Monthly Archives: August 2017

Das Deutscher Buchpreis-Lotto 2017

Am 15. August um 10:00 Uhr ist es soweit: die Longlist für den diesjährigen Deutschen Buchpreis wird bekanntgegeben. Auch dieses Jahr wird das Ganze natürlich schon wieder von Verlagen, Lesern und selbstverständlich auch den Bloggern aufmerksam betrachtet und die Spekulationen schießen ins Kraut. Auch ich spiele in dem Fall gerne Lotto und versuche mich an einer kleinen Vorhersage, welche deutschsprachigen Neuerscheinungen es auf die Liste geschafft haben.

Nachdem ich mit der Auswahl letztes Jahr nicht so wirklich warm geworden bin und auch meine Prognosen über die Shortlist so präzise wie ein G36 der Bundeswehr ins Ziel getroffen haben, starte ich dieses Jahr einfach einen neuen Versuch. Und egal wie nahe oder fern die Erwartungen dann dem tatsächlichen Resultat sind – am Ende lässt sich über die Wahl ja immer vorzüglich streiten. Nun aber los:

Lukas Bärfuss´ Hagard ist ein eindringlicher Roman, der bereits der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse ins Auge gefallen ist. Dass das Buch auch der Deutschen Buchpreis-Jury aufgefallen ist, kann ich mir gut vorstellen. Kraft von Jonas Lüscher ist in meinen Augen das beste Buch dieses Bücherfrühlings. Eine Nichtnominierung fände ich unverzeihlich. Der Schnitt der Sonne wurde von mir zwar noch nicht gelesen, eine Nominierung erscheint mir aber auch hier wahrscheinlich. Genreliteratur hat es beim Deutschen Buchpreis ja eh traditionell schwer, Dietmar Dath wäre da eine gelungene Lösung – und nicht zuletzt war Dath ja bereits 2008 einmal nominiert war. Robert Menasses Die Hauptstadt ist ebenfalls ein originelles Buch, das ich bereits anlesen durfte. Zudem würde ich Suhrkamp mal wieder einen Erfolg gönnen, nachdem das Verlagshaus letztes Jahr ja gegen den Fischer-Verlag unterging. Und auch Sieh mich an ist Erfolg zu wünschen. Mareike Krügels Roman über einen Tag im Leben einer Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs gefiel mir recht gut.

Stephan Lohses Debüt Ein fauler Gott räume ich auch Chancen ein – Erinnerungen an die Kindheit gehen ja immer. Alles andere als ein Debütant ist der Österreicher Michael Köhlmeier, der bereits drei Mal nominiert war. Nach 2014 könnte es dieses Jahr ebenfalls wieder passieren. Noch ein Debütant, an dem momentan kein Feuilletonschreiber vorbeizukommen scheint, ist Simon Strauß, Sohn von – genau. Sein Buch bestimmt die Diskussionen – vielleicht auch die der Jury? Roland Schimmelpfennig kennt der geneigte Theatergänger als zeitgenössischen Dramatiker. Sein erstes Buch war für mich ein Totalreinfall, vielleicht wird bei Buch Nummer Zwei alles anders und er hat ein Meisterwerk erschaffen? Das Buch erscheint auf alle Fälle in ein paar Wochen im Fischer-Verlag. Ein schwer verdauliches und dabei höchst originelles Buch ist Feridun Zaimoglus Luther-Annäherung Evangelio – auch er ist in Sachen Nominierungen ein alter Bekannter, denn ganze vier Mal war er bereits auf der Liste zu finden.

Mariana Leky erhält für ihren neuen Roman Was man von hier aus sehen kann ebenfalls viel lobende Kritik und ist für mich durchaus eine Aspirantin für die Longlist. Auch Fatma Aydemir gehört mich auf jene Liste, da ihr Buch durch Aktualität und Radikalität zu bestechen weiß. Der große Wurf ist für mich Chris KrausDas kalte Blut, hier kann ich mir auch schwerlich vorstellen, dass die Jury an dem Titel vorübergeht. Historisches geht beim Buchpreis ja immer, wie die vergangenen Preisträger gezeigt haben. Mit Olga Grjasnowa habe ich zudem die nächste Wiederholungstäterin auf meinen Lottoschein gepackt, die nach fünf Jahren mal wieder eine Nominierung verdient hätte. Auch Uwe Timm ist zu jenen Wiederholungstätern zu zählen und hat noch dazu einen historischen Roman geschrieben – das potenziert natürlich seine Chancen.

Julia Wolfs zweiter Roman Walter Nowak bleibt liegen ist der Toptitel aus der Frankfurter Verlagsanstalt, die im letzten Jahr mit Bodo Kirchhoff den Sieger gestellt hat. Nicht ganz unwahrscheinlich also, dass der Verlag wieder einen Erfolg feiert. Darüber hinaus findet sich bei mir das sehr spannend klingende Debüt der jungen Autorin Svealena Kutschke, die Kurzbeschreibung ihres Lübeck-Epos klingt auch ganz nach Kost für den Deutschen Buchpreis. Irgendwie ging im Frühjahr Franzobels Floß der Medusa völlig unter – vielleicht wird es jetzt noch einmal ins Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit gerückt. Und apropos Gewässer – auch Norman Ohlers Roman Die Gleichung des Lebens ist ein starker Text – historischer Roman und Krimi zugleich (siehe Genreliteratur), von daher für mich ein weiterer Treffer, der sich am Dienstag gerne bestätigen dürfte. Das letzte Buch ist dann noch Thomas Lehr vorbehalten, von zwar mir noch nicht gelesen, aber schon auf meinem Vormerkzettel. Und zudem ist Lehr auch ein alter Bekannter, der schon 2005 und 2010 auf der Longlist stand. Warum nicht auch dieses Jahr?

Wie seht ihr den Deutschen Buchpreis und die Nominierungen? Welche Titel müssen eurer Meinung nach auf jeden Fall auf der Longlist stehen? Wie sähe eure Auswahl aus – oder interessiert euch der Preis nicht? Ich bin auf eure Antworten gespannt!

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Rodrigo Hasbún – Die Affekte

Hans Ertl war einst im Dritten Reich ein wichtiger Kameramann, der für Leni Riefenstahl drehte und spektakuläre Aufnahmen realisierte. So filmte er etwa Szenen unter Wasser und war damit der erste Kameramann, dem etwas Derartiges gelang. Doch im Nachkriegsmünchen ist der Filmemachter nicht mehr wohlgelitten, und beschließt deshalb, mit seiner Familie nach Bolivien zu ziehen.

Ein Projekt, das er vor Ort realisieren möchte, ist die Suche nach dem mystischen Städtchen Paititi im Dschungel Boliviens. Deshalb macht er sich mit einem Expeditionstreck und zwei seiner Töchter auf, um die versunkene Inkastadt aufzuspüren. Seine Frau und seine jüngste Tochter bleiben zu Hause.

Doch mit dieser Expedition setzt sich etwas fort, das bereits mit dem Aufbruch aus München begann – die Zersetzung der Familie Ertl. Die drei Töchter entfremden sich und bei der ältesten Tochter Monika wird dies in der Folge zu dramatischen privaten und politischen Verwerfungen führen, die sich so zunächst gar nicht abzeichneten.

Hasbún inszeniert diese Auflösung, indem sein Plot einer vielstimmigen Gestaltung folgt. In kurzen Kapitel erzählt er, aufgeteilt in zwei große Blöcke, von den verschiedenen Mitgliedern der Familie Ertl und ihrem Lebensweg. Immer wieder wechselt er den Tonfall und die Erzählperspektive (was die Unterscheidung der einzelnen AkteurInnen auch nicht immer leicht macht). Man liest in der Ich-Form, wird in Passagen mit Du angesprochen und auch die dritte Person ist häufig eine gewählte Erzählperspektive.

Dieser Gestaltungswillen beeindruckt, ist manchmal aber auch etwas zu viel des Guten. Insgesamt sind es für den knappen Umfang von  140 Seiten erstaunlich viele Themen, die Rodrigo Hasbún in Die Affekte packt. Radikalisierung, Auflösung von Strukturen, Suche nach Halt in Kunst – das alles steckt in diesem Buch, was es auch an mancher Stelle überfrachtet. Ein wenig mehr Entzerrung hätte dem Buch gut getan – so wirkt alles stark komprimiert und man muss wirklich genau lesen, um die Anschlüsse und Sprünge nicht zu verpassen.

Wem dieses Buch gefällt, empfehle ich zur weiterführenden und ergänzenden Lektüre den vor Kurzem im Rowohlt-Verlag erschienenen Roman Telex aus Kuba von Rachel Kushner. Radikalisierung und Befreiung von überkommenen Strukturen durch die Jugend – beide Romane haben viel gemein und komplementieren sich wunderbar, wie ich finde.

[Hasbún Rodrigo: Die Affekte ; Deutsch von Christian Hansen, 124 Seiten | erschienen im Suhrkamp-Verlag, ISBN 978-3-518-42764-4, Preis: 18,00 €]

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Anthony Doerr – Die Tiefe

Fünfzehn Jahre nach den tollen Kurzgeschichten im Band Der Muschelsammler gibt es nun neues Material von Anthony Doerr, einem der besten amerikanischen Schriftsteller der Gegenwart. Ursprünglich unter dem Titel Memory Wall erschienen, bleibt in der deutschen Version jene Novelle im Buch außen vor, erschien sie doch bereits letztes Jahr als eigenständiges Buch ebenfalls im C. H. Beck-Verlag (Deutsch erneut von Werner Löcher-Lawrence). Der Rest ist Tiefe.

Inhaltlich schlägt Doerr in seinen Geschichten einen weiten Bogen. Die Geschichten variieren in der Länge – von 14 Seiten (Entmilitarisierte Zone) bis zu einer mit 80 Seiten relativ langen Geschichte (Nachwelt) reicht der Umfang von Doerrs Erzählungen. Viele verschiedene Schauplätze versammelt Die Tiefe, mal spielt die Handlung in einem chinesischen Dorf, das wegen eines Staudamm-Projekts umgesiedelt werden soll (Dorf 113), mal dreht sich alles um ein kleines Mädchen, das in Die Memel nach Litauen zu ihrem Großvater zieht.

Allen Geschichten ist – unabhängig von ihrem Umfang aber – eine Intensität und Güte zueigen, wie sie nur große Schriftsteller erzeugen können (nicht umsonst wurde Doerr schließlich auch mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet).

Viele Motive in den Erzählungen kennt der geneigt Leser schon, denn Die Tiefe schließt nahtlos an die vor fünfzehn Jahren erschienenen Muschelsammler-Kurzgeschichten an. Mal dreht sich alles ums Angeln, mal kehrt Doerr in den Erinnerungen in die Zeit des Dritten Reichs zurück (hier blitzen viele Referenzen an Doerrs Meisterwerk Alles Licht das wir nicht sehen auf).

Bei allen unterschiedlichen Milieus und Zeiträumen ist es doch frappierend, wie gut es Doerr gelingt, in die Seelen seiner Protagonisten zu blicken. Ihm gelingen eindrucksvolle und berührende Szenen, die eigenes Kopfkino beim Leser entstehen lassen. Doerrs Kurzgeschichten sind Destillate, aus denen andere Autoren gleich zwei oder drei Romane gestrickt hätten – er hingegen besinnt sich auf den Kern guter Geschichten und schenkt uns hier gleich sechs Stück von besonderer Art und Güte.

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