn bislang durchs Leben trug, nun doch mit Abriss droht. Das ist verngüglich, nah an den Figuren und von daher mehr als ein gelungener Sommerschmöker. Jetzt in der Neuauflage auch nicht zuletzt endlich mit einem annehmbareren Bild als jenem, das die Erstausgabe aus dem Jahr 2012 zierte.


  • Maggie Shipstead – Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit
  • Aus dem Englischen von Karen Nölle
  • ISBN 978-3-423-14837-5 (dtv)
  • 440 Seiten. Preis: 13,00 €

Naomi Krupitsky – Die Familie

Wenn Elena Ferrante auf Dennis Lehane trifft. In ihrem Debüt Die Familie erzählt Naomi Krupitsky von zwei Frauen, die im Umfeld der Mafia von New York aufwachsen und vor schwierigen Entscheidungen stehen. Lektüre, die leider nicht so wirklich mitreißt und die das Gefühl zurücklässt, dass man aus dem Plot deutlich mehr hätte herausholen können.


Hat man das Typografie-Gewitter mit sage und schreibe fünf unterschiedlichen Schriftarten auf dem Cover überstanden, so findet man sich zu Beginn des Buchs wieder auf den Docks von New York im Jahr 1948. Dort wird ein Schuss abgefeuert. Wer geschossen hat, wer getroffen wurde und wie es zu der Tat kam, das wird sich erst spät im Buch auflösen.

Bis es soweit ist, startet Naomi Krupitsky ihre chronologisch sortierte Erzählung im Jahr 1928, in dem sie die Lebensgeschichte der Freundinnen Sofia und Antonia schildert, die im Red Hook Viertel von Brooklyn aufwachsen:

Sofia und Antonia

Sofia Colicchio ist ein wildes Wesen mit dunklen Augen. Sie läuft schnell und spricht laut und ist die beste Freundin von Antonia Russo, die nebenan wohnt.

Die beiden leben in Brooklyn, in einem Viertel, das Red Hook heißt und an das Viertel grenzt, aus dem Carroll Gardens und Cobble Hill werden wird. Red Hook ist neuer als Lower Manhattan, aber älter als Canarsie und Harlem, diesen gefährlichen Außenposten, wo fast alles erlaubt ist. Viele der Gebäude sind niedrige Holzschuppen nah am Fluss, aber weiter vom Wasser entfernt, in Richtung der immer noch niedrigen, aber beständigeren Stadthäuser, wachsen die Dächer höher. Und alles ist dunkelgrau vom Wind und Regen und vom Ruß in der Luft.

Naomi Krupitsky – Die Familie, S. 11

Noch in der Kindheit muss Antonia den Verlust ihres Vaters verkraften, da dieser seinen Arbeitgeber, den Mafiaboss Tommy Fianzo, um Einnahmen geprellt hat. Sofias Vater hingegen bewährt sich in der Mafiahierachie und sorgt mit kriminellen und gewalttätigen Geschäften für das Auskommen der Familie.

Diffus nehmen die beiden Mädchen schon in der Kindheit wahr, was um sie herum passiert. Je älter sie werden, umso klarer steht ihnen der Charakter der „Familie“ vor Augen, deren Teil auch sie sind.

Beide werden sich verlieben, heiraten und Kinder bekommen – ehe sie sich vor Entscheidungen gestellt sehen, die schon ihre Eltern treffen mussten und die schon einmal tödliche Konsequenzen hatten.

Dem Kreislauf der Familie entgeht man nicht

Naomi Krupitsky - Die Familie (Cover)

Die Familie ist ein Doppelporträt zweier Freundinnen, die in einem tödlichen Umfeld aufwachsen, das ihre Eltern trotzdem so gut es geht vor ihnen fernhalten, ehe man die Gewalt nicht mehr fernhalten kann und diese in den Familienalltag einsickert.

Über die Kindheit und die Jugendzeit bis hinein ins Erwachsenenalter zeigt Krupitsky das Aufwachsen der beiden Frauen – und wie schwer es ist, sie von der Familie zu lösen, in die sich beide auf unterschiedliche Art und Weise wieder einfügen.

So heiratet Sofia einen jüdischen Adlatus, Antonia hingegen ehelicht einen italienischstämmigen Mann. Beide finden auf unterschiedliche Art und Weise in ihre Rollen als Ehefrauen und Mütter hinein – und doch werden die intergenerationalen Traumata und Schrecken auch in der nächsten Generation wieder mal indirekt und mal auch ganz direkt auftreten. Dem Kreislauf der Familie entgeht man eben leider nicht ganz so. Das ist von der Erzählabsicht her ganz gut gemacht und handwerklich lässt sich Naomi Krupitsky nichts vorwefen.

Fast mustergültig beginnt das Buch mit der Spannung eines Schusses, ehe die Situation aufgelöst wird, der Fokus auf die beiden Freundinnen ist stets da – und doch bleibt der Eindruck, dass das Buch über die offensichtlichen Schau- und Erzählwerte hinaus nicht wirklich viel zu bieten hat.

Wo bleibt der USP?

Die Handlung kennt man aus dutzenden Mafiafilmen und Romanen, von Mario Puzo bis hin zu Dennis Lehane, die Beziehung zweier italienischstämmiger Freundinnen und das Aufwachsen inklusive aller Widerstände und Entwicklungen hat Elena Ferrante in ihrem Neapolitanischen Quartett deutlich nuancierter und tiefgreifender erfasst. Das Versprechen eines feministischen Blicks auf die amerikanische Mafiawelt in der ersten Hälfte 20. Jahrhundert, das ich mir nach Aufmachung und Klappentext erhoffte, es blieb leider uneingelöst.

Und so bleibt für mich die Frage, ob es die Lektüre des Buchs braucht, wenn doch andere Bücher in unterschiedlichen Belangen gezeigt haben, dass auch tieferschürfendes Erzählen und Ausleuchten möglich ist, verbunden mit mehr Spannung und Ausdeutung der Figuren. Einen USP, einen Unique Selling Point, also ein Alleinstellungsmerkmal konnte ich zumindest in Krupitskys Debüt nicht ausmachen.

Fazit

Gewiss, Die Familie ist gut gemacht und gut erzählt. Aber gerade im Vergleich zu anderen Titeln fällt es dann eben doch auf, dass Krupitsky etwas an der Oberfläche bleibt und nicht wirklich tiefer in die Strukturen der Familie und der Verfassung ihrer Heldinnen einsteigt. Da helfen nicht einmal die fünf unterschiedlichen Schriftarten auf dem Buchcover.


  • Naomi Krupitsky – Die Familie
  • Aus dem Englischen von Ursula Wulfenkamp
  • ISBN 978-3-423-29025-8 (dtv)
  • 400 Seiten. Preis: 22,00 €

Hernan Diaz – Treue

Es gibt Buchtitel, die in ihrer deutschen Übersetzung stärker werden. Erschütterung von Percival Everett wäre so ein Fall, ist der Titel doch deutlich vielgestaltiger lesbar als das schlichte Telephone im Original. Und es gibt Titel, die auf dem Weg ins Deutsche an Nuancenreichtum verlieren. Zu letzter Kategorie zählt leider Hernan Diaz Roman Treue, der im Original den doppeldeutigen Titel Trust trägt und damit natürlich auf das Vertrauen und die Ehrlichkeit anspielt. Ebenso bringt das Wort aber auch einen ökonomischen Aspekt ins Spiel, ließe sich doch Trust auch als Treuhand oder Treuhandverwaltung übersetzen.

Auch wenn in der beim Hanser-Verlag erschienen Ausgabe ein Geldbündel auf dem Cover prangt, so lässt sich das Wortspiel doch nicht adäquat auffangen und geht auf dem Übersetzungsweg einmal quer über den Atlantik verloren. Das ist bedauerlich, denn neben der Treue und dem zwischenmenschlichen Miteinander hat Hernan Diaz vor allem einen Ökonomie-Roman in vier Teilen geschrieben, der sowohl Ökonomie im Erzählen als auch Ökonomie im Sinne von wirtschaftlichem Aufstieg beleuchtet und der dabei raffiniert gebaut ist.


Alles beginnt ganz klassisch, wie ein Roman ebenso beginnt. Wir lernen die Lebensgeschichte des Benjamin Rask kennen, die mit folgenden Worten anhebt:

Da er von Geburt an annähernd jeden erdenklichen Vorteil genossen hatte, blieb Benjamin Rask als eines von wenigen das Privileg eines heldenhaften Aufstieges versagt: Seine Geschichte war keine zäher Hartnäckigkeit, keine Chronik eines unbezwinglichen Willens, der sich aus wenig mehr als altem Blech ein goldenes Schicksal schmiedeten.

Hernan Diaz – Treue. S. 15

Ein bisschen was ist allerdings wirklich anders an dieser Geschichte. Denn diese Aufstiegserzählung, die in Anlehnung an die Erzähltradition des Realismus die Entwicklung von Benjamin Rask hin zu einem der reichsten Männer der Welt schildert, sie ist keine Erzählung des Autors Hernan Diaz. Es ist vielmehr ein Autor namens Harold Vanner, der hier zwischengeschaltet ist und der uns diese Geschichte vom Aufstieg Rasks, dem Siegeszug des kapitalistischen Denkens und von einem großen Verlust erzählt.

Ökonomischer Aufstieg und Verlust

Hernan Diaz - Treue (Cover)

Diesem Roman folgt ein zweiter Teil, der erstaunliche Berührungspunkte mit dem zuvor Gelesenen aufweist. Hier ist es allerdings kein Autor, der eine Geschichte schreibt, vielmehr handelt es sich um die Memoiren von Andrew Bevel, der „Mein Leben“ schildert. Diese Memoiren sind aber eher Manuskript denn fertige Erinnerungen. Immer wieder finden sich Lücken und Anmerkungen im Text, der den Aufstieg Bevels nachzeichnet. Inhaltlich kreisen die Memoiren um seinen Aufstieg, bei dem er sich virtuos an der Börse von Million zu Million spekuliert hat.

Die rätselhafte Kongruenz zwischen Roman und Autobiographie erklärt dann der dritte Teil des Romans, in dem wir Ida Partenza kennenlernen, die im New York der 20er Jahre eigentlich als Sekretärin arbeitet. Während Wolkenkratzer in den Himmel schießen, greifen anti-italienische Ressentiments um sich (ähnlich wie bei Eduardo Lago spielt auch hier der Prozess gegen Sacco und Vanzetti eine Rolle).

Die Kommunisten führen Kämpfe gegen den zügellosen Kapitalismus – und inmitten dieser Konflikte findet sich Ida wieder, die als Tochter eines italienischen Anarchisten ausgerechnet bei jenem aus dem zweiten Teil bekannten Milliardär Andrew Bevel Anstellungen findet. Für ihn soll sie dessen Memoiren in Form bringen und aufschreiben. Dieses Vorhaben ist allerdings ein besonderes, denn Bevel will in den Memoiren auch das Leben seiner Frau ins Licht der Öffentlichkeit bringen, deren Ruf er mit dem Projekt aufzupolieren verhofft.

Bei ihrer Arbeit kommt Ida so mit der Lebensgeschichte von Bevels Frau in Berührung, deren Aufzeichnungen den vierten und letzten Teil des Buchs bilden und die damit gewissermaßen die Klammer um die drei vorgehenden Teile formt.

Ein Roman in vier Teilen mit verbindendem Kern

Alle Teile verbindet, dass sie im Kern die Lebensgeschichte von Andrew Bevel, dessen Aufstieg durch Spekulationsgeschäfte und die Verbindung zu seiner Frau Mildred erzählen. Ob in fiktionalisierter Form oder durch Erinnerungen – stets wird titelgemäß die Treue und Ehrlichkeit der beiden verhandelt. Dabei erzählt Hernan Diaz mit einem Binnenblick auf das Miteinander, lässt beide Partner ihre jeweiligen Perspektiven schildern. Daneben ist die Treue und Ehrlichkeit aber auch eine Frage der Öffentlichkeit und des Blicks von außen. Denn notgedrungen muss sich das Paar auch in der Öffentlichkeit zeigen, besonders nachdem die gewinnbringende Ausschlachtung von Börsencrashs durch Bevel zu Gerede führt.

Während sich der Kapitalist aus der Öffentlichkeit zurückzieht, unleidlich nur das notwendigste Pflichtprogramm in Sachen sozialer Repräsentation erfüllt, findet seine Gattin in der Philantropie Erfüllung, die sie immer ausgeprägter verfolgt. Doch stimmt das wirklich? Ist diesen Schilderungen zu trauen, besonders wenn sie von einem Mann kommen, für den die eigene Perspektive gleichbedeutend mit der Wahrheit ist, die er seiner Biografin in den Block diktieren will?

Hier verhandelt Hernan Diaz auch den Trust, als Vertrauen mit der Darstellungen des eigenen Ich, wenn für Bevel nur das eigene Erleben die Richtschnur für richtiges Erinnern darstellt.

Wer hat nun recht mit seinem Blick auf das Geschehene oder welche Perspektive ist die Richtige? Die des kapitalistischen Wunderkinds und Börsengurus, die seiner Frau, die der Biografin oder gar die des spekulativen Romanautors? Oder liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen, zwischen ihm und ihr, zwischen Fakten und Fiktion? Diese Überlegungen machen aus Treue eine nachdenkenswerte Lektüre, die durch die raffinierte Montage der vier Teile Raum für eigene Bewertungen eröffnet.

Aber es ist nicht nur eine Geschichte der unterschiedlichen Blickwinkel, die ihr Blick auf Kapitalismus und Ökonomie eint. Es ist auch ein Roman, der die Erzählökonomie eindrucksvoll in den Mittelpunkt stellt.

Erzählökonomie par excellence

Denn wie oben schon beschrieben weist Hernan Diaz‘ Buch ja vier Teile mit völlig unterschiedlichen Geschichten in unterschiedlichen Stilen auf. Betrachtet man dazu die Länge von 411 Seiten, bleiben ja gerade einmal durchschnittlich gut einhundert Seiten für jede der Geschichte. Folglich muss natürlich die Frage gestellt werden, ob es Diaz gelingt, trotz dieser Länge überzeugende Episoden zu kreieren, die in der Kürze funktionieren.

Hier muss ich konstatieren: ja, in meinen Augen geht das Erzählkonzept auf und Diaz gelingt es, auch nur mit hundert Seiten gute Geschichten zu erzählen, die sich sinnreich untereinander verbinden. Im ersten Teil sind es 120 Seiten, die er braucht, um einen Entwicklungsroman in Erzähltradition des Realismus zu erzählen. Wo die (im Buch auch als Verweis auftauchenden) Klassiker, etwa von Henry James hunderte von Seiten für eine Erzählung von Aufstieg und Niedergang benötigen, schafft es Hernan Diaz hier auch mit guten 120 Seiten, eine ähnlich anmutende Erzählung zu kreieren, die sich trotzdem Zeit nimmt und bei der man nicht das Gefühl von zu sparsamen Erzählen bekommt.

Und auch die anderen Geschichten konzentrieren sich auf das Entscheidende, legen den jeweiligen Episodenkern offen, ohne dabei aufgebläht oder viel zu skizziert zu wirken (außer an Stellen wie Andrew Bevels Memoirenmanuskript, wo dies natürlich erwünscht ist). Eben Erzählökonomie par excellence.

Fazit

Das Ganze ist größer als die Summe aller Teile. Diese Binsenweisheit erfüllt sich bei Treue von Hernan Diaz einmal mehr. Obschon vielleicht der erste Blick ins Inhaltsverzeichnis einen Eindruck von disparat Geschichten oder einer Kurzgeschichtensammlung entstehen lassen könnte, ergibt sich über jede einzelne Episode hinweg ein Bild von zügellosem Kapitalismus, von Dagobert Duck-haftem Streben nach Mehr, aber eben auch von Leid und Verlust.

Gerade im Zusammenwirken der so unterschiedlichen Erzählansätze ergeben sich interessante die Brüche und Leerstellen, die Fragen bezüglich der Ehrlichkeit mit den Lesenden, der Inszenierung des eigenen Ichs und der Verlässlichkeit von geschilderten Lebenswegen aufwerfen. Das macht aus Treue in meinen Augen eine spannende, diskussionswürdige und außergewöhnliche Lektüre, die deutlich mehr anbietet, als nur eine platte Schilderung des Strebens nach ökonomischen Erfolgen zu sein. Dass es Diaz damit auf die Longlist des diesjährigen Booker Prize geschafft hat, erscheint mir nur konsequent.


  • Hernan Diaz – Treue
  • Aus dem Englischen von Hannes Stein
  • ISBN 978-3-446-27375-7 (Hanser)
  • 416 Seiten. Preis: 27,00 €

Amor Towles – Lincoln Highway

Vier Jungen ohne Väter, eine Reise in zehn Tage. Dazwischen ein Bogen aus Geschichten, Schicksalen und antiken Mythen. Mit Lincoln Highway gelingt Amor Towles ein Gegenentwurf zu seinem vorhergehenden Roman Ein Gentleman in Moskau – und ein Buch mit fast klassikerhaften Zügen und dem Zeug zum Bestseller.


„Das ist der Lincoln Highway“, erklärte Billy und fuhr an der schwarzen Linie entlang. „Er ist 1912 erfunden worden und nach Abraham Lincoln benannt, die erste Straße, die Amerika von Osten nach Westen durchquert.“

Billy setzte die Fingerspitze auf den Anfang am Atlantik und fuhr an der Linie entlang.

„Der Lincoln Highway fängt in New York am Times Square an und geht bis zum Lincoln Park, San Francisco, der dreitausenddreihundert Meilen weiter westlich liegt. Und er führt durch Central City, das ist nur zwanzig Meilen von unserem Haus entfernt.“

Amor Towles – Lincoln Highway, S. 32 f.

Saß Graf Rostov, der Held von Amor Towles letzten Roman Ein Gentleman in Moskau im Hotel Metropol fest und verbüßte seine lebenslange Haft in statischer Verdammtheit, so ist in Lincoln Highway nun alles beständig in Bewegung. Es beginnt schon mit einer Autofahrt zu Beginn des Romans, der noch viele weitere Kilometer folgen werden.

Von Nebraska bis San Francisco (eigentlich)

Nach einem unglücklichen Zufall, der zum Tod eines anderen Jungen führte, befand sich Emmet in der Besserungsanstalt Salina, die er nun im Juni des Jahres 1954 als 18-Jähriger verlässt. Auf der elterlichen Farm in Nebraska wartet allerdings nur sein Bruder in Begleitung eines benachbarten Farmers – und ein Banker, der Emmett über die Schulden seines verstorbenen Vaters unterrichtet.

Amor Towles - Lincoln Highway (Cover)

Auf der elterlichen Farm hält Emmett nach seiner Vorgeschichte nicht mehr viel – besonders als sein kleiner, hochintelligenter Bruder Billy zehn Postkarten enthüllt, die ihnen ihre Mutter einst schrieb und die Stationen des Lincoln Highways markieren. Billy vermutet seine Mutter in San Francisco, weswegen die Brüder in zehn Tagen von Nebraska gen Westen reisen wollen. Der Studebaker, den Emmetts Vater seinem Sohn vererbte, steht bereit und so könnte es eigentlich losgehen. Doch statt eines brüderlichen Roadtrips durch die Weiten der USA kommt alles ganz anders.

Denn kurz nach der Ankunft auf der heimischen Farm klopft es an der Tür und es stehen zwei weitere Insassen der Besserungsanstalt von Salina vor Emmetts Haustür. Woolly und der Ich-Erzähler Duchess erweisen Emmett die Ehre, nachdem sie als blinde Passagiere im Kofferraum des Direktorenwagens gereist sind. Sie haben ganz andere Reisepläne als Emmett, denn sie wollen nach New York, um an ein Erbe von Woolly zu gelangen. Und so beginnt eine Reise, die sich völlig unvorhergesehen entwickelt und die immer wieder mannigfaltige Überraschungen und Begegnungen bereithalten soll.

Stets in Bewegung

Ob im Studebaker oder als blinde Passagiere in Zügen, ob vertikal in Aufzügen oder horizontal auf Seen oder Straßen – beständig drängen die Figuren in diesem Roman voran, jagen Idealen, verschollenen Familienmitgliedern oder dem großen Geld hinterher, stets begleitet von antiken Vorbildern, die Billy im Kompendium von Helden, Abenteurern und anderen unerschrockenen Reisenden des Professors Abernathe entdeckt und seinen Reisegefährten nahebringt.

Das erinnert in seiner überstürzenden Hast und der vorwärtsdrängenden Bewegung an Klassiker der Reiseliteratur wie Jules Vernes In achtzig Tagen um die Welt, wenngleich es hier nur zehn Tage sind, die das Handlungsgeschehen bestimmen (und immer wieder als Leitmotiv in verschiedensten Abwandlungen auftauchen, von Hausregeln und Countdowns bis hin zu den Zehn Geboten, die das Personal des Romans immer wieder bricht)

Zwischen all diese Bewegungen und Reisen setzt Amor Towles mitreißende Begegnungen, die von reisenden Hobos und Illusionisten bis zu doppelzüngigen (und reichlich gefährlichen) Predigern reichen, was an einen anderen Klassiker erinnert, nämlich Mark Twains Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Das lässt trotz der Länge von fast 580 Seiten keine Langweile aufkommen, da durch die Struktur eines Countdowns, die Vielfalt der Figuren und den immensen Geschichts- und Schicksalsbogen Abwechslung ebenso wie Dramatik gegeben ist.

Weit mehr als ein schlichter Road Novel

Diese Vielfalt ist es, die Lincoln Highway auch ein Gefühl von Zeitlosigkeit verleiht, wenngleich der Handlungsrahmen des Buchs ja eigentlich mit zehn Tagen im Juni 1954 sehr eng gesteckt ist. Diese Enge weiß Amor Towles aber maximal für sich zu nutzen und erzeugt durch seine Schilderungen von Tramps und Reisenden das Bild eines nostalgischen Amerikas, das aber nie in platten Americana-Kitsch abkippt. Stets ist doch auch das Gefühl des Verlusts, des Platzens von Illusionen und des Schmerzes präsent, der besonders am Ende des Romans zum Vorschein kommt und der das Buch zu weit mehr als einem gewöhnlichen Road-Novel macht.

Auch maximiert er durch diese Vielfalt an Schicksalen das Identifikationspotenzial, das dem Buch innewohnt. Acht ebenso heterogene wie plausibel geschilderte Figuren aus ganz unterschiedlichen Gesellschaftsschichten sind es, denen man in Lincoln Highway begegnen kann und deren Schicksale und Geschichten zur Identifikation einladen. Das macht das Buch maximal anschlussfähig und sollte für viele begeisterte Leserinnen und Leser sorgen, weshalb ich Towles Buch durchaus einen ähnlichen Erfolg zutraue, wie er ihm schon in den USA beschieden war. Dort stand das Buch an der Spitze der Bestsellerlisten und verkaufte sich innerhalb weniger Monate millionenfach.

Zeitdruck bei der Übersetzung?

Schade nur, dass die Übersetzung von Susanne Höbel ins Deutsche mit der Güte von Towles Werk nicht so ganz mithalten kann. An einigen Stellen wirkt es so, als sei nicht allzu viel Zeit für gründliches Arbeiten geblieben. Die Protagonisten begrüßen sich des Öfteren mit einem „Hallo da“, was im Englischen als „Hello there“ gang und gäbe sein mag, im Deutschen allerdings etwas merkwürdig klingt und eher ein „Hallo zusammen“ oder „Hallo miteinander“ wäre.

Auch wirkt es wenig idiomatisch, wenn Emmets Bruder Billy auf Seite 405 Folgendes erklärt: „Im Jahr 49 BC war Cäsar Gouverneur von Gallien“. Before Christ hätte man hier durchaus als „vor Christus“ übersetzen können, statt den englischen Terminus stehen zu lassen. Auch andere Formulierung wirken ab und an etwas befremdlich, sodass sich der Eindruck von Übersetzungshektik in der deutschen Version manifestiert. Das ist schade, da Susanne Höbel ja ansonsten Romane wirklich gelungen ins Deutsche zu übertragen weiß.

Fazit

So bleibt festzuhalten, dass Lincoln Highway das Zeug zum Klassiker hat. Amor Towles bietet darin neben überzeugendem Erzählhandwerk eine Vielzahl an Figuren und Schicksalen auf, die die Leser*innen für sich einnehmen dürften. Er zeigt in der Tradition von Mark Twain Hobos, Dynastiesprößlinge, Farmerkinder und falsche Prediger, die sich alle auf der Suche befinden und denen allesamt Unrast und ein steter Bewegungsdrang zueigen ist. Das macht aus Lincoln Highway ein nimmermüdes Lesevergnügen, bei dem es zu keinem Zeitpunkt zu Stillstand oder gar Langeweile kommt. Es ist ein Road Novel, es ist mehr als ein Road Novel, es ist eines der Bücher, das die Bestsellerlisten erobern dürfte und auch über das kurzlebige Novitätengeschäft hinaus das Zeug zum Longseller hat.


  • Amor Towles – Lincoln Highway
  • Aus dem Englischen von Susanne Höbel
  • ISBN 978-3-446-27400-6 (Hanser)
  • 576 Seiten. Preis: 26,00 €