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Teresa Bücker – Alle Zeit

„Wir sagen: die Zeit vergeht. Dabei sind wir es, die verschwinden.“

Thomas Hettche – Pfaueninsel

So bringt das kleinwüchsige Schlossfräulein Maria Dorothea Strakon in Thomas Hettches famosen Roman Pfaueninsel die ganze Absurdität unseres Umgangs mit der Zeit auf den Punkt. Sie beobachtet das Werden und Vergehen dort auf der Insel, sieht Königinnen kommen und Könige gehen, ein ganzes neues Jahrhundert heraufdämmern – nur die Zeit, sie sieht sie nicht. Es sind nur Besucher*innen von außen, die dort ein Gefühl der Existenz von Zeit auf die Insel bringen, wenn sie sich etwa nur eine bestimmte Dauer dort zugestehen oder wenn im Altern der Besucher*innen das Verstreichen von Zeit offenbar wird.

Und tatsächlich ist die Beobachtung aus dem Roman ja eine durchaus richtige. So wirklich greifbar ist die Zeit nicht, sie kann nur mit Hilfsmitteln erfasst werden und ihr Vergehen lässt sich nur über das Voranschreiten von Verfall oder Fortschritt erkennen. Doch ist die Zeit der alles entscheidende Taktgeber der Moderne geworden. Was uns im Umgang mit der Zeit dabei eint, ist meist das Gefühl, zu wenig von ihr zu haben. Zu wenig Zeit für Freunde, Familie, Hobbys, drohende Deadlines im Job und oftmals ein Gefühl der Erschöpfung, wenn der Tag wieder zu wenig Stunden hat.

Doch es könnte auch ganz anders sein. Wie eine gerechtere Zeitpolitik aussehen könnte, was sich für uns und die Gesellschaft ändern könnte und was plötzlich möglich wäre, das ergründet Teresa Bücker in ihrem durchdachten und weitgreifenden Manifest, das mit Verve für eine neue Zeitpolitik plädiert. Denn was wäre, wenn wir sie plötzlich hätten – Alle_Zeit?


Es ist eine einfache Frage, die sich wohl viele schon einmal gestellt haben und die Teresa Bücker an den Anfang des vierten Kapitels in ihrem Buch stellt: Was würden Sie machen, wenn Ihr Tag plötzlich 25 Stunden hätte? Eine Stunde mehr, die man auf ganz individuelle Art und Weise nutzen könnte. Ein verlockender Gedanke, den Bücker als Ausgangslage für das Nachdenken über freie Zeit nutzt.

Denn obschon wir Zeiterfassungen zufolge über mehr freie Zeit verfügen, immer länger leben, die Arbeitszeit sank und die Urlaubstage stiegen, so sind es doch über 26 Millionen Menschen, die den Erfassungen nach angeben, zu wenig Zeit zur Verfügung zu haben. Druck in der Arbeit, überforderte Familien und allgegenwärtiger Stress sind nur ein paar Faktoren, an denen sich das Gefühl des Zeitmangels ablesen lässt. Doch es könnte alles anders sein, folgt man Teresa Bückers faktengesättigten Überlegungen und Denkansätzen. Denn es wäre möglich. Wir könnten auch in einer entspannteren, gerechteren und auf vielfältige Art und Weise reicheren Gesellschaft leben, wenn wir denn nur wollten.

Zeitgerechtigkeit herzustellen bedeutet radikale Umverteilungspolitik.

Teresa Bücker – Alle Zeit, S. 231

Diese Umverteilungspolitik, ihre Ansatzpunkte und Chancen erläutert Bücker über insgesamt sechs Kapitel, bevor sie die Kernthesen im Schlussteil (K)eine Utopie noch einmal prägnant vorstellt und formuliert.

Niemals genug Zeit

So geht Teresa Bücker zunächst der Frage nach, warum uns die Zeit in einer Gegenwart von 24/7-Verfügbarkeit doch niemals reicht und warum auch die freie Zeit, die doch eigentlich der Erholung dienen sollte, so oft vom Beruf durchdrungen ist. Dem folgt im Kapitel Arbeits_Zeit die Betrachtung unserer Gesellschaft, die sich zum überwiegenden Teil über die Erwerbsarbeit definiert. Unsere Anerkennung von Vollzeitarbeitenden und die Geringschätzung von häuslichen Tätigkeiten oder gar Arbeitslosigkeit sind Themen des Kapitels, das Bücker hier auch aus ihrer persönlichen Perspektive betrachtet.

Teresa Bücker - Alle_Zeit (Cover)

Ihre Rolle als Mutter, das Unwohlsein in Gesprächen, sich als arbeitslose Erziehende zu erkennen zu geben, statt einem „geregelten“ Auskommen nachzugehen, dies ist eine der wenigen persönlichen Anekdoten, die sie zur Illustrierung ihrer These vorbringt. Derlei Einsprengsel bleiben im Text allerdings auf ein Minimum reduziert, vielmehr arbeitet Bücker überwiegend studiengestützt faktual und arbeitet mit vielen Quellen und Zitationsnachweise – fast 500 Fußnoten umfasst der Anmerkungsapparat.

In den weiteren vier Kapiteln von Alle_Zeit spürt die Autorin dann der Care-Arbeit und einer neuen Aufteilung derselben nach, stellt die Frage nach der Bedeutung und dem Platz von Kindern in unserem Konzept von Zeit und kommt vom Privaten und dem damit verbundenen Feld der freien Zeit (in dem beispielsweise auch so etwas wie der Begriff des Zeitkonfetti aufgegriffen wird) zum Politischen. Denn auch politisches Engagement in ganz unterschiedlichen Facetten und Ausprägungen zählt zu Bückers Idee einer neuen Zeitkonzeption, kann diese doch auch bedeuten, dass bislang unterrepräsentierte Vertreter*innen unserer Gesellschaft wie Alleinerziehende, Menschen aus unteren Lohngruppen, Nicht-Weiße oder Menschen mit Migrationshintergrund besser als bislang für ihre Belange eintreten könnten.

So schlägt Teresa Bücker den Bogen von der Problembeschreibung über eine maximalbreite Skizzierung eines neuen Zeitkonzepts bis hin zu Umsetzungsideen und den damit verbundenen Möglichkeiten, die der Idee einer neuen Form von Umgang mit der Zeit beinhalten.

Auf der Höhe der diskursiven Gegenwart

Das Buch ist, obschon im letzten Jahr erschienen, absolut auf der Höhe der diskursiven Gegenwart. Die Debatten um eine 4-Tage Woche greift Bücker genauso auf, wie sie für eine fairere Verteilung der Care-Arbeit und „privaten“ Lasten eintritt. Warum gilt es immer noch als neoliberales Ideal, alle Menschen in Vollzeit-Beschäftigung zu bringen? Bücker argumentiert für ein Teilzeit für alle, die Ressourcen schon, Potenziale eröffnet, freie Zeit für sich, die Gemeinschaft und den sozialen Zusammenhalt von Familie und Gesellschaft ermöglicht. Mit ihrer Theorie einer neuen Zeitverteilung erschafft sie einen Denkansatz, der in so gut wie alle Lebensbereiche hineinragt und viele heutige Mangellagen berührt.

Die unzureichende Pflegesituation, die aktuell durch die Schwächung anderer Länder in Form von Abwerbung von Arbeitskräften funktioniert. Fehlende Kitaplätze und Erzieher*innen, die zu überlasteten Familien führen, denen als Antwort auf fehlende Entlastung und die schwierige Vereinbarkeit von Vollzeit und Kinderbetreuung oftmals entgegengehalten wird, das man sich das mit dem Kinderbekommen vorher einmal besser überlegen hätte sollen. Die ökologische Transformation, die ein solche Konzept mit weniger Arbeit und mehr Gesellschaftszeit unterstützen würde – an vielen Punkten zeigt sich, wie ausgearbeitet und konkret die Thesen Bückers sind, die unsere unmittelbare Gegenwart betreffen. Was sich von Familien- und Umweltpolitik bis hin zur Arbeitspolitik ändern und verbessern würde, das führt sie mit viel Verve aus:

Eine Arbeitspolitik für das 21. Jahrhundert muss aber sehr viel mehr tun, als sich nur mit den Bedingungen und der Sicherheit von bezahlten Arbeitsplätzen zu befassen. Sie muss dafür Sorge tragen, dass alle gesellschaftlich notwendigen Arbeiten auf zumutbare Weise übernommen werden können und dass sie honoriert werden. Es ist Aufgabe der Arbeitspolitik, alle Formen von Arbeit so zu verteilen, dass sie niemanden zeitlich oder gesundheitlich überlastet, denn freie Zeit ist ein Menschenrecht.

Die Länge der Arbeitstage und mit ihr die Menge der freien Zeit müssten sich annähern, damit alle Menschen die gleichen Chancen haben, sich jenseits der Arbeit frei zu entfalten. Dass Menschen trotz Arbeit arm sind, dürfte nicht akzeptiert werden. Eine Arbeitspolitik von heute muss außerdem klima- und umweltschädliche Arbeit regulieren und die Entstehung emissionsarmer Jobs fördern, damit Arbeit nicht unsere Lebensgrundlage zerstört. So verstanden, wäre Arbeitspolitik nicht nur Zeitpolitik für unsere Alltagszeiten, sondern auch Politik für die globale Zukunft.

Teresa Bücker – Alle Zeit, S. 54 f.

Eine neue Form von Wohlstand

Logo Deutscher Sachbuchpreis 2023

Folgt man Bückers bestechender Argumentation könnte eine fairere Gesellschaft entstehen, die nicht mehr auf Wachstum, denn auf sozialen Reichtum setzt. Wofür dann aber auch die Übermacht des Patriarchat beendet werden muss, denn Zeitwohlstand bedeutet auch eine faire Lastenaufteilung zwischen Partner*innen (dabei vergisst Teresa Bücker auch queere Lebensentwürfe in Alle_Zeit nicht und denkt diese explizit mit).

Eins ist ihre Idee einer neuen Aufteilung der Macht und Freiheit dabei allerdings nicht, wie Bücker am Ende des Buchs noch einmal nachdrücklich klar macht. Denn Alle_Zeit will keine Utopie sein, die man so betitelt leicht ins Reicht der Fantasie verschieben könnte. Vielmehr bietet das Buch neben der Problembeschreibung einen konkreten Handlungsfaden, der schon jetzt zur Umsetzung kommen könnte, wenn wir alle – Politik und Zivilgesellschaft eingeschlossen – denn nur wollten.

Sich eine Zukunft vorzustellen, in der die Erwerbsarbeit einen wesentlich kleineren Teil des Lebens einnimmt und stattdessen mehr Zeit für andere Dinge bleibt, fällt vielen Menschen schwer. Sie deuten diesen Gedanken als Träumerei, die wir uns ab und an erlauben können, nicht als reale Möglichkeit, anders zu leben. Schließlich gibt es als Sehnsuchtsort den Ruhestand, mit dem wir angeblich in ein Meer aus freier Zeit hinübertreten. Wir werden ja weniger arbeiten: nur später.

Freie Zeit als neuer, als anderer Lebensabschnitt. Um weniger arbeiten zu können, muss die Zeit für uns erst neu beginnen. Diese Beruhigungstaktik, dass wir irgendwann all die Zeit haben werden, um das zu tun, wonach wir uns sehnen, schadet uns jedoch in der Gegenwart, da wir unsere Bedürfnisse damit nicht als etwas Unmittelbares, Wichtiges begreifen, sondern stattdessen verinnerlichen, dass sie etwas Zukünftiges sind: Wir dürfen etwas anderes wollen, überhaupt etwas wollen, aber nicht jetzt. Später. In der Gegenwart sollen wir bedürfnislos sein.

Wir sollen uns mit den Gegebenheiten arrangieren und das Beste aus ihnen machen. Die Gegenwart ist damit nur eine Übergangsphase, bis das richtige Leben beginnt. Wenn wir unsere Gegenwart jedoch nicht als relevant betrachten, sondern als Vorstufe zu etwas, das erst noch kommen wird, dann entpolitisieren wir sie. Wir trainieren uns darauf, auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Aber wann beginnt die richtige Zeit? Unendliche Geduld und sanft formulierte Ideen werden zur Tugend, konkrete Ideen, Forderungen und Warnungen hingegen als Aktivismus diffamiert. Es gilt als zu radikal, in der Gegenwart zu handeln. Doch wenn das Jetzt nicht zählt, wie steht es dann um unsere zukünftige Gegenwart?

Teresa Bücker – Alle_Zeit, S. 128 f.

So entsteht ein runder Text, an dem es aufgrund seines Anspruchs und der damit Schritt haltenden Argumentation und theoretischen Unterfütterung nichts auszusetzen gilt. Dass ein Inhaltsverzeichnis inklusive Unterkapiteln und eine nach Kapiteln gegliederte Ordnung der fast 500 Zitationsnachweise im Anhang des Buchs die Übersichtlichkeit etwas erhöht hätten, sind Petitessen, die angesichts des ansonsten mehr als überzeugenden Ganzen nicht ins Gewicht fallen.

Fazit

Der Reichtum und die Schlüssigkeit von Bückers neuem Zeitmodell und die vielfachen Anknüpfungspunkte an die Debatten verbunden mit der Vision einer gerechteren Gesellschaft machen aus Alle_Zeit eine unbedingte Empfehlung, der eine maximal große Leserschaft und Diskurs über die Thesen zu wünschen ist. Es handelt sich bei Bückers Buch um eine gute Wahl für die Nominierung zum Deutschen Sachbuchpreises 2023 und in meinen Augen auch um einen würdigen potentiellen Siegertitel, beweist Bücker hier doch Mut zu einer klugen Vision und liefert darüber hinausgehend auch Umsetzungsstrategien hin zu einer gerechteren und besseren Gesellschaft.

Alle_Zeit ist ein holistisches Gedankengebäude, das dem Gedanken für ein zeitgerechteres Miteinander in allen Konsequenzen und der gebotenen Tiefe nachgeht. Für die Lektüre dieses bedenkenswerten Buchs sollte man sich auf alle Fälle eines wirklich nehmen, nämlich Zeit!


  • Teresa Bücker – Alle Zeit
  • ISBN 978-3-550-20172-1 (Ullstein)
  • 400 Seiten. Preis: 21,99 €
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Sharon Dodua Otoo – Adas Raum

Von Ghana bis nach Berlin, von London bis ins KZ Mittelbau-Dora. Von Ada zu Ada zu Ada zu Ada. Von 1459 über 1945 bis in die Gegenwart. So weit reicht das von Sharon Dodua Otoo gespannte Erzählnetz in ihrem Debüt Adas Raum. Ein Buch, das Zeit und Raum in Windeseile durchmisst, meine Erwartungen allerdings nicht erfüllen konnte.


Schon in ihrem 2016 beim Bachmannpreis vorgetragenen Gewinnertext „Herr Göttrup setzt sich hin“ finden sich Elemente, die wie eine Vorstudie zu Sharon Dodua Otoos erstem Roman wirken. Da erzählt eine Entität, die alle möglichen Formen annehmen kann. In ihrer Göttrup-Geschichte eben auch die eines Frühstückseis oder Lippenstift. Und da sorgt eine gewisse Ada im Göttrup’schen Haushalt für Recht und Ordnung. Eine Ada, wie sie sich in Adas Raum dann gleich weitere vier Male manifestiert.

Zunächst lernen wir eine Ada kennen, die in Totope, einem Dorf an der Südküste Ghanas, ihr verstorbenes Kind betrauert. Weiter geht es nach London, wo Ada eine Liason mit Charles Dickens pflegt. Ein Jahrhundert später lernen wir Ada kennen, die im KZ Mittelbau-Dora als Prostituierte für die Inhaftierten arbeitet. Und noch einmal ein paar Jahrzehnte weiter kreuzen wir wieder den Lebensweg einer Ada, die hochschwanger in Berlin eine Wohnung sucht.

Ein Reisigbesen und ein Türklopfer erzählen

Diese vier Frauen bilden das erzählerische Gerüst. Daneben gibt es aber auch noch viele weitere Erzähler, wie das schon bei „Herr Göttrup setzt sich hin“ der Fall war. Nur dass hier kein Lippenstift oder Frühstücksei die Geschichte erzählen, sondern ein Reisepass, ein Reisigbesen, ein Zimmer und ein Türklopfer. Sie alle tragen ihr erzählerisches Scherflein zu der Geschichte bei, die in zwei Schleifen und eine Erzählzeit zwischen den Schleifen gebunden ist. Immer wieder durchmessen wir Raum und Zeit, springen von Ada zu Ada. Viele Erlebnisse oder Ereignisse der Frauen ähneln sich, andere Erfahrungen machen die Adas nur für sich. Verbindendes Element ist auch ein Perlenarmband, das in allen vier Zeitebenen auftaucht. Dazwischen gibt es auch noch einen berlinernden Gott und weitere außergewöhnliche Einfälle.

Für die Erzählung ihrer Geschichte hat sich Sharon Dodua Otoo viel vorgenommen. Sie will von weiblicher Kraft aber auch Unterdrückung schreiben, Schicksale über die Jahrhunderte hinweg betrachten und universelle Themen herausarbeiten. Das gelingt ihr in meinen Augen leider nur bedingt.

Da ist dieses Gefühl, ein unfertiges oder verschwommenes Buch zu lesen. Vier Hauptfiguren in ganz unterschiedlichen Zeiten und Räumen stehen im erzählerischen Fokus. Trotzdem nimmt sich Otoo gerade einmal etwas mehr als 300 Seiten, um von diesen vier Frauen zu erzählen. In Schlaglichtern erzählt sie von ihnen, reißt Motive und Charakteristika des Lebens der Frauen nur an. Immer wieder springt sie von Erzählstrang zu Erzählstrang und belässt vieles dabei im Ungefähren.

Vier Frauen – aber leider wenig Profil

So etwas wie ein klares Profil hatte für mich leider keine einzige der vier Adas. Dafür ist Adas Raum viel zu hektisch und unfokussiert. Auch hat die Figurengewichtung deutliche Unwucht. Die Milieus, in denen die Frauen leben, die soziale Determination, ihren Werdegang, all das fehlte mir, um einen Zugang zu ihnen finden oder auch nur eine der Frauen länger im Kopf zu behalten. Und das, was dann tatsächlich erzählt wird, finde ich im Gegenzug dann zu erwartbar und unterkomplex. Eine Schwarze hat es in Berlin deutlich schwerer, eine Wohnung zu finden. Das Leben im KZ bedeutete Hunger, Grausamkeiten und Hoffnungslosigkeit. Im Ghana des 15. Jahrhunderts war das Leben im Dorf bzw. Stamm die dominierende soziale Norm, bei dem es vor allem auf die Frauen ankam. Das sind alles erzählerische Punkte, die allesamt kaum Überraschung, Einsicht oder Neuigkeitswerte boten.

Es fehlt an Raffinesse, überzeugend herausgearbeiteten Profilen, an literarisch Überraschendem. Für mich blieb der Eindruck von viel Unfertigem, hervorgerufen durch die assoziative Montagetechnik der Schleifen. Natürlich kann man dem entgegenhalten, dass es hier weniger um Einzelfiguren um übergreifende Schicksale und Strukturen geht. Dennoch hätte ich mir persönlich mehr Identifikationspotenzial durch klarere Profile und Settings gewünscht. Es bleibt doch alles recht schemenhaft und für mich zu unkonkret. Und wenn es dann konkret wird, erschöpft sich das Buch in Allgemeinplätzen und gibt die eigene Struktur auf.

Fazit

Meine großen Erwartungen wurden leider enttäuscht. Für mich wirkt Adas Raum wie ein Buch, das erzählerisch von vielen Büchern der jüngsten Vergangenheit überholt wurde. Eleganter (da auch einfacher und klarer ausgeführt) gelingt das jahrhunderteübergreifende Erzählen beispielsweise Hari Kunzru oder David Mitchell im großartigenen Der Wolkenatlas. Präziser in der Beschreibung von sozialen Mechanismen, Ausgrenzung und Identitätsfragen ist für mich Mithu Sanyal in ihrem Roman Identitti. Die Inneneinsichten in das KZ-Lagerleben beschreibt David Schalko in Schwere Knochen überzeugender. Für die meisten Einzelpunkte des Romans kamen mir Bücher in den Sinn, die den jeweiligen Erzählaspekt besser lösen.

Und so steht für mich am Ende dann die Erkenntnis, dass sich meine großen Erwartungen nicht bestätigt haben. Adas Raum ist für mich ein Roman, der mehr will, als er dann tatsächlich kann. Die Kompositionsform wirkt auf mich nicht rund, den Figuren gebricht es an Profil, die erzählerischen Absichten sind mir zu offensichtlich – kurz, ich hätte mir etwas mehr Raffinesse in der literarischen Ausarbeitung gewünscht.

Weitere Meinungen zum Buch gibt es unter anderem beim Deutschlandfunk und in der Süddeutschen Zeitung.


  • Sharon Dodua Otoo – Adas Raum
  • ISBN 978-3-10-397315-0 (S. Fischer)
  • 320 Seiten. Pries: 22,00 €
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John Wray – Das Geheimnis der verlorenen Zeit

Marcel Proust war auf der Suche nach der verlorenen Zeit, der Engländer John Wray will nun ihr Geheimnis erkunden. Die verlorene Zeit steht im Mittelpunkt dieses Romans, der sich konsequent jeder Einordnung entzieht und der den Leser in eine Zeitschleife schickt. Von Tschechien über Wien bis nach Amerika geht die Reise, die Zeit und Raum durchmisst.

Der Hobbyphysiker und Gurkenfabrikant Znaim Toula entdeckte just das Geheimnis der verlorenen Zeit, um aber kurz nach dieser Entdeckung von einem Automobil auf die Hörner genommen zu werden. Seine beiden Söhne Waldemar und Kaspar entwickeln sich danach auf ganz eigene Art und Weise weiter und versuchen stets, das Erbe ihres Vaters zu entschlüsseln.

Neben diesem chronologischen Erzählungsstrang, der sich durch die Weltgeschichte und durch verschiedene Schauplätze arbeitet, gibt es einen zweiten Erzählstrang, der die Episoden aus der Familiengeschichte zusammenhält. Denn irgendwo in einem Appartement sitzt in einer Zeitschleife Waldemar Tolliver fest. Dieser schreibt an seine Liaison Mrs Haven Briefe, in denen er ihr und damit dem Leser erklärt, wie sie zusammenfanden und welche Geheimnisse der Tolliver-Clan so hütet.

Es könnte so schön mit diesem Roman sein – doch leider macht es John Wray dem Leser respektive meiner Wenigkeit sehr schwer. Dass er schreiben kann – das steht außer Frage. Doch wunderbare Passagen werden immer wieder von völlig konfusen Seiten durchbrochen, in denen Wray schwer verständliche Schilderungen, Briefe oder physikalische Erklärungen unterbringt oder seine Charaktere surreale Dialoge führen lässt.

Bei allem Willen zum Experiment und formalen Sich-Ausprobieren – das war für mich über die Länge des Buchs dann doch zu unlesbar.

Ärgerlich ist das vor allem, da unter allen Manierismen und erzählerischen Schlacken immer wieder eine tolle und faszinierende Geschichte durchschimmert. Das Potential einer außergewöhnlichen Geschichte ist ja da – doch John Wray verschießt leider sein ganzes Pulver, um diesen überlangen Roman zu etwas Besonderem zu machen. Und genau daran scheitert er dann eben, denn Dada, Physik und viel Zeitkolorit wollen hier nicht miteinander reagieren und nicht zu einer flüssigen Erzählung legieren.

So bleibt der Roman hinter den Erwartungen zurück – ein engeres Korsett hätte „Das Geheimnis der verlorenen Zeit“ gutgetan. In meinen Augen die bessere Wahl wenn es um Physik, Zeitgeschichte und Faszinosien geht – Reif Larsen mit Die Rettung des Horizonts.

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