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Eugen Ruge – Pompeji

Redner, Strippenzieher, Machthungrige – mit seinem neuen Werk Pompeji legt Eugen Ruge einen historischen Roman vor, der sehr deutlich auf die Gegenwart zielt und auf unseren Umgang mit nahenden Katastrophen und auf rhetorisches Blendwerk blickt.


Wobei, ist das wirklich ein historische Roman? Eigentlich nicht, denn das, was Eugen Ruge in Pompeji verhandelt, das ist in der Wahl des Gegenstandes und der Erzählmittel so gegenwärtig und aktuell, dass man auch vonseiten des dtv-Verlags auf eine Labelung als historischer Roman verzichtet hat und stattdessen einfach die Zuschreibung des Romans auf das eruptive Cover gesetzt hat.

Eugen Ruge - Pompeji (Cover)

Im Gegensatz zum englischen Bestsellerautor Robert Harris, der im Jahr 2004 den Vulkanausbruch von Pompeji in seinem gleichnamigen Roman verarbeitete, ist Ruge Werk deutlich mehr als eine Nacherzählung jener damaligen Ereignisse, die Harris einst in seinem Roman darbot. In dessen acht Tage umfassender Schilderung stützte sich der britische Autor auf einen Krimiplot rund um eine Verschwörung am Fuße des Vesuv, um mit den Mitteln des Spannungsromans das bekannte historische Ereignis zu garnieren.

Ruge verzichtet auf solche erzählerischen Hilfsmittel. Er interessiert sich mehr für Machtpolitik, für Lobbyarbeit und die Strategien zur Verdrängung unangenehmer Erkenntnisse, womit Pompeji viele Anknüpfungspunkte zur Gegenwart aufweist. Allen voran liest sich sein Buch wie ein Kommentar auf die sich abzeichnende Klimakatastrophe, auch wenn es im Buch die Erkenntnis eines aktiven Vulkans ist, die statt der heutigen Erkenntnisse über den notwendigen Wandel unseres Lebens verdrängt wird.

Interesse am politischen Pompeji und den Mechanismen der öffentlichen Meinung

Konzentrierte sich der Handlungsrahmen bei Robert Harris damals auf das Ausbruchsjahr 79 nach Christus, fasst Eugen Zeit und Material deutlich weiter. Sein Interesse gilt dem Leben dort in Pompeji vor der Katastrophe. Schon einmal war die Stadt einige Jahre zuvor von einem schweren Beben erschüttert worden. Doch die Bequemlichkeit der Menschen hat rasch für eine Verdrängung der damaligen Katastrophe gesorgt. Schon längst hat man wieder zu einem Alltag gefunden, den Ruge in seiner Fantasie schildert. Pompeji alias Colonia Cornelia Veneria als Ort der Politik, als Forum der öffentlichen Meinungen, das ist es, was ihn im vorliegenden Werk beschäftigt.

Dies ist der wahre Bericht vom Untergang Pompejis und seiner Bewohner. Dies ist die Geschichte des Vulkanvereins von seinen chaotischen Anfängen bis zu dem Tag, da er sich zu Tode feierte. Aber vor allem ist dies die Geschichte seines Gründers oder jedenfalls des Mannes, der sich dafür hielt. Es ist die Geschichte des vielbewunderten, vielgeliebten, aber auch vielgehassten, des unglaublich schlauen, aber vielleicht auch ganz mittelmäßigen Bürgers Jowna alias Josephus alias Josse.

Eugen Ruge – Pompeji, S. 11

Jener Josse steht im Mittelpunkt des Romans. Eigentlich stammt er aus niederem Geschlecht, ist Sohn eines aus Pannonien geflohenen Metzgers, der sich nun in Kampanien niedergelassen hat. Dort lebt er zusammen mit seiner Frau Jadwiga und dem kleinen Sohn in ärmlichen Umständen.

Vom Sohn eines Metzgers zum Bewerber um das Kapitol

Seinen Sohn hat der Metzger als Zeichen der Assimilierung und der Bewunderung des römischen Lebensstils dort in Pompeji auf den Namen Josephus ins Register eintragen lassen. Später wird daraus Josse. Ein Muster für den Umgang mit der eigenen Identität und Legende, der später noch viele weitere Beispiele folgen sollen.

Jener „Josse“ Josephus begreift Pompeji als Spielfeld, das zum gesellschaftlichen Aufstieg und den kreativen Umgang mit der eigenen Identität einlädt. So schart er eine Gruppe junger Taugenichtse um sich, verbringt die Tage zwischen Körperertüchtigung und Debatten.

Erst der Auftritt eines griechischen Sachverständigen wird zum Wendepunkt in Josses bislang recht ereignislosem Leben. Dieser hält einen Vortrag im sogenannten Vogelschutzverein, den Josse und seine Getreuen eigentlich nur der Aussicht auf die Anwesenheit von Frauen wegen besuchten. Doch die im Vortrag geäußerten Erkenntnisse des Griechen, man lebe in Pompeji auf einem Vulkan, fasst Josse trotz fehlender rhetorischer Ausbildung kurz und prägnant zusammen, sodass der junge Mann dort das erste Mal von sich reden macht.

In der Folge wird er weitere Reden halten, wird unter die Fittiche eines Rhetoriktrainers genommen, macht die Bekanntschaft mit Aufsteigern in Pompeji, wird eine Kolonie am Meer gründen, für die Abkehr von der Stadt und ein sicheres Leben in seiner Kolonie werben, um nach der Bekanntschaft mit einer höherstehenden Pompejianerin schließlich die genau umgekehrte Botschaft zu verkünden und mithilfe seines von Unterstützern finanzierten neuen Vulkanvereins für ein Leben mit dem Vulkan werben.

Der Aufstieg von Josse in Pompeji

Eugen Ruge zeigt in seinem Werk einen Aufsteiger, der teils aus günstigen Umständen, teils aus eigenem Vermögen und teils aus eigenem Unvermögen immer höher in die pompejianeische Gesellschaft aufsteigt. Mit rhetorischem Geschick und viel Blendwerk macht er von sich reden, stachelt Menschen an und wird wiederum von der Machtelite als Werkzeug benutzt.

Damit knüpft Eugen Ruge ein Stück weit an Werke wie Bertolt Brechts Der unaufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui an. Zugleich beschreibt er auch Mechaniken von Demagogen und Verführern, die in Sachen eigener Standpunkte eine erstaunliche Wendigkeit und Ungreifbarkeit an den Tag legen. Und nicht zuletzt beschreibt Pompeji auch die politischen Versuche, aus einer sich abzeichnenden Katastrophe politisches Kapital zu schlagen.

So porträtiert Eugen Ruge Josse als Aufstieger, der es schließlich bis zum ernsthaften Bewerber für das Kapitol schafft, nachdem seine Getreuen in einer Schmutzkampagne andere Kandidaten aus dem Rennen geschlagen haben. In Pompeji ist es eben nicht nur der Vulkan, der Dreck in die Luft schleudert. Dirty Campaigning, Super-PACS – Begriffe, die man (noch) aus dem US-amerikanischen Wahlkampf rund ums Kapitol kennt, Ruge zeigt sie in seinem Roman schon als Mittel des antiken Kaitolwahlkampfs. Er zeigt Josse als Profiteur der Krise, die er selbst fleißig befeuert, um an die Macht zu gelangen.

Moderne literarische Gestaltungsmittel

Auch die literarischen Gestaltungsmittel des Buchpreisträgers sind doch eher Mittel von heute. Da gibt es Invektive zu lesen, die wenig römisch, dafür sehr zeitgemäß sind. Im Wahlkampfstress um das Kapitol muss Josses Geldgeberin und Chefstrategin einmal feststellen, dass ihr Besitz um ganze vier Prozent gesunken ist, obschon die Prozentrechnung erst im 15. Jahrhundert und die Betriebswirtschaftslehre noch einmal deutlich später erfunden wurde. Josse predigt, man müsse lernen „mit dem Vulkan zu leben“.

Das erinnert in seiner Inszenierung von historischem Stoff mithilfe von moderner Mittel und klarer Brüche in Sachen historischer Geschlossenheit stark an Regiearbeiten etwa von Baz Luhrman.

Das kommentierende und erzählende Wir führt die Lesenden immer wieder an der Hand, blendet sich aus Gesprächen aus, rafft Erkenntnisse und Handlungen zusammen, nimmt Vorausschauen vor und leitet quecksilbrig durch die Ereignisse.

Fazit

So ist Pompeji eine große literarische Freude. Mehr Don’t look up denn historische Nacherzählung, auch wenn Ruge im Nachwort versichert, die historischen Umstände und intellektuellen Bewegungen sehr akkurat studiert zu haben.

Hier wagt ein Autor, einen historischen Stoff auf seine Gegenwärtigkeit abzuklopfen, mit den literarischen Möglichkeiten zu spielen und aus der Vergangenheit auf das Jetzt zu blicken. Mit großem Gespür für politische Manipulationstechniken, rhetorische Nebelkerzen und die Skrupellosigkeit von Machteliten, der der Ruges Aufstieger Josse hier begierig nacheifert ist das ein hervorragender und themensatter Roman geworden, den man nur loben kann!


  • Eugen Ruge – Pompeji
  • ISBN 978-3-423-44177-3 (dtv)
  • 429 Seiten. Preis: 21,99 €
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Teresa Bücker – Alle Zeit

„Wir sagen: die Zeit vergeht. Dabei sind wir es, die verschwinden.“

Thomas Hettche – Pfaueninsel

So bringt das kleinwüchsige Schlossfräulein Maria Dorothea Strakon in Thomas Hettches famosen Roman Pfaueninsel die ganze Absurdität unseres Umgangs mit der Zeit auf den Punkt. Sie beobachtet das Werden und Vergehen dort auf der Insel, sieht Königinnen kommen und Könige gehen, ein ganzes neues Jahrhundert heraufdämmern – nur die Zeit, sie sieht sie nicht. Es sind nur Besucher*innen von außen, die dort ein Gefühl der Existenz von Zeit auf die Insel bringen, wenn sie sich etwa nur eine bestimmte Dauer dort zugestehen oder wenn im Altern der Besucher*innen das Verstreichen von Zeit offenbar wird.

Und tatsächlich ist die Beobachtung aus dem Roman ja eine durchaus richtige. So wirklich greifbar ist die Zeit nicht, sie kann nur mit Hilfsmitteln erfasst werden und ihr Vergehen lässt sich nur über das Voranschreiten von Verfall oder Fortschritt erkennen. Doch ist die Zeit der alles entscheidende Taktgeber der Moderne geworden. Was uns im Umgang mit der Zeit dabei eint, ist meist das Gefühl, zu wenig von ihr zu haben. Zu wenig Zeit für Freunde, Familie, Hobbys, drohende Deadlines im Job und oftmals ein Gefühl der Erschöpfung, wenn der Tag wieder zu wenig Stunden hat.

Doch es könnte auch ganz anders sein. Wie eine gerechtere Zeitpolitik aussehen könnte, was sich für uns und die Gesellschaft ändern könnte und was plötzlich möglich wäre, das ergründet Teresa Bücker in ihrem durchdachten und weitgreifenden Manifest, das mit Verve für eine neue Zeitpolitik plädiert. Denn was wäre, wenn wir sie plötzlich hätten – Alle_Zeit?


Es ist eine einfache Frage, die sich wohl viele schon einmal gestellt haben und die Teresa Bücker an den Anfang des vierten Kapitels in ihrem Buch stellt: Was würden Sie machen, wenn Ihr Tag plötzlich 25 Stunden hätte? Eine Stunde mehr, die man auf ganz individuelle Art und Weise nutzen könnte. Ein verlockender Gedanke, den Bücker als Ausgangslage für das Nachdenken über freie Zeit nutzt.

Denn obschon wir Zeiterfassungen zufolge über mehr freie Zeit verfügen, immer länger leben, die Arbeitszeit sank und die Urlaubstage stiegen, so sind es doch über 26 Millionen Menschen, die den Erfassungen nach angeben, zu wenig Zeit zur Verfügung zu haben. Druck in der Arbeit, überforderte Familien und allgegenwärtiger Stress sind nur ein paar Faktoren, an denen sich das Gefühl des Zeitmangels ablesen lässt. Doch es könnte alles anders sein, folgt man Teresa Bückers faktengesättigten Überlegungen und Denkansätzen. Denn es wäre möglich. Wir könnten auch in einer entspannteren, gerechteren und auf vielfältige Art und Weise reicheren Gesellschaft leben, wenn wir denn nur wollten.

Zeitgerechtigkeit herzustellen bedeutet radikale Umverteilungspolitik.

Teresa Bücker – Alle Zeit, S. 231

Diese Umverteilungspolitik, ihre Ansatzpunkte und Chancen erläutert Bücker über insgesamt sechs Kapitel, bevor sie die Kernthesen im Schlussteil (K)eine Utopie noch einmal prägnant vorstellt und formuliert.

Niemals genug Zeit

So geht Teresa Bücker zunächst der Frage nach, warum uns die Zeit in einer Gegenwart von 24/7-Verfügbarkeit doch niemals reicht und warum auch die freie Zeit, die doch eigentlich der Erholung dienen sollte, so oft vom Beruf durchdrungen ist. Dem folgt im Kapitel Arbeits_Zeit die Betrachtung unserer Gesellschaft, die sich zum überwiegenden Teil über die Erwerbsarbeit definiert. Unsere Anerkennung von Vollzeitarbeitenden und die Geringschätzung von häuslichen Tätigkeiten oder gar Arbeitslosigkeit sind Themen des Kapitels, das Bücker hier auch aus ihrer persönlichen Perspektive betrachtet.

Teresa Bücker - Alle_Zeit (Cover)

Ihre Rolle als Mutter, das Unwohlsein in Gesprächen, sich als arbeitslose Erziehende zu erkennen zu geben, statt einem „geregelten“ Auskommen nachzugehen, dies ist eine der wenigen persönlichen Anekdoten, die sie zur Illustrierung ihrer These vorbringt. Derlei Einsprengsel bleiben im Text allerdings auf ein Minimum reduziert, vielmehr arbeitet Bücker überwiegend studiengestützt faktual und arbeitet mit vielen Quellen und Zitationsnachweise – fast 500 Fußnoten umfasst der Anmerkungsapparat.

In den weiteren vier Kapiteln von Alle_Zeit spürt die Autorin dann der Care-Arbeit und einer neuen Aufteilung derselben nach, stellt die Frage nach der Bedeutung und dem Platz von Kindern in unserem Konzept von Zeit und kommt vom Privaten und dem damit verbundenen Feld der freien Zeit (in dem beispielsweise auch so etwas wie der Begriff des Zeitkonfetti aufgegriffen wird) zum Politischen. Denn auch politisches Engagement in ganz unterschiedlichen Facetten und Ausprägungen zählt zu Bückers Idee einer neuen Zeitkonzeption, kann diese doch auch bedeuten, dass bislang unterrepräsentierte Vertreter*innen unserer Gesellschaft wie Alleinerziehende, Menschen aus unteren Lohngruppen, Nicht-Weiße oder Menschen mit Migrationshintergrund besser als bislang für ihre Belange eintreten könnten.

So schlägt Teresa Bücker den Bogen von der Problembeschreibung über eine maximalbreite Skizzierung eines neuen Zeitkonzepts bis hin zu Umsetzungsideen und den damit verbundenen Möglichkeiten, die der Idee einer neuen Form von Umgang mit der Zeit beinhalten.

Auf der Höhe der diskursiven Gegenwart

Das Buch ist, obschon im letzten Jahr erschienen, absolut auf der Höhe der diskursiven Gegenwart. Die Debatten um eine 4-Tage Woche greift Bücker genauso auf, wie sie für eine fairere Verteilung der Care-Arbeit und „privaten“ Lasten eintritt. Warum gilt es immer noch als neoliberales Ideal, alle Menschen in Vollzeit-Beschäftigung zu bringen? Bücker argumentiert für ein Teilzeit für alle, die Ressourcen schon, Potenziale eröffnet, freie Zeit für sich, die Gemeinschaft und den sozialen Zusammenhalt von Familie und Gesellschaft ermöglicht. Mit ihrer Theorie einer neuen Zeitverteilung erschafft sie einen Denkansatz, der in so gut wie alle Lebensbereiche hineinragt und viele heutige Mangellagen berührt.

Die unzureichende Pflegesituation, die aktuell durch die Schwächung anderer Länder in Form von Abwerbung von Arbeitskräften funktioniert. Fehlende Kitaplätze und Erzieher*innen, die zu überlasteten Familien führen, denen als Antwort auf fehlende Entlastung und die schwierige Vereinbarkeit von Vollzeit und Kinderbetreuung oftmals entgegengehalten wird, das man sich das mit dem Kinderbekommen vorher einmal besser überlegen hätte sollen. Die ökologische Transformation, die ein solche Konzept mit weniger Arbeit und mehr Gesellschaftszeit unterstützen würde – an vielen Punkten zeigt sich, wie ausgearbeitet und konkret die Thesen Bückers sind, die unsere unmittelbare Gegenwart betreffen. Was sich von Familien- und Umweltpolitik bis hin zur Arbeitspolitik ändern und verbessern würde, das führt sie mit viel Verve aus:

Eine Arbeitspolitik für das 21. Jahrhundert muss aber sehr viel mehr tun, als sich nur mit den Bedingungen und der Sicherheit von bezahlten Arbeitsplätzen zu befassen. Sie muss dafür Sorge tragen, dass alle gesellschaftlich notwendigen Arbeiten auf zumutbare Weise übernommen werden können und dass sie honoriert werden. Es ist Aufgabe der Arbeitspolitik, alle Formen von Arbeit so zu verteilen, dass sie niemanden zeitlich oder gesundheitlich überlastet, denn freie Zeit ist ein Menschenrecht.

Die Länge der Arbeitstage und mit ihr die Menge der freien Zeit müssten sich annähern, damit alle Menschen die gleichen Chancen haben, sich jenseits der Arbeit frei zu entfalten. Dass Menschen trotz Arbeit arm sind, dürfte nicht akzeptiert werden. Eine Arbeitspolitik von heute muss außerdem klima- und umweltschädliche Arbeit regulieren und die Entstehung emissionsarmer Jobs fördern, damit Arbeit nicht unsere Lebensgrundlage zerstört. So verstanden, wäre Arbeitspolitik nicht nur Zeitpolitik für unsere Alltagszeiten, sondern auch Politik für die globale Zukunft.

Teresa Bücker – Alle Zeit, S. 54 f.

Eine neue Form von Wohlstand

Logo Deutscher Sachbuchpreis 2023

Folgt man Bückers bestechender Argumentation könnte eine fairere Gesellschaft entstehen, die nicht mehr auf Wachstum, denn auf sozialen Reichtum setzt. Wofür dann aber auch die Übermacht des Patriarchat beendet werden muss, denn Zeitwohlstand bedeutet auch eine faire Lastenaufteilung zwischen Partner*innen (dabei vergisst Teresa Bücker auch queere Lebensentwürfe in Alle_Zeit nicht und denkt diese explizit mit).

Eins ist ihre Idee einer neuen Aufteilung der Macht und Freiheit dabei allerdings nicht, wie Bücker am Ende des Buchs noch einmal nachdrücklich klar macht. Denn Alle_Zeit will keine Utopie sein, die man so betitelt leicht ins Reicht der Fantasie verschieben könnte. Vielmehr bietet das Buch neben der Problembeschreibung einen konkreten Handlungsfaden, der schon jetzt zur Umsetzung kommen könnte, wenn wir alle – Politik und Zivilgesellschaft eingeschlossen – denn nur wollten.

Sich eine Zukunft vorzustellen, in der die Erwerbsarbeit einen wesentlich kleineren Teil des Lebens einnimmt und stattdessen mehr Zeit für andere Dinge bleibt, fällt vielen Menschen schwer. Sie deuten diesen Gedanken als Träumerei, die wir uns ab und an erlauben können, nicht als reale Möglichkeit, anders zu leben. Schließlich gibt es als Sehnsuchtsort den Ruhestand, mit dem wir angeblich in ein Meer aus freier Zeit hinübertreten. Wir werden ja weniger arbeiten: nur später.

Freie Zeit als neuer, als anderer Lebensabschnitt. Um weniger arbeiten zu können, muss die Zeit für uns erst neu beginnen. Diese Beruhigungstaktik, dass wir irgendwann all die Zeit haben werden, um das zu tun, wonach wir uns sehnen, schadet uns jedoch in der Gegenwart, da wir unsere Bedürfnisse damit nicht als etwas Unmittelbares, Wichtiges begreifen, sondern stattdessen verinnerlichen, dass sie etwas Zukünftiges sind: Wir dürfen etwas anderes wollen, überhaupt etwas wollen, aber nicht jetzt. Später. In der Gegenwart sollen wir bedürfnislos sein.

Wir sollen uns mit den Gegebenheiten arrangieren und das Beste aus ihnen machen. Die Gegenwart ist damit nur eine Übergangsphase, bis das richtige Leben beginnt. Wenn wir unsere Gegenwart jedoch nicht als relevant betrachten, sondern als Vorstufe zu etwas, das erst noch kommen wird, dann entpolitisieren wir sie. Wir trainieren uns darauf, auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Aber wann beginnt die richtige Zeit? Unendliche Geduld und sanft formulierte Ideen werden zur Tugend, konkrete Ideen, Forderungen und Warnungen hingegen als Aktivismus diffamiert. Es gilt als zu radikal, in der Gegenwart zu handeln. Doch wenn das Jetzt nicht zählt, wie steht es dann um unsere zukünftige Gegenwart?

Teresa Bücker – Alle_Zeit, S. 128 f.

So entsteht ein runder Text, an dem es aufgrund seines Anspruchs und der damit Schritt haltenden Argumentation und theoretischen Unterfütterung nichts auszusetzen gilt. Dass ein Inhaltsverzeichnis inklusive Unterkapiteln und eine nach Kapiteln gegliederte Ordnung der fast 500 Zitationsnachweise im Anhang des Buchs die Übersichtlichkeit etwas erhöht hätten, sind Petitessen, die angesichts des ansonsten mehr als überzeugenden Ganzen nicht ins Gewicht fallen.

Fazit

Der Reichtum und die Schlüssigkeit von Bückers neuem Zeitmodell und die vielfachen Anknüpfungspunkte an die Debatten verbunden mit der Vision einer gerechteren Gesellschaft machen aus Alle_Zeit eine unbedingte Empfehlung, der eine maximal große Leserschaft und Diskurs über die Thesen zu wünschen ist. Es handelt sich bei Bückers Buch um eine gute Wahl für die Nominierung zum Deutschen Sachbuchpreises 2023 und in meinen Augen auch um einen würdigen potentiellen Siegertitel, beweist Bücker hier doch Mut zu einer klugen Vision und liefert darüber hinausgehend auch Umsetzungsstrategien hin zu einer gerechteren und besseren Gesellschaft.

Alle_Zeit ist ein holistisches Gedankengebäude, das dem Gedanken für ein zeitgerechteres Miteinander in allen Konsequenzen und der gebotenen Tiefe nachgeht. Für die Lektüre dieses bedenkenswerten Buchs sollte man sich auf alle Fälle eines wirklich nehmen, nämlich Zeit!


  • Teresa Bücker – Alle Zeit
  • ISBN 978-3-550-20172-1 (Ullstein)
  • 400 Seiten. Preis: 21,99 €
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Robert Menasse – Die Erweiterung

Nach Die Hauptstadt folgt Die Erweiterung. Sechs Jahre nach dem Erscheinen seines gefeierten und mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten EU-Romans wagt sich Robert Menasse nun an die Fortschreibung seiner Version der Europäischen Union. Kann das gelingen?


Sechs Jahre sind eigentlich keine allzu lange Zeit. Blickt man allerdings auf die Europäische Union und ihre Entwicklung seit dem Jahr 2017, als Robert Menasses Die Hauptstadt erschien, so kommt es einemdiese Zeitspanne doch eher wie ein Jahrzehnt oder noch deutlich länger vor.

Endlose Diskussionen rund um den Brexit und das finale Ausscheiden Großbritanniens aus der EU, der Rechtsdrift Polens und Ungarns mitsamt bedenklicher verfassungsrechtlicher Entwicklungen, Diskussionen um illegale Pushbacks an den EU-Außengrenzen, eine EU-Wahl mit zwei Spitzenkandidaten für Vorsitz der EU-Kommission, von denen anschließend keiner gewählt wurde, um lieber in bester Hinterzimmermanier eine deutsche Präsidentin zu installieren, die gar nicht auf dem Wahlzettel stand. Das Erstarken der rechten Kräfte in vielen Ländern, endlose Gipfel mit viel Streit um Themen wie Klimaschutz, Migration und Co. und wenig Ergebnissen sowie fehlende Zukunftsvisionen und Ideen für eine Entwicklung des europäischen Staatenverbundes. Kraftlos angesichts vieler Entwicklungen im Inneren und Äußeren, wenn nicht schon ganz abgehängt, so wirkt die EU dieser Tage.

Umso spannender die Frage, wie Robert Menasse als Verfechter der EU und ihrer Institutionen nun sechs Jahr seit seinem letzten Roman diese Entwicklungen aufgreifen würde und wie sein literarischer Kommentar auf den aktuellen Zustand ausfallen würde.

Albanien in die EU?

Ziemlich lang, überfrachtet und nicht wirklich stringent, so die Erkenntnis nach der Lektüre von Die Erweiterung. Dabei setzt Robert Menasse wie schon im ersten Band seiner EU-Saga auf das Stilmittel des Ensembleromans, um seine Geschichte(n) zu erzählen. Sogar der Auftakt seines neuen Romans kopiert die Monatetechnik des EU-Erstlings. War es damals ein Schwein, das durch Brüssel rannte, so bringt diesmal der Helm des Skanderbeg verschiedene Menschen im Kunsthistorischen Museum in Wien zusammen.

Dieser aus Albanien stammende Kopfschmuck ist es dann auch, der im Folgenden eine zentrale Rolle spielt und der für viel Verwirrung sorgt. Auslöser des Ganzen sind die Pläne der EU, die über Beitrittsgespräche mit Albanien grübelt. Soll man das Land in den europäischen Staatenverbund dazu holen? Keine leichte Frage, über die dann natürlich auch diverse Diplomaten und Technokraten auf verschiedensten EU-Ebenen grübeln müssen und die sich in Gestalt des Diplomaten Karl Auer auch selbst ein Bild der Lage vor Ort machen.

Keine Ahnung. Überhaupt: Tausende Touristen. Das hatte ihn schon in Saranda erstaunt. Wieso war dieses Land so überlaufen, von Touristen aus aller Welt, während es doch das Image hatte, ein schwarzes Loch mitten in Europa zu sein, terra incognita, nach Jahrzehnten der Abschottung völlig unbekannt, und kein Mensch hatte einen Vorstellung, eine Ahnung, und wenn, dann dachte man an Mittelalter oder an Schrullen, wie die Tausenden kleinen Bunker, die ein verrückter Diktator hatte errichten lassen, aber wenn man das erwähnte, galt man schon als Albanien-Spezialist … Es war so rätselhaft wie ermüdend.

Robert Menasse – Die Erweiterung, S. 51

Währenddessen treiben der ehemalige Basketballspieler und jetzige albanische Ministerpräsident Zoti Kryeministër als ZK und sein Einflüsterer, der poetisch veranlagte Fate Vasa, ihre Mission voran. Nach dem Veto Frankreichs gegen EU-Beitrittsverhandlungen wollen sie die EU zu Verhandlungen zwingen. Ihre Idee dahinter – ein potentielles albanisches Großreich als Schreckensvision, das die Verhandlungspartner an den Tisch zwingen soll. Zentrales Machtinstrument in ihrem Plan der Versammlung aller albanischen und albanisch-stämmigen Menschen ist dabei der Helm des Skanderbeg, der seinen Träger als Anführer aller Albanier*innen legitimiert.

Der Helm des Skanderbeg

In der Folge entspinnt sich ein groteskes Verwirrspiel um den Originalhelm und dessen Diebstahl aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien, eine von einem Schmied in Tirana angefertigte Kopie des Helms, den Ministerpräsidenten und seinen listigen Einflüsterer auf der einen und die EU-Bürokraten auf der anderen Seite.

Robert Menasse - Die Erweiterung (Cover)

Jene Bürokraten sehen sich zudem an vielen anderen Fronten gefordert. Adam Prawdower, der als Adviser Western Balkans Strategy bei der EU beschäftig ist, stammt aus Polen und ist über die Entwicklung des Landes unter Führung seines Jugendfreundes und Solidarnosc-Gefährten Mateusz hin zu einem autoritären Staat zunehmend beunruhigt. Karl Auer von der Abteilung D.4 Albanien, Bosnien und Herzegowina verliebt sich in die albanische Diplomatin mit dem sprechenden Namen Baia Muniq. Um diese Personen herum gruppiert Menasse noch österreichische Kommissare, albanische Ex-Journalisten und schlussendlich sticht das gesamte Ensemble auf den letzten hundert Seiten dieses mit 650 Seiten wirklich voluminösen Romans dann auch noch in See, an Bord des Staatsschiffs SS Skanderbeg.

Robert Menasse hat sich viel vorgenommen für seinen Roman. So greift er Entwicklungen aus den letzten Jahren mal mehr und mal weniger deutlich auf. Die schleichende Radikalisierung Polens ist bei ihm ein zentrales Thema, die anderen Themen wie der Brexit tauchen nur als kleiner Running Gag auf, etwa wenn der zum Iren gewordene David Charlton des Öfteren als Brite geschmäht wird, woraufhin er sich mit einem Hinweis auf seine irische Nationalität rechtfertigt.

Die Erweiterung des Kosmos von Robert Menasse

Nicht nur in der Montagetechnik dieses Ensembleromans knüpft Die Erweiterung an Die Hauptstadt an. Auch tauchen immer wieder kleine Verweise in Form von Motiven wie einem Schwein, Senf oder den nicht-funktionalen Kaminen in Brüssel auf. All das ist schön gelöst und steht in Tradition von Menasses erstem EU-Roman.

Und doch leidet das Buch unter einer Unwucht und mangelndem erzählerischen Fokus. Immer wieder verliert sich Menasse in Passagen wie etwa der über ein konsequent fehlerhaft befülltes Kreuzworträtsel oder biographische Exkurse etwa über einen namentlichen Doppelgänger Siegfried Lenzens oder die Frage um den Verbleib der SS-Standarte Skanderberg.

Neben solch kleinen den Lesefluss hemmenden Exkursen ist aber auch der große Plot wenig ausbalanciert. So stellt zwar der Klappentext den Konflikt zwischen Mateusz und Adam über das Schicksal Polens in den Mittelpunkt, tatsächlich spielt der Roman aber zum überwiegenden Teil in Albanien und ist eher auf die Beitrittsverhandlungen und deren strategischen Volten denn den polnischen Rechtsdrift fokussiert.

Eine Einführung in die Landeskunde Albaniens

An vielen Stellen wirkt Die Erweiterung wie eine Einführung in Sachen Landeskunde Albaniens. Dieses Land, das man wohl noch am ehesten für das Wüten des Diktator Enver Hoxhas oder als Herkunftsland von Mutter Teresa kennt, Robert Menasse für in seine wechselvolle Geschichte in aller Tiefe ein und beschert dabei viele neue Erkenntnisse, vom Rohstoffreichtum des Landes bis hin zu seiner muslimischen Prägung.

Aber zwischen EU-Beitrittsverhandlungen, dem schon manchmal an Slapstick erinnernden Hin und Her um den Helm des Skanderbeg und das abschließende Chaos auf der Jungfernfahrt des Staatsschiffs, das entgegen der Buchaufmachung einen deutlich geringeren Teil als angenommen einnimmt, mag sich einfach kein Gefühl eines runden Plots und einer stringenten Erzählentwicklung einstellen.

Zwar ist die Schlusspointe und die Metapher des Schiffs ganz grandios (inklusive eines Schiffsarzt, der natürlich, wie könnte es anders sein, auf den Namen Schumann hört), die vorherige erzählerische Unwucht und überbordende Detailfülle kann das aber leider auch nicht gänzlich retten.

Fazit

So gelingt es Robert Menasse in meinen Augen leider nicht wirklich, an seinen grandiosen ersten EU-Roman Die Hauptstadt anzuknüpfen. Allzu viele Themen mag er in seinem Roman verhandeln. Themen, zwischen denen sich keine rechte Balance findet und die in ihrer Fülle neben zu vielen erzählerischen Exkursen leider ein Gefühl der Unwucht und mangelnden gestalterischen Orientierung ergeben. Schade drum – aber als Einführung in die wechselvolle Geschichte Albaniens immerhin großartig!

Andere Meinungen gibt es unter anderem bei SWR und dem Deutschlandfunk.


  • Robert Menasse – Die Erweiterung
  • ISBN 978-3-518-43080-4 (Suhrkamp)
  • 653 Seiten. Preis: 28,00 €
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Adam LeBor – District VIII

Ein ungarischer Ministerpräsident, der nach Gutsherrenart regiert und für seinen eigenen Machterhalt über Leichen geht? Der langjährige Ungarn-Korrespondent Adam LeBor zeichnet in seinem Krimi District VIII ein ungeschöntes Bild der Zustände in Ungarn, erinnert an die Anfänge der „Flüchtlingskrise“ 2015 und schickt einen neuen Ermittler auf die Straßen Budapests.


Balthazar Kovács heißt dieser Ermittler, der als Kriminalbeamter bei der Budapester Mordkommission seinen Dienst versieht. Eine anonyme SMS lockt ihn am Morgen des 4. September 2015 zur Grenze des VIII. Bezirks in der Nähe des Platzes der Republik. Dort auf einem verlassenen Grundstück sollte sich eigentlich eine Leiche befinden. Doch als Kovács den Tatort betritt, ist die Leiche verschwunden. Lediglich eine SIM-Karte kann er an dem potentiellen Ort eines Verbrechens ausmachen, das ist alles.

Ein kleiner Roma-Junge aus dem VIII. Bezirk gibt Kovács einen Hinweis, doch dann tauchen schon Mitglieder der Gendarmerie auf, die den Tatort als den ihrigen reklamieren. Anführer der Gruppe ist Kocács´ ehemaliger Kollege Attila Ungar, der den Budapester Mordermittler bedroht und einschüchtern möchte. Doch das lässt sich der sture Kriminalbeamte nicht sagen, sein Instinkt in Sachen Verschleierung von größeren Ungereimtheiten ist geweckt. Und so beschließt er gegen die Order der omnipräsententen Gendarmen nach Rücksprache mit seinem Chef eine geheime Ermittlung durchzuführen.

Schnell stellt sich heraus, dass der Ermittler mit Romnja-Wurzeln hier in ein Wespennest gestochen hat. Denn Spuren zum Verbrechen führen zu seiner eigenen Familie, die den VIII. Bezirk in Budapest kontrolliert. Spuren führen aber auch zum Keleti-Bahnhof, in dem tausende Geflüchtete ausharren, darunter auch die Familie des Ermodeten, der aus Syrien geflohen war. Und auch die Politik mischt kräftig in der Sache mit, allen voran die Justizministerin Réka Bardossy und der skrupellose ungarische Ministerpräsident Pal Pálkovic, der seine Finger im Spiel zu haben scheint.

Ein Krimi mit einigen Themenkomplexen

District VIII ist ein Krimi, der einige Themenkomplexe beackert. Da ist zum einen die Thematik der Flüchtlingskrise, die sich im September 2015 durch das Agieren des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban zusehends verschärfte, bis sich Deutschland zur Aufnahme der Geflüchteten entschied. Mit seinem Krimi ruft Adam LeBor die Erinnerungen an die Geschehnisse und Bilder aus dem Keleti-Bahnhof in Budapest noch einmal wach.

Adam LeBor - District VIII (Cover)

Zudem möchte der britische Auslandskorrespondent auch über die rechtspopulistische (nepotistische, autokratische und in Teilen antisemitische) Regierung Viktor Orbans erzählen, die er hier mithilfe eines fiktiven Doppelgängers des ungarischen Ministerpräsidenten bis hinein ins tiefkriminelle Milieu überdehnt. Denn sein Präsident Pal Pálkovic zieht hier die Strippen, hat mithilfe seiner Prätorianergarde, den ermächtigten und Sonderbefugnissen ausgestatteten Gendarmen, ein kraftvolles Instrument zur Umgehung des Rechts und der Gewaltenteilung bei der Hand und fungiert als Dealer für illegale Pässe und EU-Mitgliedschaften. All das muss Balthazar Kovács erkennen, wobei Adam LeBor einen multipersonalen Erzählansatz wählt, um die ganze Verkommenheit des politischen Machtapparats zu zeigen, der mit Schleusern und Kriminellen gemeinsame Sache macht.

Neben diesen beiden großen Themenkomplexen ist es auch noch die Herkunft Balthazar Kovács aus dem Romnja-Milieu, das in District VIII eine große Rolle spielt. Denn der titelgebende Bezirk ist der mit den meisten Romnja in ganz Budapest – und auch Balthazar selbst ist Teil dieser ethnischen Minderheit, wenngleich ihn sein Job zu einem Paria seiner Familie gemacht hat.

Ein Ermittler mit Romnja-Hintergrund

Das Leben der Romnja, ihr sozialer Codex und das Miteinander dort im achten Bezirk schildert LeBor in einigen Erklärpassagen, wie es überhaupt einige solcher Erklärexkurse im ganzen Buch gibt. Denn District VIII zeigt klar die Herkunft des Autors als Journalist, der mithilfe der fiktiven Politik-Doppelgänger seine Erfahrung über die aktuelle ungarische Politik unter Viktor Orban in seinen Roman einfließen lässt.

Das klappt manchmal prima, bisweilen holpert der Erzählfluss aber auch etwas und könnte ab und an eine etwas ordnende Hand gebrauchen könnte. So sind die Themenkomplexe und vielen Figuren nicht immer ganz organisch miteinander verbunden beziehungsweise bleiben auch etwas erwartbar, etwa wenn eine der Hauptfiguren, die Investigativjournalistin Eniko Szalay früher einmal mit Balthazar liiert war ehe sie für kurze Zeit nach London ging. Nun arbeitet sie aber im Zuge der verschwundenen Leiche des Flüchtlings aus Syrien wieder mit diesem zusammen und das Ergebnis dieser Zusammenarbeit sollte eine*n nicht wirklich überraschen.

Auch ist die Titelgebung des 2017 im Original erschienen Krimis etwas inkonsistent, wenn doch die Übersetzung im Buch beharrlich (und im Deutschen deutlich idiomatischer) vom VIII. Bezirk spricht, der Titel dann aber vom District VIII kündet.

All das sind so kleine Ecken und Kanten bei einem gesellschaftspolitisch spannenden Krimi, die sich mit der Routine kommender Titel in meinen Augen durchaus abschleifen könnten. Zu den gelungensten Aspekten des Buchs zählt in meinen Augen die Schilderung der Vorgänge am Keleti-Bahnhof – und auch Balthazar Kovács hat als Charakter durchaus Potenzial für die kommenden Bände.

Fazit

So liefert Adam LeBor in District VIII Einblicke in ein Ungarn zur Zeit der „Flüchtlingskrise“ 2015 und zeigt ein politisches Budapest voller krimineller Energie, von Kopf bis Fuß im Morast des Unrechts steckt und das auch vor Gewalt nicht zurückschreckt und bei dem aufrechte Polizisten und Investigativjournalistinnen mit viel Kraft ihre Kämpfe fechten müssen.


  • Adam LeBor – District VIII
  • Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
  • ISBN 978-3-948392-66-6 (Polar)
  • 400 Seiten. Preis: 26,00 €
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Sönke Wortmann – Es gilt das gesprochene Wort

Die Kunst der Rede, sie hat es Sönke Wortmann ganz offensichtlich angetan. Im vergangenen Jahr adaptierte er nach der Komödie „Der Vorname“ im Jahr 2018 nun den nächsten Film aus Frankreich. So wurde aus der französischen Komödie „Le Brio“ der deutsche Film „Kontra“ mit Nilam Farooq und Christoph Maria Herbst. Darin diskriminiert ein Rhetorikprofessor eine Studentin und muss sie zur Wiedergutmachung für einen Debattierwettbewerb vorbereiten.

Offensichtlich war es Sönke Wortmann nicht genug, die Kunst der Rede filmisch einzufangen. So verfasste er mit Es gilt das gesprochene Wort auch noch seinen ersten Roman, der sich mit diesem Thema beschäftigt.

Im Mittelpunkt des Buchs steht Franz-Josef Klenke, der als Redenschreiber des deutschen Außenministers Hans Behring fungiert. Er formuliert die Reden des Ministers, setzt sich im Vorfeld mit den jeweiligen Rahmen der Reden auseinander und wirkt im Schatten, um den Politiker glänzen zu lassen. Eigentlich stammt er aus der Werbebranche, war mit einer Agentur in die Wahlkampagne um Peer Steinbrück im Bundestagswahlkampf 2013 eingebunden und kam danach zu seinem Job im Dienste des Ministers.

Ein Abend in Marokko

Sönke Wortmann - Es gilt das gesprochene Wort (Cover)

Liiert ist er mit Maria, die er bei einem Termin des Außenministers in Krakau kennengelernt hat. Sie leidet unter selektivem Mutismus, das Sprechen unter Druck und mit unbekannten Personen ist ihr kaum möglich. Im Privaten mit Klenke kann sie sprechen, in der Öffentlichkeit hingegen ist sie wie gelähmt und kann sich nicht artikulieren. Das gegensätzliche Paar plant nun einen privaten Urlaub im Anschluss an einen Termin des Außenministers in Marokko.

Dort vor Ort erwartet sie die dritte Hauptfigur, die Sönke Wortmann in den Mittelpunkt stellt. Es handelt sich um den Diplomaten Cornelius von Schröder. Dieser fristet unzufrieden sein Botschaftsleben in Rabat. Von seiner Frau Marysol hat er sich entfremdet und hadert mit seinem Leben. Der Job, sein Einsatzgebiet, sein Familienleben – all das bedeutet ihm nur noch Verdruss, weshalb er sich in Fremdenfeindlichkeit, Verschwörungstheorien und rechten Hass hineinsteigert. Auf einem Delegationsabend treffen alle drei Figuren dann dort in Marokko aufeinander – mit folgenschweren Konsequenzen.

Ein Gefühl der Unentschiedenheit

Was wollte Sönke Wortmann mit seinem Buch sagen? So ganz kann ich es nach der Lektüre von Es gilt das gesprochene Wort nicht sagen. Über dem ganzen Buch schwebt ein Gefühl der Unentschiedenheit. Es mag sich alles nicht so recht fügen. Da ist das Porträt des Redenschreibers Franz Josef-Klenke mit seinem Job im Schatten. Hier wagt Sönke Wortmann einen Blick hinter die Kulissen des politischen Tagesgeschehens. Er erzählt von Menschen mit Idealen mitten im Machtapparat der Politik und stützt sich dabei auch auf wahre Ereignisse, wie etwa den Bundestagswahlkampf 2013, der Klenke zu seinem Job im Auswärtigen Amt brachte.

Dann ist da aber auch die Liebesgeschichte zwischen der nahezu stummen Maria und dem mit Rhetorik befassten Klenke, die von Wortmann reichlich oberflächlich geschildert wird. Wenn Maria Klenke sieht, schlägt hier das Herz schnell (S. 226). Das kann man so formulieren, es ist aber in seiner Gesamtheit weder originell noch überzeugend. Literarisch gesehen ist das ganze Buch doch auch eher einfache Hausmannskost denn elegant formulierte und tiefenscharf herausgearbeitete Prosa.

Vom Fehlen eines überzeugenden Zugriffs

Immer wieder springt Wortmann von Figur zu Figur, fügt währenddessen die Reden ein, die Klenke dem Minister formuliert hat und in denen aktuelle politische Probleme betrachtet werden. Dann will Wortmann aber auch das Abgleiten des Botschaftsmitarbeiter von Schröder in den Radikalismus schildern und aktuelle geopolitische Verwerfungen nachzeichnen. Gegen all das wäre nichts zu sagen, wenn diese Aspekte auch nicht ebenso wie die Liebesgeschichte nur an der Oberfläche der Dinge kratzen würden. Alles hier würde eine vertiefende Behandlung vertragen, stattdessen bleibt Wortmann im Ungefähren und wagt es nicht, den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen. Nichts bleibt hier nachhaltig im Kopf, weder die Romanze, noch die Radikalisierung, noch der Clash in Marokko.

Man wünscht sich, Wortmann hätte den Mut gehabt, sich für einen Aspekte seines Romans zu entscheiden, und diesen mit der gebotenen Sorgfalt behandelt. So bleibt das Gefühlt, dass dem Regisseur sein Material entglitten ist und er keinen wirklichen Zugang oder eine überzeugende Formsprache für seinen Plot gefunden hat. Das ist schade, da die behandelten Themen eigentlich hochinteressant sind. Und auch über die Politik und das Geschäft mit ihr gäbe es viel Spannendes zu sagen, wie es etwa Nora Bossong in ihrem Roman Schutzzone gezeigt hat. Hinter diesem Werk bleibt Sönke Wortmann leider mit großen Abstand zurück und vermag es nicht, seinen Stoff in ein überzeugendes Buch zu verwandeln.

Fazit

Trotz vielversprechender Anlagen gelingt es Sönke Wortmann nicht, seine Themen zu einem überzeugenden Roman zu runden. Es gilt das gesprochene Wort ist von einem Gefühl der Unentschiedenheit und literarischen Belanglosigkeit geprägt, das das Buch schnell wieder vergessen lässt.


  • Sönke Wortmann – Es gilt das gesprochene Wort
  • ISBN 978-3-550-20059-5 (Ullstein)
  • 240 Seiten. Preis: 24,00 €

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