Tag Archives: Verschwinden

Benjamin Lebert – Mitternachtsweg

Sylter Schauergeschichten

Benjamin Lebert wagt in Mitternachtsweg das Spiel mit mehreren Erzählebenen – und gewinnt. Er entführt den Leser auf den titelgebenden Weg, der in seiner Erzählung eine zentrale Rolle einnimmt. Auf Sylt existiert nämlich eine gefährlicher Tradition – bei Ebbe im Mondlicht beschreiten junge Liebende einen Weg aufs Meer hinaus, um sich gegenseitig ihrer Liebe zu versichern.
Johannes Kielland, ein junger Mann, stößt bei Recherchen auch auf eine Geschichte rund um den Mitternachtsweg. Eine mysteriöse Frau soll diesen mit ihrem Geliebten genommen haben, doch kehrte nur sie vom Mitternachtsweg zurück. Bei seinen Recherchen muss der junge Mann allerdings feststellen, dass diese Legende lebendiger ist, als er es sich hätte vorstellen können.

Stück für Stück wird Kielland (und nicht weniger der Leser) immer mehr in die Geschichte hinein gesogen, wie mancher Liebende von der Strömung aufs Meer hinausgezogen wurde. Man weiß angesichts der verschiedenen Erzählebenen schon bald nicht mehr, was eigentlich Wahrheit ist und was der Phantasie entstammt. Geschickt verbrämt Lebert seine eigentliche Liebesgeschichte mit einer Schauergeschichte in bester hanseatischer Tradition.

So entsteht ein ungewöhnliches Buch, das mich persönlich stark an die Romane Carlos Ruiz Zafons erinnerte. Die Mischung aus Schauern und Liebe geht in Mitternachtsweg exzellent auf und macht dieses Buch zu einer echten Empfehlung in diesem Bücherherbst, wenn die Nächte länger werden und die Herbststürme über den Deich fegen!

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Joel Dicker – Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Grandios doppelbödig

Ein Buch von einem Schriftsteller, der über einen Schriftsteller schreibt, der über einen Schriftsteller schreibt? Klingt kompliziert, ist aber ein großartiger Lesespaß, wie Joel Dicker in Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert beweist.

Sein Roman ist über 700 Seiten ein Krimi, eine Liebesgeschichte, das präzise Porträt einer amerikanischen Kleinstadt, eine Humoreske und noch viel mehr. Mehrfach ausgezeichnet erzählt das Buch über 31 Kapitel erstreckt vom Schriftsteller Marcus Goldmann, der in einen großen Kriminalfall hineingezogen wird.

Goldmanns Mentor, der berühmte Schriftsteller Harry Quebert, gerät unter Mordverdacht, nachdem auf seinem Grundstück die Leiche der vor 33 Jahren verschwundenen Nora Kellergan gefunden wurde. Dieses junge Mädchen aus der amerikanischen Provinzstadt Aurora stand Harry Quebert sehr nahe und erschwerend kommt hinzu, dass sich das Manuskript von Queberts Durchbruchroman bei dem Skelett findet.

Für Goldmann kommen diese Geschehnisse gerade recht, da er unter einer Schreibblockade leidet und von seinem Verleger unter Druck gesetzt wird. Er beschließt kurzerhand auf eigene Faust zu ermitteln und seine Erkenntnisse in Form eines neuen Buches zu veröffentlichen – allerdings ahnt er nicht, welche Lawine er mit seinen Ermittlungen lostritt.

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert ist ein clever komponiertes Buch, das sich bei vielen Genres bedient und das auf hervorragende Weise die Handlung auf mehrere Zeitebenen und Personen verteilt. Obwohl Dicker ein Schweizer ist, liest sich der Roman höchst amerkanisch – und das im besten Sinne!

In Episodenform verknüpft Dicker die Ermittlungen Goldmanns mit den damaligen Geschehnisse und erzeugt einen Lesesog, da man unbedingt wissen will, was mit Nola vor 33 Jahren passiert ist und ob Harry Quebert wirklich unschuldig ist.

Der Roman ist ein doppelbödiges Spiel, da Joel Dicker mit geschickten literarischen Kniffen immer wieder Unsicherheit beim Leser erzeugt, inwieweit er den Figuren und ihren Schilderungen der damaligen Ereignisse trauen kann.

Das Buch ist komplex, ohne kompliziert zu sein und schafft es selbst mit der Danksagung, den Leser noch nachgrübeln zu lassen – oder um es mit den Worten Harry Queberts zu sagen:

„Ein gutes Buch lässt sich nicht allein an seinen letzten Worten bemessen, sondern an der Gesamtwirkung aller vorausgegangenen Worte, Marcus. Ungefähr eine halbe Sekunde nachdem der Leser mit Ihrem Buch fertig ist, nachdem er das letzte Wort gelesen hat, muss er spüren, wie ihn ein starkes Gefühl überkommt. Er muss einen Moment lang an nichts anderes denken als an das, was er gerade gelesen hat, und den Einband mit einem Lächeln, aber auch mit einer Spur von Traurigkeit betrachten, weil ihm alle Figuren fehlen werden. Ein gutes Buch, Marcus, ist ein Buch, bei dem man bedauert, dass man es ausgelesen hat.“

Dicker, Joel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

So erging es mir mit Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert definitiv – eines der starken Bücher dieses Bücherherbstes!

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Joe R. Lansdale – Gluthitze

Der Stich ins Wespennest

Derb, brutal und spannend – das sind die Adjektive, die das Buch Gluthitze von Joe R. Lansdale wohl am besten beschreiben.

Bereits 2010 unter dem Titel Gauklersommer im Golkonda-Verlag erschienen hat sich der Suhrkamp-Verlag die Rechte für das Taschenbuch gesichert und dieses nun unter einem weniger aussagekräftigen Titel publiziert.  

Wie schon bei Kahlschlag, dem ersten von Lansdale im Suhrkamp-Verlag erschienen Roman, stellt sich wieder ein einzelner Protagonist einem ganzen System entgegen, um für Gerechtigkeit und Wahrheit zu kämpfen.

Diese Verbindung kommt nicht von Ungefähr, schließlich ist Cason Statler der Urenkel der in Kahlschlag agierenden Sunset Jones, die schon vor Generation im texanischen Kaff Camp Rapture ein Verbrechen aufdeckte. In Gluthitze ist es nun an Cason, die Familientradition zu wahren und dem Bösen den Kampf anzusagen.

Die Heimkehr des Cason Statler

Cason kehrt aus dem Irak-Krieg zurück und findet bei der örtlichen Dorfgazette eine Anstellung als Kolumnist, wo er schnell seinen Riecher beweist. Statler, früher einmal für den Pulitzer-Preis nominiert, klemmt sich hinter die Geschichte der verschwundenen Caroline, über deren Verbleib sich das Dorf ausschweigt. Schon bald pflastern Gewalt und Leichen den Weg zur Wahrheit, den Cason unbeirrt beschreitet..  

Gluthitze ist ein typischer Lansdale: Wie immer in Texas angesiedelt erzählt der amerikanische Autor von einer bigotten Gesellschaft und skrupellosen Morden, charakterisiert einen gescheiterten Reporter und blickt dennoch zuversichtlich in die Zukunft.

Leider zählt die Geschichte nicht zu den stärksten Romanen, die Lansdale vorgelegt hat. Der Plot ist zumindest in den ersten Teilen reichlich übersichtlich und lässt einiges an Finesse vermissen, ehe er im letzten Drittel noch einmal aufdreht. Auch kann die Sprache und die Zeichnung der Charaktere von Gluthitze nicht immer überzeugen – zu derb und brutal sind manche Passagen und Protagonisten geraten.

Dennoch ist es für mich unerklärlich, warum ein fantasievoller und sprachmächtiger Autor wie Lansdale nach wie vor eher den Krimikennern als der breiten Masse ein Begriff ist. In seinen Werken beweist er – mal stärker, mal eher weniger – wie bunt und aufregend Kriminalliteratur sein kann.

Zwar mag Gluthitze nicht Lansdales Meisterwerk sein, spannend und originell ist das Buch doch zumeist und passt nicht nur vom Titel her hervorragend zum Sommer und sorgt für einige spannenden Stunden in der Hitze!

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Roberto Costantini: Du bist das Böse

Italien mal anders

Wer hat’s geschrieben? Roberto Costantini, 61 Jähriger ehemaliger Unternehmensberater und Ingenieur, hat mit diesem Buch noch einmal einen beruflichen Wechsel gewagt und ist unter die Kriminalschriftsteller gegangen
Worum geht’s? Ein Mordfall, der zur Passion wird. Costantini zeigt in Du bist das Böse die zwei Seiten seines Ermittlers Balistreris. 1982 herrscht in ganz Italien WM-Euphorie, denn die Squadra Azzura spielt fantastisch. Da kommt dem jungen Commissario das Verschwinden einer jungen Angestellten des Vatikans denkbar ungelegen daher. Widerwillig ermittelt er in der sommerlichen Hitze und findet schließlich den Mörder. Nach ungefähr 200 Seiten springt die Handlung dann ins WM-Jahr 2006 und man ist Zeuge, wie sich Balistreri in einen deprimierten alten Ermittler verwandelt hat, der sich durch sein Leben schleppt. Doch schließlich muss er wieder ran, denn es hat den Anschein, als seien wieder junge Frauen in Rom verschwunden.
Warum sollte man es lesen? Vatikan, lebensfroher Ermittler, junge Frauen, die verschwinden? Hat man so ja schon mal alles gelesen, doch nicht so wie Roberto Costantini seinen Roman aufbaut. Seine in zwei Teile zerfallende Erzählung zeigt einen komplexen Kommissar in einem nicht minder komplex aufgebauten Kriminalfall. Da er schon im ersten Band seiner geplanten Trilogie mächtig vorlegt, darf man gespannt sein, was da noch alles kommt.
Was gibt es nicht? Ein simpler Roman mit einem sympathischen Filou als Ermittler. Gerade der zweite Teil des Romans ist deutlich düsterer als der Auftakt und so muss man schon gewaltig aufpassen ob der zahlreichen Charaktere und Namen der verschwundenen Frauen, damit man den Überblick über das große Ganze behält.
Wem gefällt das?: Alle, die Commissario Brunetti satt haben, keine Vatikanthriller mehr lesen wollen und die italienische Kriminalliteratur mal von einer anderen Seite kennen lernen wollen. Du bist das Böse ist alles andere als leichte Lektüre, dafür besticht der Roman durch einen komplexen Plot, bei dem sich Costantini schon anstrengen muss, damit die beiden Nachfolgebücher auch so gut werden!

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