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Anthony Trollope – Weihnachten auf Thompson Hall

Wenn ein Senfwickel das ganze Weihnachtsfest in Gefahr bringen kann. Davon erzählt Anthony Trollope in seiner Geschichte Weihnachten auf Thompson Hall und legt damit seinen Fokus weniger auf das Weihnachtsfest selbst, als vielmehr auf den Anreisestress, der sich manchmal aus unvorhergesehenen Ereignissen entwickeln kann, wie Trollopes nostalgische Erzählung beweist.


Auch wenn es Chris Rea gelungen ist, die weihnachtliche Heimreise in den Schoß der Familie mit seinem Evergreen Driving home for christmas zu romantisieren und zu verklären, so sieht die Realität doch meistens anders aus. Vollgepackte Autos, Staus auf der Autobahn, ausfallende Züge und viel Hektik, die solch eine Anreise begleiten. Bei Mr. und Mrs. Brown in Anthony Trollopes Erzählung Weihnachten auf Thompson Hall ist das nicht anders.

Thompson Hall war ein altes Herrenhaus, ein Backsteingemäuer mit einer Kiesauffahrt, das hinter einem riesigen Eisentor lag. Es hatte schon dort gestanden, als Stratford noch keine Stadt oder auch nur ein Vorort gewesen war, und hieß damals Bow Place. Doch seit dreißig Jahren war es im Besitz der jetzigen Familie und weit und breit unter dem Namen Thompson Hall bekannt – ein gemütliches, geräumiges, altmodisches Haus, vielleicht ein bisschen dunkel und langweilig anzusehen, aber viel gediegener gebaut als die meisten unserer modernen Villen.

Anthony Trollope – Weihnachten auf Thompson Hall, S. 80

Dorthin nach Thompson Hall zieht es vor allem Mrs. Brown in Trollopes Geschichte. Sie entstammt der Familie, in deren Besitz das Anwesen ist – und nun, nach Jahren der Abwesenheit, möchte sie dort zusammen mit ihrem Mann wieder einmal das Weihnachtsfest im Schoß der Familie begehen.

Der eingebildete (?) Kranke

Anthony Trollope - Weihnachten auf Thompson Hall (Cover)

Ihr Mann, seit der Hochzeit mit Mrs. Brown aller materiellen Sorgen und der Erwerbstätigkeit enthoben, hat darauf allerdings so gar keine Lust. Bislang verbrachte er als Anhängsel seiner Frau die Winter immer in Südfrankreich, womit er sich sehr gut arrangiert hat. Doch nun soll es wieder Weihnachten auf Thompson Hall sein, und so tritt man in einem Winter des Jahres 187 an (über genauere zeitliche Angaben schweigt sich Trollope aus, genauso wie sein Erzähler für das begüterte Ehepaar nur ein Alias wählt, um von den Begebenheit zu berichten).

Mrs. Brown vorfreudig eilend, ihr Mann eher resignativ bis widerwillig, so geht es gen England. Doch dann kommt es noch weit vor der Überquerung des Ärmelkanals zu einem Zwischenfall im am Boulevard des Italiens gelegenen Grand Hotel. Denn Mr. Brown entwickelt plötzlich ein besorgniserregenden Kratzen im Hals, das ihm eine Weiterfahrt verunmöglicht.

Mrs. Brown beschließt daraufhin, diesem etwas an eine Frühform von Corona erinnernden Krankheitsbild (welches Mr. Brown verdächtig gelegen kommt) mit einem alten Hausrezept zu begegnen. Sie beschließt, den schmerzenden Hals mit einem Senfwickel zu kurieren, den sie auf den Hals ihres zu applizieren beschließt. Doch infolgedessen kommt es zu nächtlichen Unbill im Hotel, als sich die Suche nach einem Senftopf zu weitreichenden Verwicklungen und hochnotpeinlichen Begebenheiten führt, bei der es Mrs. Brown zunehmend schwerfällt, die Contenance zu wahren.

Nostalgisch und altmodisch

Beschreibt Anthony Trollope das Anwesen auf Thompson Hall als altmodisch, so gilt das auch für seine Erzählung, was ich allerdings auf positive Art und Weise verstanden wissen möchte. Denn Weihnachten auf Thompson Hall ist eine Erzählung, die erstmalig 1876 im britischen illustrierten Wochenmagazin The Graphic abgedruckt wurde. Dementsprechend atmet diese Erzählung den Geist, den Serien wie etwa Downton Abbey dieser Tage noch einmal zu reaktivieren versuchen.

Man artikuliert sich vornehm (was in Wahrheit ein ums andere Mal eher umständlich ist), die Krisis von Mrs. Brown ob des nächtlichen Malheurs rund um den Senfwickel und die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Heimreise nach Thompson Hall werden ausführlich geschildert – und durchaus mit Ironie für den möglicherweise eingebildeten Kranken und das Chaos im Grand Hotel, das mit den heute geläufigen Schlüsselkarten so nicht passiert wäre.

In dieser schönen Ausgabe der Insel-Bücherei wird die von Andrea Ott ins Deutsche übertragene Erzählung um Illustrationen von Irmela Schautz ergänzt, die den etwas steifen Geist des Personals gekonnt in Bilder überführt.

Fazit

Wer sich nun eine nostalgische Erzählung von weihnachtlichen Tafeleien in einem englischen Herrenhaus nach alter Väter Sitte erwartet, der wird hier enttäuscht werden, obgleich das Cover diesen Verdachte nahelegt. Denn das Geschehen auf Thompson Hall ist eher das Ziel, auf das zumindest eine Hälfte des Personals beständig entgegen aller Widerstände hinarbeitet. Vielmehr ist Anthony Trollopes Erzählung eine, die von Irrungen und Wirrungen im Zuge der Weihnachtsreise erzählt, deren hauptsächlicher Schauplatz gar nicht in England, sondern in einem französischen Hotel liegt.

Weihnachten auf Thompson Hall hat Charme, setzt dem Senfwickel ein eindrückliches Denkmal und ist ein vorzügliches Geschenk, das zu Ablenkung bei akut auftretenden Reisestress oder für eine vergnügliche Lektürestunde unter dem Weihnachtsbaum angeraten sei.


  • Anthony Trollope – Weihnachten auf Thompson Hall
  • Aus dem Englischen von Andrea Ott
  • ISBN 978-3-458-19492-7 (Suhrkamp)
  • 96 Seiten. Preis: 14,00 €
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Gladys Mitchell – Geheimnis am Weihnachtsabend

Weihnachten, Zeit der Traditionen. Egal ob Drei Nüsse für Aschenbrödel, Christmette oder andere liebgewonnene Rituale – einmal im Jahr kehrt pflegt man liebgewonnene Bräuche, seien sie mal besinnlicher oder mal eher blutig-brutal (Stichwort Stirb langsam).

Für jenen Graubereich zwischen den obigen Polen bietet der Klett-Cotta-Verlag seit einigen Jahren das Ritual eines Weihnachtskrimis der Marke Cozy Crime an.

Jedes Jahr im Herbst veröffentlich das Stuttgarter Verlagshaus einen klassischen Krimi britischer Provenienz, dessen Handlung sich um das Weihnachtsfest entspinnt und bei dem es zwar oftmals zu Mord und Totschlag kommt. Grausam ist das Ganze allerdings kaum, vielmehr laden diese Krimis aus dem Goldenen Zeitalter des Kriminalromans zum Miträtseln ein, haben zumeist Herrenhäuser zum Schauplatz und sinistre Gäste zum Personal und bieten damit sehr domestizierten Grusel zum Mitraten.

Wiederentdeckung einer vergessenen Autorin

Gladys Mitchell - Geheimnis am Weihnachtsabend (Cover)

Die Krimis tragen stets das Geheimnis im Titel und drehen sich mal um eine mörderische Familienzusammenkunft, mal um eine Spuklegende. In diesem Jahr beschert uns Klett-Cotta ein Geheimnis am Weihnachtsabend. Geschrieben wurde es von der 1901 geborenen britischen Schriftstellerin Gladys Maude Winifred Mitchell, die zeitlebens über fünfundsechzig Krimis verfasste, in denen Beatrice Adela Lestrange Bradley verzwickte Fälle löst.

Zu größerer Bekanntheit hat es für die Autorin hierzuland allerdings nicht gereicht. Umso schöner, dass man ein exemplarisches Werk aus ihrem Schaffen postum nun auch im Rahmen der Weihnachtskrimis hierzulande entdecken kann. „Dead Men’s Morris“ ist der siebte Band der Reihe, der 1936 erschien und der hier in der Übersetzung von Dorothee Merkel zum ersten Mal auf Deutsch vorliegt.

„Sind Sie nicht die Mrs. Bradley, die Psychoanalytikerin?“

„Das bin ich durchaus, oder war es zumindest, als Sigmund Freud noch in Mode war. Heutezutage bezeichnet man mich als Nerven- oder Irrenärztin.“

Gladys Mitchell – Geheimnis am Weihnachtsabend

Weihnachten in Oxfordshire

Ja, sie ist es wirklich. Mrs. Bradley hat sich in die Abgeschiedenheit Oxfordshires begeben, wo sie ihren Neffen Carey über die Weihnachtsfeiertage besuchen möchte. Dieser wohnt in der Nähe von Stanton St. John auf dem sogenanten Alten Hof, wo er einen experimentellen Schweinemastbetrieb leitet und nebenbei auch Porträts von hoher Güte zeichnet.

Schon die Anreise zum Hof gestaltet sich etwas schwierig – und dann kommt es, wie es bei einem Weihnachtskrimi natürlich kommen muss.

„Wie wär’s mit einer netten, gruseligen Spukgeschichte, Tante Adela?“

„Oder einem Vortrag über die gefährlichen Geisteskranken, die Ihnen so über den Weg gelaufen sind, Mrs. Bradley“, sagte Hugh mit einem Grinsen.

„Oder beides!“ sagte Denis mit vollem Mund. Er schluckte den Bissen hinunter und wischte sich das Fett von den Lippen. „Aber noch besser fände ich es, wenn es im Dorf einen echten Mord geben würde. So ein richtig toller Mord“, fuhr er voller Enthusiasmus fort, „damit sich das Weihnachtsfest auch lohnt. Was meinen Sie, Mrs. Ditch?“

Gladys Mitchell – Geheimnis am Weihnachtsabend

Dieser Wunsch geht tatsächlich postwendend in Erfüllung. In der Nacht des Heiligen Abends findet ein Freund Careys die Leiche eines betagten Anwalts in der Nähe eines Treidelpfades. Wollte er der Wahrheit hinter der Spuklegende eines Geists im benachbarten Sandford auf den Grund gehen – oder wurde er gezielt dorthin gelockt und es handelt sich in Wahrheit um einen geschickt durchgeführten Mord?

Die Spürsinn von Mrs. Bradley erwacht – und wenig später kommt es zu Ostern zu einem weiteren Tod, der wirkt, als habe ein Eber sein Opfer attackiert und getötet, ganz wie es die Legende vom Shotover Hill erzählt.

Doch Mrs Bradley mag den offensichtlichen Spuren nicht trauen – und auch der Tatverdächtige Nr. 1 ist für die Detektivin und Psychologin eine zu offensichtliche Wahl. Langsam versucht sie dem Täter auf die Spur zu kommen, auch wenn es bis zu dessen Ergreifung schon längst wieder Pfingsten geworden ist (womit man es strenggenommen eigentlich nicht wirklich mit einem reinen Weihnachtskrimi zu tun hat).

Ein klassischer britischer Krimi

Geheimnis am Weihnachtsabend bedient alle Vorgaben, die man an einen klassischen britischen Krimi stellt. Da ist ein stattliches Haus (hier eben der Alte Hof) mit Geheimgängen und einem Priesterversteck, da gibt es einen Haufen an Verdächtigen, da lässt Carey als Hausherr die üppigen Speisefolgen auftragen, indem er die Haushälterin herbeijodelt. Da wird abends im Schein des Kaminfeuers gespeist und geplaudert und mit Mrs. Bradley steht eine scharfsinnige Ermittlerin im Mittelpunkt, die sich nicht in die Karten blicken lässt und die am Ende des Romans zielsicher den oder die Täter*in überführt.

Dennoch hat mich der Weihnachtskrimi etwas unzufrieden zurückgelassen. Und das liegt meiner Ansicht nach am fehlenden Fleisch auf den erzählerischen Rippen, auch wenn das Buch im Milieu der Schweinezüchter spielt und die Beschreibung der Schweinemast einene überraschend großen Anteil an diesem Weihnachtskrimi einnimmt.

Auch wenn hier beständig aberdutzende Gänge zum Schmausen herbeigejodelt werden und die Schweine regelmäßig gefüttert werden, so gebricht es diesem Krimi doch an Sättigungswerten. Woran liegt es?

In meinen Augen ist das Personal des Krimis ein Grund, das voller Stellvertreterfiguren ist. Außer Namen und zugeschriebenen Funktionen bekommen die Figuren nämlich kaum Konturen, wodurch die Übersichtlichkeit gewaltig leidet. Linda Ditch, Mrs. Ditch, Mr. Ditch, Jenny, Fay, Hugh oder Priest. Sie alle erhalten zwar Namen, die Beziehunskonstellation untereinander aber bleibt knöchern und selbst Mrs. Bradley bekommt hier weder Tiefe noch besondere (kriminalistische) Merkmale, die über ihre Schläue und das charakteristische Meckern hinausgehen.

Dass Gladys Mitchell eine Vielschreiberin war, das merkt man diesem Buch leider deutlich an, wie ich finde. Aus diesem nun auf Deutsch veröffentlichten Buch allein erschließt sich der Reiz und die Besonderheit an den Ermittlungen von Mrs. Bradley nicht. So mag die Figur der schlauen Detektivin über mehrere Bände hinweg Kontur bekommen, Geheimnis am Weihnachtsabend alleine scheitert aber an der Aufgabe.

Alles wirkt hier etwas lieblos konstruiert und heruntergeschrieben, auch weil das nächste Buch schon darauf wartete, produziert zu werden. Dieser Eindruck drängte sich mir leider bei meiner vorweihnachtlichen Lektüre auf, wenngleich das Buch mit 432 Seiten über ein Drittel länger ist als alle anderen Weihnachtskrimis, der Klett-Cotta bislang aufgelegt hat. Der zusätzliche Spielraum wird hier leider nicht wirklich genutzt. Und auch die plötzliche Auflösung des Falls auf den letzten Seiten bleibt in der Luft hängen, verlangt doch die reichlich konstruierte Lösung fürs Mitraten tiegreifende Kenntnisse und Zitatsicherheit, was die Werke Shakespeares oder den Tod Thomas Beckets betrifft.

Fazit

So ist Geheimnis am Weihnachtsabend ein teilweise an Weihnachten spielenender Krimi, der seine Potentiale nicht ausschöpft und so eher im Gros dutzender anderer cosy Landhauskrimis stecken bleibt (auch wenn es wohl kaum einen anderen Krimi geben dürfte, in dem die Schweinezucht einen solchen großen und entscheidenden Raum einnimmt).

Würde es die Reihe der Weihnachtskrimis von Klett-Cotta nicht geben, hätte es dieses Buch sicherlich nicht mehr zu einer deutschen Übertragung geschafft, was auch kein allzu großer Schaden gewesen wäre.

Alles ist hier ein bisschen dröge gestaltet, die Figuren erhalten von der Autorin wenig, das über ihre bloßen Namen hinausreicht, die ermittelnde Heldin bleibt austauschbar und Auflösung passiert eher plötzlich . Dass Gladys Mitchell 65 Krimis mit ihrer Heldin Mrs. Bradley verfasste, merkt man diesem Buch an, auch wenn das 1936 erschienene „Dead Men’s Morris“ erst der siebte Band der Reihe ist. Aber mehr Tiefe und Tiefenschärfe der Figuren hätten Geheimnis am Weihnachtsabend gutgetan.

So ist dieser „Weihnachtskrimi“ leider kein Highlight. Auf dieses Buch unterm Weihnachtsbaum kann man verzichten, außer es handelt sich beim Beschenkten oder zu Beschenkenden um einen beinharten Fan britischer Landhauskrimis jeglicher Couleur.

Weitere Meinungen zu Geheimnis am Weihnachtsabend gibt es bei Andreas Kück, beim Beutelwolf-Blog und bei der Literaturwerkstatt kreativ.


  • Gladys Mitchell – Geheimnis am Weihnachtsabend
  • Aus dem Englischen von Dorothee Merkel
  • ISBN 978-3-608-98673-0 (Klett-Cotta)
  • 432 Seiten. Preis: 20,00 €
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Buchtipps für Weihnachten 2022

Nur noch ein Monat, dann steht Weihnachten wieder einmal völlig überraschend vor der Tür. Deshalb erlaube ich es mir heute, in drei verschiedenen Kategorien als Geschenkanregungen Buchtipps zu geben, mit denen man sicher nichts falsch macht. Es handelt sich bei den ausgesuchten Titeln um aktuelle Neuerscheinungen, die man im gut sortierten Buchhandel finden sollte (oder zumindest bestellen und dann am nächsten Tag dann abholen kann).

Vor allem angesichts eventueller Engpässe im stationären Buchhandel empfiehlt es sich ja aktuell eh, ein wenig früher mit den Bestellungen dran zu sein. Das macht es den Buchhändler*innen im Weihnachtsstress ein bisschen einfacher – und zudem kann man sich dann selbst beruhigen, dass man einen Teil der Geschenke schon besorgt hat. Anderweitigen Stress an Weihnachten gibt es ja schon genug.

Deshalb hier nun meine diesjährigen Empfehlungen, sortiert nach den Kategorien Sachbuch, Belletristik und Kinder- und Jugendbuch. Viel Vergnügen und gute Inspiration!

Sachbuch

Andrea Wulf – Fabelhafte Rebellen

Ihre Biografie über Alexander von Humboldt zählt zum Besten, das ich im Genre der historischen Biografie in letzter Zeit gelesen habe. Nun nimmt sich Andrea Wulf in ihrem neuen Buch Zeit der frühen Romantiker*innen und deren Wirkungsschwerpunkt Jena vor und erzählt, wie sich in jener Stadt die Geistesgrößen Fichte, Schelling und Co. trafen – und sich gegenseitig beeinflussten. Eine hervorragende Zeitreise, unterhaltsam und lehrreich – und dabei auch erstaunlich aktuell.

Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. 525 Seiten. 30,00 €. ISBN 978-3-570-10935-1 (C. Bertelsmann)

Patrick Radden Keefe – Imperium der Schmerzen

Die Opioidkrise der USA, das ist etwas, das man hierzulande nicht wirklich auf dem Schirm hat, außer vielleicht wenn ein Roman mal davon erzählt. Aber dass flächendeckend große Mengen Amerikaner*innen bis in die Mittelschicht hinein schmerzmittelabhängig sind und dadurch durchs soziale Raster gefallen sind, das macht die packend erzählte Geschichte von Patrick Radden Keefe klar. Darin erzählt er, wie die Pharma-Dynastie der Familie Sackler diese Krise verursacht und ausgeschlachtet hat – spannend wie ein Krimi und dabei (leider) sehr faktenbasiert.

Übersetzung aus dem Englischen von Benjamin Dittmann-Bieber, Gregor Runge und Kattrin Stier. 639 Seiten. 36,00 €. ISBN 978-3-446-27392-4 (hanser blau)

Volker Ullrich – Deutschland 1923

Dass der deutsche Buchmarkt nicht allzu originell ist, das fällt aktuell besonders deutlich ins Auge. Was einmal gut lief, das wird munter kopiert und fortgeführt. Bestes Beispiel ist zur Zeit der von Florian Illies angestoßene Trend zum anekdotischen Jahrbuch. Mindestens fünf Bücher über das Jahr 1923 erschienen diesen Herbst in verschiedenen Verlagen in ganz unterschiedlicher Qualität. Für sich steht darunter das Buch des Historikers Volker Ullrich, in dem er auf plaudrige Zeitkoloritschnipsel verzichtet und sich stattdessen dem Jahr in thematischen Schwerpunktsetzung näher, wobei er sachkundig von der Inflation, von der Tanzwut, dem Erstarken rechter Kräfte oder Kultur im Zeichen der Krise erzählt. Fundiert, genau und umfassend.

441 Seiten. 28,00 €. ISBN 978-3-406-79103-1 (C. H. Beck)

Eberhard Seidel – Döner

Ein Buch über Döner, das man auch Veganerinnen und Vegetariern schenken kann? Unbedingt, denn Eberhard Seidels Buch ist weitaus mehr als eine Hymne an das Kultgericht. Er bietet darin eine Geschichte der (türkischen) Migration in Deutschland und erzählt von Aufstieg und Ausgrenzung, von Xenophobie, die sich vom Gammelfleischskandal bis hin zur NSU-Mordserie aka „Dönermorde“ immer wieder zeigte und zeigt und für türkische Mitbürger*innen zu oft auch Todesgefahr bedeutet. Ein Buch, das weit über die reine Kulinarik hinausblickt, und das es deshalb so empfehlenswert macht.

257 Seiten. 20,00 €. ISBN 978-3-7550-0004-4 (März-Verlag)

Irene Vallejo – Papyrus

Eine Geschichte der Schrift, des Buchs, der Kulturtechnik des Lesens, all das vereint Irene Vallejos Sachbuch Papyrus, das mitreißend von der Kraft des gedruckten und geschriebenen Worts zu erzählen vermag. Denn eines wird in Vallejos über 750 Seiten starken (aber niemals langweiligen) Buch auch klar – die Geschichte der Welt ist auch eine Geschichte der Bücher und umgekehrt.

Übersetzung aus dem Spanischen von Maria Meinel und Luis Ruby. 752 Seiten. 28,00 €. ISBN 978-3-257-07198-6 (Diogenes)

Belletristik

Prosaische Passionen

Männer schreiben Literatur, Frauen Unterhaltung. Deshalb braucht man sie auch nicht in den literarischen Kanon aufnehmen. Gegen diese jahrhundertealte und grotesk falsche Praxis setzt der von Sandra Kegel herausgegebene Sammelband ein wuchtiges Kontra. Denn der Band versammelt Shortstorys von vielfältigen weiblichen Erzählerinnen quer über den ganzen Erdball verteilt. Von großen Namen wie Colette oder Virginia Woolf bis hin zu echten Entdeckungen wie Chawa Schapira oder Out el-Kouloub oder Ding Ling. Erzählerinnen, denen in einer gerechteren Welt ein ebenbürtiger Platz im Kanon der Literatur gebührte.

928 Seiten. 40,00 €. ISBN 978-3-7175-2546-2 (Manesse)

Maggie Shipstead – Kreiseziehen

Ein Schmöker im besten Sinne, der mitreißend vom Leben der Pilotin Marian Graves erzählt. Diese verschwand vor Jahrzehnten im ewigen Eis der Antarktis und nur ein Tagebuch blieb von ihr zurück. Nun soll der gefallene Hollywoodstar Hadley Baxter Marian Graves in einem Film verkörpern und taucht dafür ganz tief ein in das Leben der eigensinnigen Pilotin, das uns Maggie Shipstead als emotionalen, fesselnden und unheimlich suggestiven Bilderbogen präsentiert. Hier lohnt sich jede der über 800 Seiten fiktiver Lebensgeschichte, in der man wirklich versinken kann.

Aus dem Englischen von Harriet Fricke, Susa Goga-Klinkenberg und Sylvia Spatz. 861 Seiten. 28,00 €. ISBN 978-3-423-29020-3 (dtv)

Lucy Fricke – Die Diplomatin

Taut das Leben einer Staatsdienerin im Auswärtigen Dienst für einen Roman? Unbedingt, wie Lucy Fricke in Die Diplomatin beweist. Ihr gelingt ein Buch auf Höhe der Zeit, das die Frage nach dem Nutzen von Demokratie und demokratischen Prozessen stellt und das mit der Erzählerin Fred eine wunderbar ambivalente und lebensnahe Heldin in den Mittelpunkt stellt. Hier finden Privates und Politik gelungen zusammen. Und außerdem schreibt Lucy Fricke mit die wohl trockensten und besten Dialoge, die man für Geld kaufen oder in Bibliothek leihen kann.

256 Seiten. 22,00 €. ISBN 978-3-546-10005-2 (Claassen)

Amor Towles – Lincoln Highway

Ein Schmöker irgendwo zwischen Jules Vernes In achtzig Tagen um die Welt und den Romanen Mark Twains, das ist Lincoln Highway von Amor Towles. Jener legendäre Highway, die erste Schnellstraße von Ost nach West, wird bei Towles zur Richtschnur für ein Brüderpaar, die den Spuren ihrer Mutter folgen wollen. Doch die Reise entwickelt sich ganz anders als geplant – zum Glück, denn so lässt es sich wunderbar mit den jugendlichen Protagonisten mitfiebern und bangen. Großartige Unterhaltung mit dem Zeug zum modernen Americana-Klassiker.

Aus dem Englischen von Susanne Höbel. 576 Seiten. 26,00 €. ISBN 978-3-446-27400-6 (Hanser)

Johanna Adorján – Ciao

Bei diesem Buch hat es im vergangenen Jahr nicht zu einer Rezension gereicht, was keinesfalls der Qualität von Johanna Adorjáns Prosa, sondern vielmehr meinen eigenen Zeitreserven geschuldet war. Umso schöner, dass sich das Buch jetzt als kostengünstiges Taschenbuch zum Verschenken anbietet. Denn Adorján erzählt darin augenzwinkernd von einem Großfeuilletonisten, der erkennen muss, dass seine besten Jahre schon hinter ihm liegen.

272 Seiten. 13,00 €. ISBN 978-3-462-00399-4 (KiWi)

Kinderbuch

Oliver Jeffers, Sam Winston – Wo die Geschichten wohnen

Das, was Irene Vallejo für Erwachsene in Papyrus tut, das schaffen Oliver Jeffers und Sam Winston in ihrem fantasieanregenden und poetisch abstrakten Buch Wo die Geschichten wohnen für die kleineren Leserinnen und Leser. Sie zeigen, wie vielfältig die Welt der Literatur und der Bücher ist und wie wunderbar es sein kann, sich ganz in diese zu versenken. Ein großartiges Bilderbuch, in dem auch Erwachsene noch viel entdecken können.

44 Seiten. 14,90 €. ISBN 978-3-95854-092-7 (mixtvision)

Das Buch vom Dreck

Zugegeben, ein Buch vom Dreck, das klingt nicht nach dem angemessensten Buchgeschenk. Aber das ist es, vereint das Buch von Piotr Socha und Monika Utnik-Strugala doch witzige Grafiken und viel Informationen über Hygiene, Viren und wichtige Errungenschaften im Kampf (oder besser der Koexistenz) mit dem Dreck. Nicht nur vor dem Hintergrund der aktuellen viralen Ausnahmesituation eine großartige Kulturgeschichte der Hygiene für die ganze Familie

Übersetzt von Dorothea Traupe. 216 Seiten. 30,00 €. ISBN 978-3-8369-6164-6 (Gerstenberg)

David Walliams – Gangsta-Oma

Gibt es etwas langweiligeres, als bei seiner Oma die Freitagabende zu verbringen, nur damit Mama und Papa tanzen gehen können? Ja, nämlich wenn sich herausstellt, dass die eigene Oma eine Juwelendiebin ist, mit der man den Tower of London ausrauben könnte. So abgedreht und so humorvoll wie der Brite David Walliams schreiben derzeit nicht viele Autor*innen. Umso schöner, dass Band 2 der Reihe dieser Tage ebenfalls bei Rowohlt erschienen ist.

Aus dem Englischen von Salah Naoura. 272 Seiten. 11,00 €. ISBN 978-3-499-21795-1 (Rowohlt)

Nils Mohl – Henny & Ponger

Eine S-Bahnfahrt in Hamburg, zwei Jugendliche, die das gleiche Buch lesen und eine Notbremsung. So beginnt das Roadmovie Henny & Ponger, in dem Nils Mohl die ungewöhnliche Geschichte der beiden gleichnamigen Held*innen erzählt, in der man nie ganz genau weiß, woran man ist. Nur eines weiß man: das hat Drive, das zieht in die Geschichte und ist sprachlich so gut geschildert, dass man immer weiter möchte mit Henny und Ponger.

320 Seiten. 18,00 €. ISBN 978-3-95854-182-5 (mixtvision)

Kirsten Boie – Dunkelnacht

Nicht nur aus Gründen des Heimatbezugs sei auch dieses Buch von Kirsten Boie, für das sie den Deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis in diesem Herbst erhielt, nachdrücklich empfohlen. Denn in Dunkelnacht erzählt sie aus Sicht von Kindern von einem der grausamsten Endphaseverbrechen, nämlich der Penzberger Blutnacht. Eindringlich, erschütternd und mahnend, ohne dass das Buch je ins Moralinsaure kippen würde. Einfach ein beeindruckendes Buch für eine historisch interessierte Leserschaft.

112 Seiten. 13,00 €. ISBN 978-3-7512-0053-0 (Oetinger)

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Claire Keegan – Kleine Dinge wie diese

Manchmal braucht es eine kleine Tat im Leben, die allen Konventionen widerspricht, die man aber trotzdem tun muss, um mit sich im Reinen zu bleiben. Dem Kohlehändler Bill Furlong offenbart sich jener entscheidende Moment kurz vor dem Weihnachtsfest 1985. Inmitten der Kälte des irischen Winters beschließt er in Claire Keegans Geschichte, zum Retter einer jungen Frau zu werden.


Während sie weitergingen und immer mehr Menschen begegneten, die Furlong kannte und doch nicht wirklich kannte, fragte er sich, ob es überhaupt einen Sinn hatte, am Leben zu sein, wenn man einander nicht half. War es möglich, all die Jahre, die Jahrzehnte, eine ganzes Leben lang weiterzumachen, ohne wenigstens einmal den Mut aufzubringen, gegen die Gegebenheiten anzugehen, und sich dennoch Christ zu nennen und sich im Spiegel anzuschauen?

Claire Keegan – Kleine Dinge wie diese, S. 103

Bill Furlong beantwortet diese Frage einfach, indem er handelt. Nicht lange überlegt, Pro und Kontra abwägt, lange Diskussionen und Erörterungen anstößt und abwartet. Nein, er stimmt mit den Füßen ab und wird zum Retter einer jungen Frau und erfüllt die christliche Weihnachtsbotschaft damit mit ganz eigenem Leben.

Hinter den Mauern des Magadalenenheims

Claire Keegan - Kleine Dinge wie diese (Cover)

Im kleinen irischen Städtchen New Ross beliefert Bill viele Haushalte mit Kohle. Die Lage im Land ist prekär, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit greifen um sich in jenem Winter 1985, von dem Claire Keegan erzählt. Daheim hat Furlong vier Töchter und lebt mehr oder minder von der Hand in den Mund. Das Kohlegeschäft wirft wenig ab, viele Abnehmer*innen stunden vor Weihnachten die Rechnung. Gemeinsam mit seiner Frau muss Bill deshalb äußerst gut haushalten, um über die Runden zu kommen.

In dieser einfachen Existenz hat sich Bill aber gut eingerichtet – und doch wirft ihn eine Begegnung hinter den Mauern des Magdalenenheims nachhaltig aus der Bahn. In jenem Magdalenenheim vor den Toren von New Ross betreiben Nonnen eine Wäscherei, die für ihre Qualität weithin gerühmt wird. Doch die Mädchen, die hinter den Klostermauern in der Obhut der Nonnen leben, sie scheinen nicht ganz so makellos zu sein. Man munkelt von gefallenen Mädchen, unehelichen Kindern und großer Schande, die solche Mädchen im erzkatholischen Irland nach allgemeiner Auffassung auf sich geladen hätten.

Eine Kohlelieferung mit Folgen

Als er nun kurz vor Weihnachten die Nonnen beliefert, wird er bei einer zufälligen Begegnung von einem jungen Mädchen angefleht, sie zum Fluss zu bringen, wo sie sich ertränken will. Zwar unterbinden die Nonnen weiteren Kontakt zu den Insassinnen des Heims, aber dennoch entdeckt Bill bei seinen Lieferfahrten ein weiteres Mädchen, das im Kohleschuppen eingesperrt war. Den Beteuerungen der Nonnen schenkt Bill keinen Glauben und so reift in ihm der Entschluss, kurz vor Weihnachten ein Werk der Barmherzigkeit und Nächstenliebe zu verrichten. Er befreit die junge Frau heimlich aus dem Kohleschuppen des Klosters und nimmt sie mit zu sich nach Hause.

Eine Weihnachtserzählung

Es ist ein knappes, aber dafür umso intensiveres Erzählung oder Novelle, die Claire Keegan hier in der Übersetzung von Hans-Christian Oeser vorlegt. Sie erzählt von Mitmenschlichkeit und der kleinen Grenzüberschreitung, die es braucht, um sich selbst noch in bestimmten Momenten in die Augen blicken zu können. So ist Bill Furlong auch kein Held sondern ein einfacher Mann, der einmal im Leben etwas Richtiges tun möchte, das ihm sein Herz befiehlt, auf dass er mit sich weiterhin im Reinen sein kann.

Weihnachten ist ja eh die Zeit, in der man die eigene Mitmenschlichkeit und Gnade erkennt, besonders in der Tradition der angelsächsischen Weihnachtserzählungen. Das reicht von Charles Dickens‘ Weihnachtsgeschichte bis hin zum kleinen Lord Fauntleroy, der das Herz seines strengen Großvaters erweicht und in ihm die Mitmenschlichkeit wieder erweckt. Claire Keegan fügt sich mit Kleine Dinge wie diese in diesen Kanon ein und liefert eine Erzählung, die eine universelle Botschaft besitzt. In dieser Erzählung lodert ein humanistischer Glutkern, der inmitten der Kälte des irischen Winters hell lodert.

Das Grauen der Magdalenenheime

Und nicht zuletzt wirft die Autorin einen sprichwörtlichen Blick hinter die Mauern der Magdalenenheime, die für zahlreiche Frauen inkommensurables Leid bedeuteten. Im Nachwort ihrer Geschichte weist die Autorin darauf hin, dass die Geschichte dieser Heime immer noch nicht richtig aufgearbeitet ist. Das letzte Magdalenenheim auf der irischen Insel schloss erst 1996 und bis heute ist unbekannt, wie viele Frauen und Kinder in den Heimen gehalten wurden oder umgekommen sind. Keegan spricht von ungefähr 30.000 Frauen, die dieses Schicksal ereilt hat.

Im vergangenen Jahr wurde eine Untersuchung vorgestellt, in der 18 Heime unter die Lupe genommen wurden, in denen über 9000 Kinder starben, die wegadoptierten Kinder hier nicht eingeschlossen. Wenn man Claire Keegans Erzählung liest, bekommt man eine Ahnung davon, wie tiefgreifend das System dieser Heime war und wie mächtig das System der Kirche, das solche Einrichtungen stützte und protegierte.

Fazit

Kleine Dinge wie diese erzählt von der Tat eines Einzelnen, der seinem Gewissen folgte und sich diesem System entgegenstellte. Sie zeigt mit Bill Furlong einen Mann, der seinem Herz und seiner Mitmenschlichkeit folgt und der die christliche Botschaft im Gegensatz zu den Nonnen im Magdalenenheim wirklich lebt. Eine Weihnachtserzählung, eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit den dunklen Stellen der irischen Vergangenheit und ein Buch, das demonstriert, wie einfach Heldentum aussehen kann.


  • Claire Keegan – Kleine Dinge wie diese
  • Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-065-0 (Steidl)
  • 109 Seiten. Preis: 18,00 €

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Die besten Bücher zum Verschenken

Dieses Jahr 2020 ist kein leichtes. Weder für uns Otto-Normalverbraucher, noch für Literaturvermittler*innen, Verlage und Buchhandlungen. Nun steht der zweite Shutdown, „Lockdown Light“ betitelt, bevor. Zwar haben Buchhandlungen, Bibliotheken und andere Einrichtungen weiterhin auf. Ein vergleichbares Geschäft wie im letzten Jahr ist in diesem Jahr allerdings nicht zu erwarten. Keine so guten Aussichten für die Buchbranche, wie ich finde.

Schon der erste Shutdown ging an die Substanz vieler Kulturmacher und -institutionen. Um nun die Verluste etwas aufzufangen, plädieren viele Buchhandlungen dafür, das Weihnachtsgeschäft etwas vorzuziehen und sich bereits jetzt mit Titeln zum Verschenken und Selberlesen einzudecken. Keine schlechte Idee, wie ich finde. So wird das Gewusel vor Weihnachten etwas entzerrt und man kann die Zeit vor Weihnachten hoffentlich besser genießen, anstatt sich gehetzt kurz vor Ladenschluss aus Verlegenheit ein Buch von Paulo Coelho oder Sebastian Fitzek einpacken zu lassen. Das kann ja auch niemand wollen. Und so habe auch ich mir Gedanken gemacht über das vergangene Buchjahr und daraus resultierende mögliche Geschenktipps. Das Ergebnis meines Nachdenkens ist diese Liste: die besten Bücher des Jahres, die man guten Gewissens verschenken kann und mit denen man nichts falsch macht. Ausführliche Besprechungen zu den Büchern gibts nach einem Klick auf die entsprechenden Cover.

Und ach ja – kauft bitte eure Bücher vor Ort. Kostet das gleiche, Nicht-Vorrätiges ist meist am nächsten Tag da und ihr unterstützt den Einzelhandel. Da ist euer Geld deutlich besser angelegt als in den Geldspeichern von Herrn Bezos!

Für Humorvolle

Ein bisschen lacheln und schmunzeln kann in dieser alles andere als leichten Zeit nicht schaden. Qualitativ hochwertige und witzige Lektüre ist in der deutschen Gegenwartsliteratur jedoch rar gesät. Gut, dass es Kristof Magnusson gibt. Denn ihm gelingt in Ein Mann der Kunst eine ausnehmend witzige, niveauvolle und wirklich unterhaltsame Kunstbetriebssatire. Ein Maler auf seiner Burg am Rhein, ein Kunstförderverein voller spleeniger Figuren und mittendrin ein Architekt, der unversehens zwischen Künstler und Kunstförderer gerät. Das sind die Zutaten für diesen gelungenen Roman, der in dieser alles andere als leichten Zeit für Ablenkung sorgt.

Für Naturfreunde

Wohl jeder kennt diese Frage nach der Schule: was soll ich danach machen? Studieren? Eine Ausbildung? Für Robert Appleyard in Benjamin MyersOffene See stellt sich diese Frage gar nicht. Wie sein Vater soll er bald unter Tage einfahren. Die Geschichte ist nämlich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in England angesiedelt. Doch die Bergarbeit ist Roberts Sache nicht und so beschließt er, den letzten jugendlichen Sommer in Freiheit zu nutzen, um zum Meer an die englische Küste zu wandern. Dabei trifft er auf Dulcie, die in einem Cottage am Meer lebt und in Robert die Liebe zur Kultur weckt. Ein poetisches, romantisches und naturverliebtes Buch, das völlig zurecht als Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels 2020 ausgewählt wurde.

Für Fans komplexer Wahrheiten

Dass es mit der Wahrheit eine ganz schön komplexe Angelegenheit ist, das zeigt Angie Kim in ihrem Debüt Miracle Creek vortrefflich. In ihrem Gerichtsroman ist eine Mutter angeklagt, ihren Sohn und einige weitere Unschuldige umgebracht zu haben. Im kleinen Kaff Miracle Creek soll sie eine Katastrophe ausgelöst haben. Sie ist der Brandstiftung und des Mordes angeklagt. Sie soll eine Überdruckkammer angezündet haben, in der Kinder mit Autismus-Störungen behandelt wurden, darunter auch ihr eigener Sohn. Die Beweislage erscheint klar – die Wahrheit über die Ereignisse ist es allerdings überhaupt nicht. Schicht für Schicht legt Angie Kim die Lügen und Unwahrheiten aller Beteiligten frei, die schließlich zur Katastrophe führten. Klug montiert, geschickt erzählt und wahrlich spannend.

Für Nostalgiker

Wenn es ein verbindendes Element gibt, das Generationen von Kindern in den Bann gezogen hat, dann ist das wohl die Augsburger Puppenkiste. Die Inszenierung der Geschichten rund um Jim Knopf, Kalle Wirsch oder die Katze mit Hut sind legendär. Thomas Hettche blickt in seinem fantasievoll erzählten Roman auf die Gründung der Puppenkiste direkt nach dem Krieg. Er erzählt von Kriegstraumata, dem Wunsch, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und der Kunst des Puppenspiels. Hauptmotiv ist dabei der Herzfaden, der die Marionetten mit dem Puppenspieler selbst verbindet. Dieser Roman selbst besitzt auch einen Herzfaden, der ihn mit den Leser*innen verbindet.

Für Beziehungsmenschen

Oder eher nicht für Beziehungsmenschen? Das ist die Frage von Amity Gaiges Roman Unter uns das Meer. Dieses Buch zeigt ein Paar in der Krise, das für die eigenen Probleme einen unorthodoxen Lösungsansatz wählt. Man hat sich etwas auseinandergelebt. Da sind aber die eigenen Kinder. Außerdem war es früher ja deutlich besser – und so entschließt sich Juliets Mann Michael zu einem ungewöhnlichen Schritt. Er kauft ein Boot, auf dem er mit der Familie das nächste Jahr verbringen will. Die eigenen nautischen Kenntnisse sind beschränkt, aber Michaels Wille ist ungebrochen. Aus zwei Blickwinkeln erzählt Amity Gaige abwechselnd und zeigt so eine Beziehung und einen Schiffstrip in Untiefen. Beeindruckend und augenöffnend erzählt.

Für Gesellschaftsanalysten

Dieser Roman wirkt wie eine literaturgewordene Ansicht des Amerikas der Trump-Ära. Steph Cha zeigt in ihrem Roman Brandsätze zwei Familien, die sich gegenüberstehen und die doch durch ihre gemeinsame Vergangenheit miteinander verbunden sind. Da ist zum Einen die Familie Park, koreanische Einwanderer, die einen kleinen Laden betreiben. Und zum Anderen gibt es die Familie Matthews. Als die Mutter von Grace Park vor ihrem Laden niedergeschossen wird, erfährt diese, dass ihre Mutter auch einst jemanden niedergeschossen hat. Das Opfer kam aus der Familie Matthews…

Schicksale, die sich gegenseitig beeinflussen. Black Lives Matter, soziale Spaltung und die Kämpfe von sozialen Minderheiten. Steph Cha hat ein wertungsfreies Buch geschrieben, das schmerzlich gut in diese Zeit passt.


Das sind sie also, meine Verschenktipps für die kommende Zeit. Welche Bücher empfehlt oder verschenkt ihr? Lasst es mich gerne wissen!

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