Meine besten Bücher 2025

Schon wieder ist ein Jahr vergangen, schon wieder ist es Zeit für einen Rückblick auf das literarische Jahr 2025.

Wollte man sich im wahrsten Sinne des Wortes an der Oberfläche aufhalten, so wäre 2025 als das Jahr zu benennen, in dem sich die Fülle von KI-generierten Buchcover endgültig Bahn brach. Missglückte Experimente, die die Verlage auf die Cover brachten, von Arno Franks Ginsterburg (Klett-Cotta) über Dirk Schmidts Die Kurve bis hin zu Ben Shattuck, dem der Hanser-Verlag ein KI-generiertes Cover spendierte: Während sich die renommierten Verlage im Inneren der Bücher per Disclaimer verwehren, dass die Literatur für KI-Trainingszwecke ausgebeutet wird, kleben sie derweil seelenlose und bisweilen grotesk misslungene Bilder auf die Cover, die auf der Grundlage der Ausbeutung von Kunstwerken anderer Kulturschaffender basieren und die tendenziell diese Kreative beschäftigungslos machen.

KI-„Kunst“ allerorten

Eine beklagenswerte Entwicklung, die sich 2025 Bahn bracht und die in „Kunstwerken“ endete, die bei näherer Betrachtung gar keinen Sinn ergaben, wie beispielsweise bei jener Edition, die der S. Fischer-Verlag zu Ehren seines Geburtstagskindes Thomas Mann kurz vor dem Beginn von dessen Gemeinfreiheit auf den Markt warf. Das Ergebnis verstörte mit desaströsen Covern mit zahlreichen Fehlern.

Apropos Thomas Mann: diesem konnte man weder in Periodika noch auf dem Buchmarkt entgehen. Mit dutzendfachen Publikationen feierte man den Jubilar landauf und landab, was in einem ganzen Stapel von Neuerscheinungen mündete.

Dabei reichte das Ergebnis von mittelmäßigen Ausführungen (hier sei etwa der allzu leichte, passenderweise mit KI-Cover“kunst“ gezierte Angang Kerstin Holzners genannt, die sich der Sommerfrische Thomas Mann widmete) über gelungenere Ansätze wie den der Beschau der Exilgemeinde um Thomas Mann in Los Angeles von Martin Mittelmeier bis hin zur akribische Spurensuchen im Mann’schen Oeuvre etwa von Michael Maar, die der Rowohlt Verlag noch einmal auflegte.

Auch Romane widmeten sich dem Zauberer, auf dessen Spuren auch ein junger Schweizer in diesem Jahr wandeln wollte – und dabei auch von Medien wie Buchbloggern fleißig unterstützt wurde. Nelio Biedermann sein Name, der mit viel Aplomb von seinem Verlag auf den Schild gehievt wurde. Dass sein Buch ein schlecht lektoriertes und konzeptionell verhobenes Machwerk ist, davon war nur wenig zu lesen, eher erging man sich in unkritischem Lob des Autors, hob lieber sein Alter denn die Schwächen seines Erzählens hervor und verlieh seinem Roman gar die Auszeichnung als Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels.

Thomas Mann, Psychiatrien und Die Holländerinnen

Die Ansprüche waren schon einmal höher, was sich auch bei den populären Titeln dieses Literaturjahrs zeigte.

Die Jurys des Bayerischen, des Schweizer wie auch des Deutschen Buchpreises kürten unisono Dorothee Elmigers Buch Die Holländerinnen zum besten des Jahres, andere Titel hatten bei allen drei Auszeichnungen das Nachsehen. Die Jahrescharts dürften wieder einmal von den üblichen Verdächtigen Sebastian Fitzek wie Florian Illies angeführt werden (der mit seinem Buch über die Familie Mann sein Übriges zur Schwemme der Mann-Werke beitrug).

Dazu noch ein Haufen deutschsprachiger Romane, die allesamt psychiatrische Erkrankungen zum Thema hatten und die Psychiatrie zum wohl bestbeschriebenen Handlungsort im deutschsprachigen Literaturjahrgang machten (siehe hier oder hier oder hier oder hier).

Literarische Enttäuschungen wie Caroline Wahls Die Assistentin oder das eben schon erwähnte Werk Nelio Biedermanns entwickelten sich trotz aller Schwächen im digitalen Raum zu Hype-Titeln, die auch von seriösen Vertretern der Buch-Influencerzunft reihenweise empfohlen wurden, anstelle die Chance auf die Vorstellung anderer, gelungenerer Werke zu nutzen.

Mediale Monokulturen

Generell lässt sich feststellen, dass sich das Interesse weiter auf wenige, auch von den Influencern stark überrepräsentierte Titel (bspw. Verena Keßler, Anne Sauer, Daniel Schreiber) verengt, die mit entsprechenden Marketingbudget von den Algorithmen zusätzlich mit Sichtbarkeit belohnt werden, während die originellen und kleiner Titeln abseits dieser medialen Monokultur verkümmern und zu verschwinden drohen.

Selbst sehe ich es auch durch mein Tun hier auf dem Blog wie auch bei der Blogpräsenz auf Instagram: jedes Buch in Spiegel-Bestsellernähe bekommt dutzendfach mehr Klick als das Gros der vorgestellten Titel, die (zumindest den Aufrufzahlen nach) überhaupt nicht interessieren. Große Namen klicken besser wie kleine – und im Sinne der allgemeinen Aufmerksamkeitsökonomie wäre die Besprechung solcher Titel durchaus eine Möglichkeit, der schrumpfenden Sichtbarkeit des Blogs im digitalen Raum entgegenzuwirken.

In meinen Augen ist es aber ein Weg, der wenig erfolgsversprechend ist. Aufrufzahlen und Sichtbarkeit sind schön, aber gerade Blogs sind seit jeher ja eigentlich Ermöglichungsorte, bei denen auch das Abseitige und das nicht Zeitgemäße einen Platz haben darf. Warum immer nur neue Bücher besprechen oder das präsentieren, was in Buchhandlungen wie in den Feeds und Videokacheln allerorten ventiliert wird?

Wenn es schon der Kulturstaatsminister an höchster Stelle nicht schafft, eine empfehlenswerte Sommerlektüre abseits der eh schon überhypten 22 Bahnen von Caroline Wahl zu finden, so liegt es doch eigentlich an Buch-Influencern und Buch-Bloggern, die Vielfalt des Buchs in allen Facetten zu feiern, statt stumpf mehr vom Gleichen zu liefern und so die Algorithmen weiter zu veröden?

Programmatische Versteppung

Auch auf dem Buchmarkt selbst macht sich derweil eine programmatische Versteppung bemerkbar. Originelle Stimmen wie der unabhängige Berenberg-Verlag stellen ihr Tun ein, Häuser wie Die Andere Bibliothek dünnen ihr Programm auf die Hälfte aus, in dem sie ihre Erscheinungsweise von monatlich auf zweimonatlich reduzieren, andere Verlage wie der Münchner Liebeskind-Verlag lassen nun schon seit Jahren nichts mehr von sich hören. Das ist beklagenswert, sind es doch diese Häuser, die für Innovation sorgen, neue Stimmen entdecken und auch dem Abseitigen eine Chance geben.

Das alles wäre nicht so dramatisch, würde dieses Vakuum nicht von neurechten Kräften genutzt, um diesen Raum für sich zu erobern, um über das Feld der Literatur und Kultur die eigene Agenda voranzutreiben und die es in diesem Jahr sogar fertigbrachten, in Halle eine eigene Buchmesse als Gegenprogramm zu den etablierten Messen in Frankfurt und Leipzig zu organisieren und sich dafür ausgiebig selbst zu feiern.

Im Sinne eines weltoffenen wie liberalen Verständnisses kann man diese Umtriebe nur ablehnen und ich möchte deshalb weiterhin daran mitwirken, wenigstens auch in Form dieser kleinen Privatoffensive der vielgestaltigen Literatur etwas mehr Sichtbarkeit zurückzugeben, auf dass nicht das dumpfe Deutschtum die kulturelle Deutungshoheit über das Lesen erlange.

Meine besten Bücher des Jahres

Selbst die eigentlich dringende wie lohnenswerte Debatte, warum so wenig junge Männer lesen und welche Folgen das für den Buchmarkt und letzten Endes auch für die Gesellschaft hat, sie verlief nach einigen Einwürfen im digitalen Raum wieder im Nichts und blieb ohne Folgen. Dabei müssten wir uns dringend mit dem Thema der Nachwuchsförderung in Sachen Lesen und medialer Komptenz auseinandersetzen, aber leider auch hier: nichts da.

Um gegen solch schlechte Aussichten anzukämpfen, bleibt nur das Verfechten des guten Buchs und eine Sichtbarkeitmachung desselbigen in Feuilletons wie in den Weiten des Netzes.

Ich für meinen Teil kann konstatieren, dass ich auch dieses Jahr in meiner Freizeit wieder über 110 Bücher ich auf dem Blog besprochen und gelesen habe, nebst einigen weiteren Beiträgen (wen die Geschlechterverhältnisse interessieren, so ist diesbezüglich zu vermelden, dass das Verhältnis nahezu ausgewogen war. 56 Titel stammen von Frauen, 55 von Mänern, dazu die üblichen Verlagsvorschauen und ein paar Debattenbeiträge).

Was mir im Gedächtnis geblieben ist, mich beschäftigt hat und noch länger in meinen Buchregalen verweilen darf, das hat Eingang ist die Liste gefunden, die sich wie folgt zusammensetzt (Klick auf die Cover führt zu den ausführlichen Besprechungen):

Annett Gröschner – Schwebende Lasten

Bewundernswert nah an ihrer Figur, einer Blumenbinderin aus Magdeburg, bleibt Annett Gröschner in ihrem Roman Schwebende Lasten, der die Brüche des 20. Jahrhunderts und das Leben der DDR am Beispiel ihrer Heldin nachzeichnet. Gebannt folgt man diesem Leben durch die passenderweise nach Blumen betitelten Kapitel vom Niedergang nach dem Weltkrieg bis hinauf auf die Kanzel eines Fabrikkrans.

Nirit Sommerfeld – Beduinenmilch

Auch wenn er mittlerweile wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden ist, so hat der israelische Krieg in Gaza auch dieses Jahr geprägt und auch hierzulande zu erregten Debatten, Protestaktionen und Diskussionsausladungen gesorgt. Eine Versachlichung und Multiperspektive bringt Nirit Sommerfelds, das sich erkenntnisreich von Jugendlichen bis hin an Erwachsene richtet.

Martin Mittelmeier – Heimweh im Paradies

Wie oben schon erwähnt – Bücher über Thomas Mann gab es so einige in diesem Jahr. Heraus sticht dieses Buch von Martin Mittelmeier, der seinen Blick nicht nur auf Thomas Mann im Exil in Pacific Palisades beschreibt, sondern gleich auf die ganze Exilgemeinde von Theodor W. Adorno bis hin zu Arnold Schönberg und zeigt, welche Geistesblüten das Leben der Exilgemeinde dort an der kalifornischen Küste trieb.

Anja Kampmann – Die Wut ist ein heller Stern

Ich war nicht der einzige, der den neuen Roman Anja Kampmanns auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2025 erwartet hätte. Zwar wurden diese Erwartungen enttäuscht, alle anderen Erwartungen konnte das neue Werk der Lyrikerin vollumfänglich einlösen. Ein sprachmächtiger und sprachsensibler Roman, der sich ganz auf den Blick seiner Heldin einlässt und vom Erstarken des Nationalsozialismus in Hamburg erzählt.

Audrey Magee – Die Kolonie

Ein Highlight gleich zu Jahresbeginn lieferte die Audrey Magee mit Die Kolonie. Sie erzählt von einem Maler und eine Linguisten, die beide auf die gleiche irische Insel reisen – und sich in ihrer gegenseitigen Abneigung verbunden sind. Unlösliche Konflikte, Sprache als Konfliktfeld, dazu die Frage nach verschiedenen Formen von Kolonialismus – Magees Buch ist trotz seines historischen Rahmens voller aktueller Themen und dazu höchst unterhaltsam (und fein von Nicole Seifert übersetzt).

Annegret Liepold – Unter Grund

Das braune Franken ist Thema des Debüts der Schrifstellerin Annegret Liepold. Sie erzählt von der jungen Referendarin, die ein Zwischenfall während des NSU-Prozess zurück in ihre Heimat treibt und sie mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert, in der Rechtsradikalismus eine zentrale Rolle spielte. Liepold blickt auf packende Weise auf die Verstrickung rechten Denkens im Landleben und das Abgleiten in den Extremismus.

Maria Messina – Sterne, die fallen

Kurzgeschichten haben es ja immer schwer auf dem Buchmarkt hierzulande. Dass die kurze Form aber ebenfalls Raum für Tiefe und Entwicklung lässt — und das vielleicht manchmal sogar mehr als in der Langform—, das demonstrieren die Erzählungen der Sizilianerin Maria Messina, die zum Glück auch durch hartnäckige Verlagsarbeit wie der der unabhängigen Friedenauer Presse langsam wieder neu entdeckt wird – Magnifico möchte man ausrufen.

Rachel Cockerell – Melting Point

Noch einmal Israel, diesmal in ganz anderer Form. Alleine aus Quellen wie Zeitungsartikeln, Tagebüchern und Briefen zusammenmontiert erzählt Rachel Cockerell ihre eigene Geschichte und wie diese mit der Geschichte des Zionismus zusammenhängt. Von Kischinau und den USA führen die Spuren der Weltgeschichte schließlich bis zu ihrer eigenen Familiengeschichte. So wissensprall und formstark war die Erforschung eigener Familiengeschichte selten.

Svealena Kutschke – Gespensterfische

Dass ausgerechnet der literarisch anspruchsvollste und erzählerisch stärkste Psychiatrieroman zugleich der war, der unter allen zumindest gefühlt am wenigsten Widerhall fand, es gehört zu den großen Ungerechtigkeiten dieses Literaturjahres. Aber nachdem man Fehler ja manchmal auch heilen kann, sei an dieser Stelle noch einmal nachdrücklich auf Gespensterfische von Svealena Kutschke hingewiesen, der höchst gelungen von Wahn und Wirklichkeit erzählt — und von der dünnen Grenze, die diese Bereiche scheidet.

Arno Frank – Ginsterburg

Noch so ein unterrepräsentiertes Buch, das auch eine Nominierung angesichts der vielen Buchpreise verdient hätte. In seinem dritten Roman Ginsterburg blickt Arno Frank auf das Leben einer fiktiven Kleinstadt namens Ginsterburg, indem er die Kleinstadt dreimal hintereinander im Abstand von jeweils fünf Jahren besucht und so Dynamiken während der Zeit des „Dritten Reichs“ anschaulich offenlegt. Ein überzeugendes Buch, bei dem nur das Cover ein Totalausfall ist.

Clara Arnaud – Im Tal der Bärin

Gleich zwei Romane um menschlich-bärige Beziehungen gab es in diesem Jahr zu lesen. Beide sehr gelungen – Eingang in die Liste gefunden hat schließlich der Roman der Französin Clara Arnaud, die von Menschen im Tal und auf dem Berg in den Pyrenäen an der Grenze zu Spanien erzählt – und wie das Auftauchen einer Bärin das Leben der Figuren gehörig durcheinanderwirbelt.

Liz Moore – Der Gott des Waldes

Ein Thriller, wie ich ihn mir vorstelle. Clever gebaut, mit genauem Blick auf die Figuren und ihre Widersprüche, ein spannendes Setting und dazu noch verschiedene Zeitebenen, die Liz Moore kunstvoll miteinander verknüpft, um so aus dem Buch das Maximalmögliche herauszuholen. Ein Feriencamp in den Adirondacks, eine reiche Familie, verschwundene Kinder und der „Schlitzer“, der in den Wäldern umgeht.

Christoph Hein – Das Narrenschiff

Manchmal zu didaktisch, zu platt in der Erzählanlage, aber trotzdem dieser Anspruch, die Entstehung, Sein und Vergehen der DDR aus Sicht seiner fünf Figuren zu erzählen, die mit der sozialistischen Republik mitaltern. Das ist bestechend gemacht und erlaubt es, mit geradezu chronistischer Detailfülle nachzufühlen, wie es damals war hinter dem „antifaschistischen Schutzvorhang“ – Christoph Hein machts möglich!

Jehona Kicaj – ë

Ein Buch, das Rezensenten bei der Suche nach dem Sonderbuchstaben des ë wahnsinnig gemacht haben dürfte. Jehona Kicaj untersucht in ihrem Debüt, wie sich Kriegstraumata der Vergangenheit bis in die Körper der Gegenwart fortpflanzen – und wie knirschende Zähne von Sprachlosigkeit und Ohnmacht erzählen. Ein verheißungsvolles Debüt, das die Autorin da vorlegt. Und übrigens: Alt-Taste gedrückt, dann 0235 eintippen, und schon ist es da, das ë.

Tommie Goerz – Im Schnee

Noch einmal Franken, diesmal im Seethaler-Sound. Gelungen erzählt Tommie Goerz von einer einzigen Nacht, in der vieles zu Ende geht in dem kleinen fränkischen Dorf im Fichtelgebirge. Schorschs bester Freund ist tot, die Dorfbewohner halten Totenwache – und währenddessen ersteht noch einmal eine Welt auf, die schon im Verschwinden inbegriffen ist. Ruhig, klar, berührend, und das nicht nur im Winter.

Ralf Westhoff – Niemals nichts

Der Hinweis des Gegenübers, man habe da selbst ein Buch geschrieben, ob man nicht einmal hineinlesen möchte, er kann zu heiklen Situationen führen. Im Fall von Ralf Westhoff, der mir sein Buch in der U-Bahn auf dem Weg von der Leipziger Buchmesse nach Hause in die Hand drückte, ist alles gut gegangen. Denn sein Debüt um zwei Bauern im Kampf gegen die Schulden ist alles anders als nichts, sonder nicht anders als gelungen zu rühmen!


Welche Bücher und Themen bleiben für euch am Ende des Jahres? Was wird fortdauern, was uns noch länger begleiten? Ich freue mich auf eure Einschätzung!

Lara Haworth – Das Abschiedsmahl

Massaker, welches Massaker? In ihrem Roman Das Abschiedsmahl lässt Lara Haworth eine Familie über ein Denkmal grübeln, das zum Gedenken an ein Massaker ausgerechnet am Platz ihres eigenen Hauses in Belgrad errichtet werden soll. Schnell zeigt sich, dass die Auffassungen über die Gestaltung des Mahnmals ebenso unterschiedlich sind wie die Beantwortung der Frage, welchen Massakers hier eigentlich gedacht werden soll.


Da hilft selbst das impulsive Zerreißen des Briefs nicht: als Olga Pavić Post von der Stadtverwaltung von Belgrad erhält, ist sie mehr als nur konsterniert. Ausgerechnet an der Stelle ihres Hauses ist ein Denkmal für ein Massaker geplant. Weder ihre Tochter Hilde noch ihr Sohn Danilo oder Olga selbst wissen allerdings, für welches Massaker. Und auch die Architekten selbst, die sich vor Ort vorstellen und das Anwesen der Pavićs in Augenschein nehmen, scheinen sich nicht ganz sicher zu sein, wofür das Denkmal jetzt eigentlich stehen soll.

Er nahm ab. „Olga Pavić!“ Einfach magisch, die Anruferkennung.
Olga klang hysterisch. Wobei er wusste, dass man Frauen nicht mehr so nennen sollte, Franka hatte ihm das erklärt. Aber wie dann? Jedenfalls wurde Olgas Stimme immer schriller. Während er durchs Fenster einem Flugzeug nachschaute, bat er sie behutsam, sich zu beruhigen.
„Moment“, unterbrach er sie schließlich. „Was für ein Massaker denn? Welches?“

Lara Haworth – Das Abschiedsmahl, S. 8 f.

Ist es der Jugoslawienkrieg, dem hier gedacht werden sollte oder ist es vielleicht das Erinnern selbst, an dass die Installation auf dem Grundstück erinnern soll? Je mehr Architekten sich bei Olga vorstellen, umso unklarer wird die Lage. Zwischen auf dem Grundstück vergrabenen Geheimnissen und den Geheimnissen der Figuren entspinnt sich nun ein munteres Rätselraten, welches Massaker gemeint sein könnte.

Von welchem Massaker reden wir eigentlich?

Lara Haworth - Das Abschiedsmahl (Cover)

Wie erinnert man richtig und welche Tücken hält die Erinnerungskultur bereit? Mit diesen Fragen befasst sich das literarische Debüt der Filmemacherin Lara Haworth, das trotz seiner Kürze von gerade einmal 140 Seiten voller Themen und Geheimnisse steckt.

Da ist der homosexuelle Danilo, der sein Begehren versteckt, Hilde hat als CEO einer Baufirma in Frankfurt in einer Baugrube verunglückte Bauarbeiter zu verantworten und ihre Herkunft hinter einer Fassade der knallharten Businessfrau von Welt gut versteckt, ehe der Anruf durch ihre Mutter auch hier wieder ihre eigenen Wurzeln freilegt. Das Erinnern schwebt als Motiv durch sämtliche Seiten dieses Textes, der trotz des Titels Das Abschiedsmahl gar nichts Theatrales an sich hat.

Hier wird keine Familiengeschichte mit vielen bühnenreifen Dialogen verhandelt und demontiert, obwohl man bei dem Text an Königsdramen am Familientisch denken könnte. Stattdessen ist Haworths Text ein schneller, knapper Text, der trotz seiner Kürze immens verdichtet und abwechslungsreich gestaltet ist (Übersetzung aus dem Englischen durch Stefanie Ochel).

Ein knapper Text mit vielen Themen und Humor

Mit den Mitteln des absurden Theaters und einer literarischer Ausgestaltung aller zentraler Figuren entsteht so ein kleines Kammerspiel, das die Geschichte Serbiens ebenso wie Debatten unserer Tage um das richtige Erinnern und die Gestaltung von Mahnmalen aufgreift.

Ähnlich wie hierzulande zuletzt Jehona Kicaj in ihrem für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman ë stellt auch Haworths Text die Frage nach dem Fortwirken von Konflikten und wie sich diese durch Generationen ziehen, obschon die direkten Auswirkungen der Konflikte eigentlich schon Geschichte sind.

So ist dieses Aufeinandertreffen von Architekt*innen und Familie, die sich allesamt nach Belgrad begeben haben, ein ergiebiger Clash von Ideen und Familiengeschichte, der zwar keine Funken sprüht, aber gut unterhält.

Fazit

Etwas weniger ernst und erzählerisch spielerischer greift ihr Text die Fragen nach dem Fortwirken von Konflikten und die schwierige Verständigung auf kollektives Gedenken auf. Mit drei wahnwitzigen Architekturideen für das Mahnmal versehen ist Das Abschiedsmahl ein klug erzählter Text, der aufmerksames Lesepublikum braucht, das die vielen Themen und Erzählansätze von Lara Haworth zu goutieren weiß. Lässt man sich auf die Lektüre ein, wird man mit einem thematisch wie stilistisch reichhaltigen Leseerlebnis belohnt!


  • Lara Haworth – Das Abschiedsmahl
  • Aus dem Englischen von Stefanie Ochel
  • ISBN 978-3-910372-50-4
  • 144 Seiten. Preis: 23,00 €

David Park – Reise durch ein fremdes Land

Wieder einmal führt eine Reise nicht nur zu einem Ziel, sondern vor allem ins Innere des Reisenden selbst. Im Roman Reise durch ein fremdes Land schickt der nordirische Autor David Park einen Vater auf die tiefverschneiten Straßen Schottlands, um seinen Sohn zum Weihnachtsfest nach Hause zu holen. Die Motivation dieses halsbrecherischen Weihnachtskommandos offenbart sich erst später, dann aber mit aller Wucht.


Weihnachten, das ist noch immer das Fest der Familie. Unzählige Filme, Romane und Lieder variieren das Thema des Nachhause Kommens, allen voran der jüngst verstorbene Chris Rea hat mit seinem Evergreen Driving home for christmas das Topos der Weihnachtsreise musikalisch verewigt.

Menschen machen sich auf den Weg, um im Kreise ihrer Familie Weihnachten zu feiern, mal harmonischer, mal chaotischer. Aber immer ist es eine Reise, die Menschen wieder in ihre Heimat zurückbringt und dabei auch Erinnerungen an früherere Weihnachtsfeste weckt.
Eine Variante dieses Motivs liefert David Park in seinem Roman Reise durch ein fremdes Land, der allerdings nicht die jüngere Generation nach Hause reisen lässt, sondern einen Vater in den Mittelpunkt stellt, der sich aufmacht, seinen Sohn nach Hause zu bringen.

Von Nordirland nach Schottland und zurück

Dieser liegt krank an seinem Studienort in Sunderland an der Ostküste Großbritanniens danieder und so ist es am Vater, den verlorenen Sohn nach Hause zu bringen. Eine Reise mit dem Flugzeug scheidet aufgrund der starken Schneestürme aus und so macht sich der Vater am Steuer seines Autos von Nordirland aus auf den Weg, um seinen Sohn von der britischen Insel zu sich nach Hause auf die andere Insel zu holen.

„Ich fahre ganz vorsichtig. Hauptsache, sicher hinkommen, ganz egal wie lang es dauert, und ihn wieder nach Hause bringen.“
„Er darf an Weihnachten nicht allein sein, besonders dieses Weihnachten nicht.“, sagt sie ebenso sehr zu sich wie zu mir. „Nicht mal, wenn es ihm gut gehen würde. Und wenn es ihm jetzt so schlecht geht … Wir müssen ihn nach Hause bringen.“
Wir müssen ihn nach Hause bringen“ Der Satz kann in dem vereisten Wagen nirgendwohin, hängt in der Luft und erstarrt zu Schweigen.

David Park, Reise in ein anderes Land, S. 14

So kämpft sich der Vater nun über verschneite Straßen, setzt mit der Fähre von Nordirland nach Schottland über und frisst Meile um Meile in der vereisten und verschneiten Landschaft dort im Norden Großbritanniens. Unterbrochen von Anrufen seiner Frau Lorna und seinem Sohn Luke reist er immer weiter, seinem Ziel entgegen. Warum aber die Dringlichkeit geboten ist, den kranken Sohn just zu diesem Weihnachtsfest zu sich nach Hause zu holen, das entfaltet sich erst langsam in diesem reflexiven Text, der mindestens in dem Maß eine Reise zu Toms Gefühlen und Empfindungen ist, wie er auf seiner Reise Meile um Meile hinter sich bringt.

Eine Reise nach England – und eine Reise zu sich selbst

David Park - Reise durch ein fremdes Land (Cover)

Immer wieder gleiten die Gedanken Toms ab, landen bei seiner Familie und den Fliehkräften, denen diese ausgesetzt ist und war. Seine Herkunft, sein Werden zu einem Vater und die Gefahren, die das Leben als Familie bereithält, all das umkreist Reise durch ein fremdes Land.

Ohne an dieser Stelle zu viel verraten zu wollen, ist David Parks Text einer, der sich trotz des weihnachtlichen Rahmens und der nur vordergründigen Harmonie des Weihnachtsfest auch mit Traurigkeit und der Macht des Schicksals befasst.

Je länger man mit Tom an Bord seines Autos über verschneite Straßen reist, umso besser lernt man ihn kennen und ist aufgrund des reflexiven Charakters ganz eng dran an ihm. Parks Text kennt nämlich keine Kapitel und so manches Mal nicht einmal einen Punkt, stattdessen ist sein Text ein wirklich intensiver Strom an Gedanken und Meilen, bei dem sich die äußere Reise und inneren Gedanken immer wieder ablösen und ineinander übergehen.

Fazit

Wer weihnachtliche Besinnlichkeit und Plätzchenromantik sucht, der sieht sich bei Reise durch ein fremdes Land schnell getäuscht. Denn David Parks Text verweigert sich allzu wohlfeiler Harmonie und blickt lieber auf den Kern von Weihnachten, der sich ja mit der Familie, dem Zusammenhalt und dem Ausgestoßensein befasst.

Sein von Michaela Grabinger übersetzter Text ist ein anspruchsvolles Buch, das keine einfachen Botschaften bereithält, sondern stattdessen mit existenzialistischer Tiefe und Einsicht überzeugt, während man sich mit seinem Helden über die verschneiten Straßen der britischen Insel kämpft.


  • David Park – Reise durch ein fremdes Land
  • Aus dem Englischen von Michaela Grabinger
  • ISBN 978-3-8321-6652-6 (Dumont)
  • 192 Seiten. Preis: 13,00 €

Fjodor M. Dostojewski – Weiße Nächte

Vier Nächte lang treffen sich ein Mann und eine Frau in Fjodor M. Dostojewskis Erzählung Weiße Nächte in Sankt Petersburg. Dabei müssen beide feststellen, dass es ganz schön kompliziert sein kann, das mit der Liebe.


Weiße Nächte ist eine kurze Erzählung Fjodor Michailowitsch Dostojewskis, die aus dem Frühwerk des 1821 geborenen Autoren stammt. Der Insel-Verlag hat das Büchlein nun in einer schmucken Neuausgabe in Übersetzung durch Christiane Körner neu aufgelegt, die nicht nur die Übersetzung sondern auch das Nachwort zu Dostojewskis Text beisteuerte.

Kennt man den in Moskau geborenen Autor heute eher für voluminöse Werke wie Die Gebrüder Karamasow, Schuld und Sühne oder Der Spieler, so fällt dieses frühe Werk schon durch seinen schmalen äußeren Rahmen auf. Gerade einmal knapp 110 großzügig gesetzte Seiten weist die Erzählung auf, die auf vielen Seiten von Bildern der Künstlerin Stella Dreis ergänzt wird.

Sommer in Sankt Petersburg

Fjodor M. Dostojewski - Weiße Nächte (Cover)

Wir befinden uns in Sankt Petersburg, das sich als fast menschenleer präsentiert. Aufgrund des anstehenden Sommer haben sich fast alle der Stadtbewohner bereits auf ihre Datschen verabsentiert und so durchstreift der Erzähler alleine die Straßen und hält Zwiesprache mit den Häusern.

Nach eigenem Bekunden ist der Mann ein Flaneur und Träumer, der sich nicht nur in den Straßen, sondern sich ein ums andere Mal auch in seinen Gedanken und Sätzen verheddert.
Bei einem dieser Streifzüge trifft der Erzähler nun auf ein junges Mädchen, das nicht nur aufgrund ihres gelben Hütchens die Neugier des Mannes weckt. Vor allem ihr Schluchzen beschäftigt ihn, weshalb der Träumer den Grund für ihre Traurigkeit erfahren will.

Ein Mann ist es, der für den Zustand des Mädchens verantwortlich ist, wie die junge Frau im Gespräch gesteht. Denn eigentlich steht das Mädchen namens Nastenka unter dem Pantoffel ihrer alten Babuschka. Dies hat sogar so weit geführt, dass die blinde Alte das Mädchen an ihre eigene Kleidung angenäht hat, um eine Annäherung an das andere Geschlecht zu vermeiden. Doch wie es so ist mit den Plänen, so erwies sich auch die Absicht der Babuschka als nicht praktikabel. Denn Nastenka ist in unsterblicher Liebe zu einem jungen Mann aus der über ihr befindlichen Wohnung entbrannt und hat diesem ihre Liebe gestanden.

Liebeswirren in den weißen Nächten

Doch nun wartet sie auf Rückmeldung des Herren in Form eines Briefs und gerät darüber in höchste Erregung. Nicht leichter wird die Situation dadurch, dass der Erzähler zwar verspricht, bei der Kontaktaufnahme mit dem jungen Herren behilflich zu sein, anstelle reiner Nächstenliebe nun aber selber in Liebe zu der jungen Frau entbrennt, derer beider Lebenslinien (beziehungsweise derer drei, den Nebenbuhler eingeschlossen) sich nun in vier Nächten begegnen.

Zwischen Friendzone und unausgesprochenem Begehren mäandert die Handlung des Textes, den Übersetzerin Christiane Körner zurecht eher als Dramentext denn als wirklichen Roman charakterisiert. Denn die Handlung von Weiße Nächte besteht weitestgehend aus Gedanken und Dialogen, die das Gefühlschaos illustrieren, in dem sich Dostojewskis Figuren verfangen haben.

„Bleiben Sie, hören Sie mir zu: können Sie warten?
„Warten? Worauf?“
„Ich liebe ihn; doch das vergeht, das muss vergehen, es kann nicht anders sein; es vergeht schon jetzt, das spüre ich… Wer weiß, vielleicht vergeht es heute schon, weil ich ihn hasse, weil er über mich gelacht hat, während Sie hier zusammen mit mir geweint haben, weil Sie mich nicht abgewiesen hätten wie er, weil Sie mich lieben und mich nie geliebt hat, und schließlich, weil ich Sie liebe… Ja, ich liebe Sie auch! So, wie Sie mich lieben; ich habe es Ihnen ja schon einmal gesagt, Sie haben es selbst gehört – ich liebe Sie, weil Sie besser sind als er, weil Sie edler sind als er, weil er, weil er…“
Die Ärmste war so aufgewühlt, dass sie nicht zu Ende sprach, ihren Kopf auf meine Schulter, dann an meine Brust legte und bitterlich weinte.

Fjodor M. Dostojewski – Weiße Nächte, S. 96

Mit gelungener künstlerischen Ebene

Wer liebt nun wen und wem gilt die wirkliche Sympathie Nastenkas? Aus diesem Chaos in den Sommernächten Sankt Petersburgs strickt Dostojewski einen schon fast hektisch zu nennenden Text, der von den ruhigen Bildern Stella Dreis kontrastiert und ergänzt wird.

Mit fast scherenschnittartigen Silhouetten setzt sie ihre Figuren vor Hintergründe mit Farbverlauf, die so manches Mal an das nordische Spektakel der Polarlichter erinnern. Zuneigung, Einsamkeit und Fantasie, es steckt alles drin in den Bildern der in Bulgarien geborenen Künstlerin, die mit ihrer Arbeit vor zwei Jahren bereits für den renommierten Astrid Lindgren-Bilderbuchpreis nominiert war.

Mit ihrer Arbeit verleiht die Künstlerin dem 1848 erstmals erschienen Text eine Zeitlosigkeit, die Weiße Nächte gut zu Gesicht steht und die das kleine Büchlein vollends zu einem bibliophilen Kunstwerk macht.

Möchte man in den Kosmos Fjodor M. Dostojewskis mal hineinspitzeln oder eine andere Facette des russischen Schriftstellers abseits der bekannten Werke kennenlernen, dann empfiehlt sich die Lektüre von Weiße Nächte unbedingt. Und wer in Liebeswirren verstrickte Charaktere schätzt, für den ist die Lektüre sowieso ein Gewinn!


  • Fjodor M. Dostojewski – Weiße Nächte
  • Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Christiane Körner
  • ISBN 978-3-458-19537-5 (Insel-Bücherei)
  • 117 Seiten. Preis: 15,00 €

Anselm Oelze – Die da oben

Das junge Paar unten, die alteingesessenen Mieter darüber. In seinem Roman Die da oben blickt der Autor Anselm Oelze in das Leben zwei unterschiedliche Paare in einem Mietshaus in Leipzig – leider mit zu wenig Erkenntnisgewinn, als dass das Buch überzeugen könnte.


Mit seinem Debüt Wallace ließ der junge Schriftsteller Anselm Oelze aufhorchen. Damals erzählte er mithilfe von schrulligen Figuren von Alfred Russel Wallace, dem Mitentdecker der Evolutionstheorie, der heute dem Vergessen anheimgefallen ist. Sein Debüt weckte zumindest bei mir Assoziation zu Christian Krachts Imperium und Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt — nicht die schlechtesten Assoziation für ein literarisches Debüt.

Auf das Debüt folgte der Krisenroman Pandora sowie die Reportage Die Grenzen des Glücks über das Flüchtlingselend auf Lesbos und unsere Implikationen mit der himmelsschreienden Situation vor Ort. Mit Die da oben legt Anselm Oelze nun wieder Roman vor, mit dem er im Göttinger Wallstein-Verlag eine neue literarische Heimat gefunden hat.

Leider muss man nach der Lektüre des Romans konstatieren, dass Oelze auf dem Weg des Verlagswechsels leider auch irgendwo sein erzählerisches Gespür für Krisen und Konflikte und deren politische Dimension abhandengekommen sein muss. Denn Die da oben ist auf erschreckende Weise literarisch harmlos und schwach.

Zwei Paare im Leipziger Mietshaus

Die erzählerische Grundanlage ist dabei eine durchaus spannende. Ein Jahr bildet den erzählerischen Rahmen des Romans, der mit dem Einzug des jungen, queeren Paares Tess und Moyra in ein Mietshaus in der Leipziger Lisztstraße seinen Lauf nimmt. Nun endlich der Zusammenzug in eine gemeinsame Wohnung im hippen Leipzig, dazu die Verheißung der Räumlichkeiten im Erdgeschoss, die früher einen Getränkeladen beherbergten und in dem Tess nun als Schneiderin durchstarten möchte. Der Frühling hält viele Verheißungen bereit, bei denen sogar das Touchieren des blauen Twingos mit dem Umzugswagen das junge Glück nicht sonderlich trüben kann.

Im Leben der Twingobesitzer selbst ist jenes Glück allerdings schon lange nicht mehr in diesem Maße zuhause, wie es noch für das junge Paar den Anschein hat. Bei den Autobesitzern handelt es sich um Rolf und Heike, die die Wohnung über Tess und Moyra bewohnen, und das schon seit Zeiten vor der Wende.

Mit der eigenen Tochter ist es schwierig, obwohl Heike gerne mehr Kontakt mit ihr und den Kindern hätte. Rolf musste sich mit der Geschäftsaufgabe seiner Getränkeoase abfinden, die durch die neue Konkurrenz von Discountern und Lieferdiensten bedingt ist – nur um jeden Tag direkt vor der eigenen Nase Tess nun als Schneiderin in den Räumlichkeiten werkeln zu sehen, die für ihn so lange sein Leben bedeuteten.

Während der Roman nun im Jahreszeitenlauf voranschreitet, wohnt man dem Leben im Mietshaus bei, sieht Affären, Annäherungen und Enttäuschungen, verfolgt den Wunsch nach Kindern ebenso wie die Folgen der Verknappung des Wohnraums.

Alles bleibt hinter den Erwartungen zurück

Anselm Oelze - Die da oben (Cover)

Was sich dabei in der Theorie durchaus verheißungsvoll liest, bleibt in der Realität leider hinter allen Erwartungen zurück. Das Nebeneinander der zwei Paare, in dem so viel Potential geruht hätte, findet leider über das Niveau einer buchgewordenen Episode Lindenstraße nicht hinaus.

Unterschiedliche Generationen im Boomtown Leipzig, das parallele Leben von Alteingesessenen und Neuhinzugezogenen, die jungen Frauen und die schon Dagewesenen, der begehrte Wohnraum als Raum der Entfaltung und Spiegel des Selbst, die Verdrängungsbewegungen, all das hätte alles so viel Möglichkeiten geboten, diese Aspekte in ihrer Vielschichtigkeit herauszuarbeiten, auf die soziologischen bis historischen Dimensionen dieses Miteinanders zu blicken, womöglich sogar das Politische im Privaten und umgekehrt herauszuarbeiten: aber nichts da.

Das Buch bleibt die literarische Bearbeitung der gesellschaftlichen „Spaltung“, die der Klappentext verspricht, völlig schuldig. Zwar ist die Schwarze Identität von Moyra ein kleines Thema im Buch und in einer Szene vor Gericht kommt es zu einem Dirk Oschmann-haften Wutausbruch Rolf vor Gericht, ansonsten nutzt Oelze das innewohnende Konfliktpotential zwischen den beiden Generationen, den Lebensentwürfen zwischen Heteronormativität und Queerness, Ost und West, den Erfahrungen zwischen DDR und neuer Lebens- und Arbeitswelt, in keiner Weise aus.

Kein Gefühl von Vielschichtigkeit

Stattdessen bleibt der Schauplatz ebenso wie die Sprache austauschbar, schreitet das Buch ohne rechte Höhepunkte voran und beschränkt sich auf die Beschreibung von abgeschnittenen Koniferen, Dellen im Lack und der Tradition der Kurrende-Sängern des Thomanerchors. In interessante Tiefen stößt dieser Text leider zu keinem Zeitpunkt vor und verpasst es leider so auch, wenigstens das Gefühl von Vielschichtigkeit zu vermitteln.

Das ist besonders schade, da Anselm Oelze sein Gespür für Krisen und deren Kulminationspunkte ja mit seinen früheren Werken unter Beweis gestellt hat. Die da oben bleibt leider zahnlos und hinter anderen, schon erschienen Werken zurück.

Von den (vermeintlichen) Spaltungen der Gesellschaft mögen die Soziologen besser zu erzählen, die Brüche zwischen DDR und der Nachwendewelt haben andere Autor*innen wie Annett Gröschner oder Christoph Hein in diesem Jahr schon überzeugender herausgearbeitet. Blickt man statt der thematischen Ebene auf die literarische Ebene des Buchs, wird es auch nicht besser, denn sprachlich kann Anselm Oelzes Buch sich vom Gros der deutschsprachigen Literatur ebenfalls nicht abheben.
Obschon die Konstruktion des Buchs ein wenig vom Erwartbaren abweicht, zeigen sich im Ganzen dann auch Unklarheiten, was die Personenführung und -entwicklung anbelangt.

Fazit

So ist das alles deutlich zu wenig, als dass Die da oben irgendwelche neuen oder besonders gut herausgearbeiteten Themen überzeugen könnte. Vielleicht hat die Kurzbeschreibung des Buchs bei mir auch nur falsche Erwartungen geweckt, so oder so kann ich nur sagen: Schade um das nicht genutzte Potential dieser Geschichte.


  • Anselm Oelze – Die da oben
  • ISBN 978-3-8353-5977-2 (Wallstein)
  • 275 Seiten. Preis: 24,00 €