Monthly Archives: März 2021

Isaac Rosa – Glückliches Ende

Und schon wieder ein gebrochenes Herz,
Tränen, Trauer, unerträglicher Schmerz,
Wut, Verzweiflung, Leid und Frust…
Ach, hätte man doch vorher schon Bescheid gewusst.
Ach, hätte man doch vorher schon Bescheid gewusst.

Warum kann es nicht einfach mal klappen
Statt von einer bösen Falle in die andere zu tappen?

Warum kann es sich nicht einfach ergeben?
Dann könnte man ganz entspannt weiterleben.

Warum kann es sich nicht einfach mal fügen?
Dann müssten wir uns nicht mit Kompromissen begnügen.

Warum isses nicht so, wie man’s aus’m Kino kennt?
Zwei treffen sich, küssen sich… Happy End.

Bodo Wartke – Happy End

So ist einfach es tatsächlich nicht mit der Liebe, wie es Bodo Wartke in seinem Lied „Happy End“ reimt. Weiterhin stellt der Berliner im Lied Klavierkabarettist fest: Von A bis Z über Ypsilon // Geschichten wie diese, es gibt sie schon // Solange wie es uns Menschen gibt // Man liebt und wird nicht zurückgeliebt.

Dem kann man nicht widersprechen. Liebesgeschichten gibt es ja tatsächlich wie Sand am Meer. Das Kennenlernen, die Unsicherheiten, das Zusammenkommen, Kinder, Streit, Versöhnung. Die Motive dieser Liebesgeschichten sind hinlänglich bekannt. Auch Isaac Rosas Roman macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme und variiert diese Motive nur. Allerdings ist die Art und Weise seiner Erzählung anders – denn Rosa erzählt seine Liebesgeschichte vom Ende her. Eine invertierte Beziehungsgeschichte sozusagen.

Eine invertierte Beziehungsgeschichte

Alles beginnt mit dem Epilog und der Trennung von Ángela und Antonio. Der Auszug aus der gemeinsamen Wohnung und das Anerkennen des eigenen Scheiterns. Damit nimmt in Glückliches Ende alles seinen Anfang, wobei es mit dem Glück am Ende der Geschichte weit her ist. Doch wie konnte es zu dieser Trennung und dem Versickern der Liebe kommen? Davon erzählen uns Ángela und Antonio abwechselnd, indem sie ihre Sicht der Dinge schildern.

Isaac Rosa - Glückliches Ende (Cover)

Immer weiter reist man dabei an den Beginn ihrer Beziehung zurück. Außereheliche Affären, fremdes Begehren, Renovierung eines gemeinsamen Eigenheims, die Geburt der Kinder und deren Zeugung, Heirat, Kennenlernen. Wie im Zeitraffer geht es rückwärts bis zum Prolog, der zugleich das Ende des Buchs markiert.

Das ist nicht nur von der Erzählweise her ungewöhnlich. Auch formal ist Isaac Rosas Glückliches Ende besonders. Denn die beiden Ich-Erzähler begegnen sich auch im Text. Während Ángela ihre Sicht der Dinge kursiv gesetzt schildert, ist es Antonio, der in den normal gesetzten Passagen zu Wort kommt.

Im Gegensatz zu anderen Beziehungsromanen mit zwei Erzähler*innen wie etwa Amity Gaiges Unter uns das Meer oder Lauren Groffs Licht und Zorn geht der Spanier Rosa hier allerdings einen Schritt weiter.

In den schwierigen Phasen des Misstrauens und der Abneigung stehen die beiden Perspektiven unverbunden nebeneinander. Als sie feststellen, dass sie sich auf verschiedenen Umlaufbahnen bewegen, werden ihre Schilderungen in zwei Spalten nebeneinander gerückt. In harmonischen Phasen ergänzen sich die Schilderungen mitunter, fallen sich ins Wort, umtanzen einander. So schafft es Rosa, auch auf formaler Ebene die momentanen Bindungskräfte ihrer Beziehung zu illustrieren. Das ist keine Spielerei sondern sinnvoll dosiert eingesetzt und unterstützt den Erzählinhalt.

Von schmerzhafter Genauigkeit

Das Identifikationspotenzial von Glückliches Ende ist hoch. Irgendwo dürfte sich wohl jeder in diesem Text wiederfinden. Sei es in der schmerzhaften Ergründung des Scheiterns, den Fährnissen in einer eingespielten Beziehung oder dem Rausch des Verliebtseins. Rosas Schilderungen sind präzise, manchmal fast etwas zu explizit und von gnadenloser Präzision.

Durch den Kniff, die Liebesgeschichte vom Ende her zu erzählen, gelingt es dem spanischen Autor, sich von der Vielzahl an thematisch ähnlich gelagerten Romanen abzusetzen. Auch nutzt er den Film Viaggio in Italia von Roberto Rossellini als wiederkehrende Stütze für den Roman, in dem das von George Sanders und Ingrid Bergmann gespielte Paar auf seiner Reise durch Italien miteinander und aneinander scheitert. Immer wieder nimmt Rosa in seiner Erzählung auf den Film Bezug und verwebt Film- und Buchrealität ein Stück weit miteinander. So ist Glückliches Ende die rückwärts erzählte Chronologie eines Scheiterns – eben aber auch einer Liebe, die mit Fortschreiten des Buchs intensiver wird.

Oder um noch einmal Bodo Wartke zu zitieren – Geschichten wie diese, es gibt sie schon. Aber wenn sie so präzise und klug gestaltet erzählt werden, dann sind sie doch etwas besonderes und verdienen Aufmerksamkeit. Wie eben im Falle dieses Romans!


  • Isaac Rosa – Glückliches Ende
  • Aus dem Spanischen von Marianne Gareis und Luis Ruby
  • ISBN 978-3-95438-124-1 (Liebeskind)
  • 352 Seiten. Preis: 22,00 €
Bodo Wartke – Happy End
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Alem Grabovac – Das achte Kind

Die Erforschung der eigenen Herkunft liegt im Trend. Literatur, die sich mit Identität, Familie, Klasse und Herkunft beschäftigt, feiert große Erfolge, und das nicht erst seit Saša Stanišićs Roman Herkunft, für den er den Deutschen Buchpreis erhielt, Auch die Bücher etwa von Christian Baron (Ein Mann seiner Klasse) oder Deniz Ohde (Streulicht) belegen den Boom dieser Art von Literatur.

Alem Grabovacs Roman Das achte Kind reiht sich in diese Reihe von Romanen nahtlos ein. Er schildert seine eigene wechselvolle Geschichte von der Geburt an bis in die Jugendzeit. Ein Buch, das den Augenmerk ganz auf das Erzählen richtet.


Mehrere Versuche habe er benötigt, um den Sound für seinen Debütroman zu finden, so erzählte Grabovac im Gespräch zu seinem Buch. Mehrere Ansätze habe es gegeben, die immer wieder verworfen worden seien. So habe er unter anderem einen Sound versucht, der an Thomas Bernhard erinnert habe. Aber alles nicht das Richtige für Das achte Kind, wie Grabovac zu Protokoll gab. Stattdessen wurde es nun ein klarer, reduzierter Ton, der in wenig prosaischer Sprache das Leben des Ich-Erzählers zum klingen bringt.

Alem Grabovac‘ außergewöhnliche Lebensgeschichte

Und tatsächlich war es eine kluge Entscheidung, den Fokus eher auf das Erzählte, denn auf das Erzählen zu legen. Denn Grabovacs Lebensgeschichte ist wirklich außergewöhnlich. So wächst er als Sohn einer kroatischen Gastarbeiterin in Würzburg auf. Der Vater ein Hallodri, der sogar die Mutter unmittelbar nach der Geburt bestiehlt, um sich mit Freunden dem Rausch hinzugeben. Auch in der Folge will sich kein rechtes Familienleben einstellen. Die Mutter schuftet in einer Schokoladenfabrik, der Vater ist absent.

Der Spagat zwischen der Versorgung des Kindes und der Rolle als Familienernährerin gelingt der Mutter – wer will es ihr verdenken – nur mäßig. Und so gibt sie Alem zu einer Tagesmutter, die diesen unter der Woche betreut. Marianne hat selbst bereits sieben Kinder, die größtenteils flügge sind. Alem wird so ihr achtes Kind. Schon bald sind Marianne und Robert für den Jungen die eigentlichen Eltern.

Seine Mutter zieht der Arbeit wegen nach Frankfurt weiter und findet einen neuen Mann an ihrer Seite. Alem bleibt bei seiner Ziehfamilie zurück und wächst in der schwäbischen Provinz auf.

Drei prägende Vaterfiguren

Alem Grabovac - Das achte Kind (Cover)

Drei prägende Vaterfiguren sind es, die Alem Grabovac in seinem Buch versammelt. Da ist zunächst der Hallodri und untaugliche Kindsvater Emir. Auch der Dusan, der zweite Mann an der Seite seiner Mutter, ist keine wirkliche Verbesserung. Gewalt, Überforderung, Alkoholmissbrauch sind auch hier Themen. Ein anderer Fall hingegen ist Robert, der im Privaten aus seiner Sympathie für Hitler und der Verbitterung über den Kriegsausgang keinen Hehl macht. Alle drei Figuren wecken in Alem Widerspruch, mit zunehmendem Alter emanzipiert er sich von den drei Männern.

Ganz anders hingegen seine Mutter, die er in Das achte Kind porträtiert. Ihre Herkunft aus einem kroatischen Dorf, ihr Bemühen um ein gutes Leben für ihr Kind und sich schildert Grabovac klar und empathieerweckend. Ihr Faible für die falschen Männer, die Heimatverbundenheit, all das zeigt der Autor auf nachvollziehbare Art und Weise.

Grabovacs Aufwachsen zwischen den Kulturen und Familien ist eine starke Geschichte, die auf das Wesentliche reduziert ist. Gerade durch die Wahl der erzählerischen Mittel überzeugt sie.

Fazit

Eine sprachliche oder inszenatorische Überformung findet hier nicht statt. Damit ist Das achte Kind näher an Deniz Ohdes Streulicht denn an Saša Stanišićs Bestseller Herkunft. Durch den Verzicht auf eine eindeutige Wertung oder Beeinflussung des Lesenden gewinnt dieses Buch. Eine starke Geschichte, die durch die Wahl der erzählerischen Mittel überzeugt und die neben den oben genannten Titel gerne empfohlen werden kann.


  • Alem Grabovac – Das achte Kind
  • ISBN 978-3-446-26796-1 (Hanser blau)
  • 256 Seiten. Preis: 22,00 €
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Dana Grigorcea – Die nicht sterben

Spukt Dracula noch immer in Rumänien herum? Diesen Verdacht könnte man hegen, wenn man Dana Grigorceas neuen Roman Die nicht sterben liest. Sie erzählt von einer in ihre Heimat zurückkehrenden Malerin, dem Mythos von Vlad dem Pfähler und dem modernen Rumänien.


Als Orientierung für diejenigen unter Ihnen, die von der Sache nichts mitbekommen haben, muss ich anführen, dass B. eine kleine Ortschaft in der Walachei ist, südlich von Transsilvanien gelegen, am Fuß der der Karpaten. Die Bukarester und die Kronstädter, die hier Ferienhäuser besaßen, bezeichneten die Ortschaft schlicht als Dorf, die Einheimischen allerdings sprachen trotzig von einer Stadt, weil am Fluss früher eine große Weberei stand, in der viele Bauern zu Arbeitern umfunktioniert wurden; für die Meinen war B., ganz versöhnlich, ein wundervoller Kurort. Dieser Ort also – darüber ist man sich einig -wurde bis zu den Ereignissen, über die hier zu berichten sein wird, weder mit Dracula noch mit anderen Vampirgeschichten in Verbindung gebracht.

Dana Grigorcea – Die nicht sterben, S. 9 f.

In diesen Ort B. kehrt die namenlose Protagonistin also zurück. In Frankreich verdingt sie sich als Malerin und findet bei ihrer Großtante Margot, genannt Mamargot, Aufnahme. Schon bald erschüttert eine unerhörte Begebenheit das Dorf. In einer Gruft findet die Protagonistin eine teilweise schon verweste Leiche. Es handelt sich um einen früheren Dorfbewohner von B.. Ein entscheidendes Detail an dem Fund erregt dann aber Aufmerksamkeit weit über das Dorf hinaus. Bei dem Grab, auf dem der Tote gefunden wurde, handelt es sich der Legende nach um das Grab von Vlad, dem Pfähler, alias Dracula. Spukt der Vampir immer noch durch die Landschaft Rumäniens? Und hat er sich in B. ein Opfer gesucht?

Ein unsterblicher Mythos

Dana Grigorcea - Die nicht sterben (Cover)

Der Mythos von Dracula ist im wahrsten Sinne nicht totzukriegen. Das muss auch die Protagonistin in Dana Grigorceas Buch feststellen. Der findige Bürgermeister kreiert nach dem Fund des Toten in B. schnell einen Dracula-Tourismus. Auch in der Familie der Protagonistin ist der Blutsauger-Mythos noch sehr gegenwärtig. Dieser speist er sich aber eher aus der Erfahrung des Lebens unter der Knute von Ceaușescu. Der Diktator, der Rumänien systematisch ausblutete und hartherzig regierte, trug im Volk auch den Beinamen „Dracula“.

Die Nachwehen dieser Erfahrung zeigen sich in Die nicht sterben vielfach. So regiert die Politik noch immer nach Gutdünken und auch die Natur wird ausgebeutet, so ist etwa die Abholzung der letzten Urwälder in Rumänien ein Thema, das Dana Grigorcea indirekt beleuchtet.

Wohin soll die Reise gehen?

All das sind vielversprechende Ansätze, über die das Buch leider zu keinem Zeitpunkt hinwegkommt. Mir drängte sich leider der Eindruck auf, als wüsste Dana Grigorcea nicht, was sie in ihrem Buch eigentlich erzählen wollte. Eine essayistische Betrachtung über das Fortwirken des Dracula- und Ceaușescu-Mythos im Rumänien der Gegenwart? Eine moderner Schauerroman? Eine Satire? Ein Krimi aus der rumänischen Provinz? Eine Update von Bram Stokers Vampirklassiker?

Ein moderner Blick auf den von Erzählungen und Legenden geprägte Leben in den Karpaten? Eine Betrachtung über die Auswirkungen des Kommunismus in der heutigen Zeit? Irgendwie steckt all das in Die nicht sterben, zu Ende geführt wird leider nichts. Auch gelingt es Dana Grigorcea nicht, einen wirklichen Lesefluss zu erzeugen. Bis die Geschichte etwas Fahrt aufnimmt, vergeht viel zu viel Zeit.

Stattdessen zoomt Grigorcea auf einzelne erzählerische Bilder, schweift in der Erzählung ab, hinterfragt mehrmals die Chronologie der Ereignisse und die Zuverlässigkeit des eigenen Erzählens. Was durchaus ein spannendes Erzählungsunterfangen hätte werden können gerät hier leider zu einem konfusen und wenig überzeugenden Themenallerlei, das keinen überzeugenden literarischen Ton findet und wild hin- und hermäandert. Schade drum!

Ich rate statt dieser Dracula-Annäherung weiterhin entschieden zu Bram Stokers epochemachenden Klassiker.


  • Dana Grigorcea – Die nicht sterben
  • 978-3-328-60153-1 (Penguin)
  • 272 Seiten. Preis: 22,00 €

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Taylor Brown – Maybelline

Ins Hinterland von North Carolina entführt Taylor Brown in seinem ersten auf Deutsch vorliegenden Roman Maybelline. Angesiedelt in den 50er Jahren erzählt er von Alkoholschmuggel, Kriegstraumata und von der Liebe. Ein gelungenes Buch, das trotz seines vermeintlichen historischem Kontextes erstaunlich viel über das heutige Amerika erzählt.


Im Kern dreht sich dabei alles um den Kriegsheimkehrer Rory Docherty. Dieser hat im Koreakrieg gedient und dort ein Bein verloren. Immer wieder überfallen ihn Flashbacks und Erinnerungen an das grausame Gemetzel dort, bei dem Millionen von Menschen ihr Leben verloren.

Gehandicapt verdingt sich Rory nun als Alkoholschmuggler. Für den mächtigen Schwarzbrenner Eustace Uptree liefert er in seinem hochgetunten Coupé namens Maybelline illegal Alkohol aus. Unter den wachsamen Augen des korrupten Sheriffs und den Steuerfahndern befährt Rory sämtliche Schleichwege des Hinterlandes, um die ländliche Bevölkerung mit Hochprozentigem zu versorgen.

Ganz anders da Rorys Großmutter, die die zweite Hauptfigur in Browns Roman ist. Sie wird von der lokalen Bevölkerung geschnitten, da sie sich früher prostituieren musste. Ihr Wissen um Heilkräuter und Verhütung nehmen die Hinterwäldler allerdings dann doch gerne in Kauf. Mit Furcht und Sorge beobachtet sie Rorys Rückkehr, der sich aufgrund seiner kompromisslosen Art schon binnen Kurzem diverse Feinde macht hat. Immer enger legt sich die Schlinge um Rorys Hals, während dieser in seinem Auto durch das Hinterland North Carolinas braust.

Starke und glaubwürdige Figuren

Mit Maybelline Docherty hat Taylor Brown eine starke Frauenfigur erschaffen. Dass sie dem Buch in Deutschen den Titel leiht, ist mehr als angemessen. Ihre Kämpfe um Unabhängigkeit und weibliche Selbstbestimmung, ihr Wissen um die Heilkraft der Natur, ihr Hintersinn und ihre Souveränität machen sie zu einer Figur, die man nicht so schnell wieder vergisst. Aber auch ihr Sohn steht in seiner ganzen Zerrissenheit seiner Großmutter nur um wenig nach.

Generell fällt bei Maybelline auf, welches Geschick Taylor Brown bei der Kreation seiner Figuren an den Tag legt. Schwarz-weiße Figurenzeichnungen sind das Ding des jungen Amerikaners nicht. Selten sind die Figuren einfach nur gut oder schlecht, vielmehr sind sie die Figuren in Maybelline erfreulich glaubhaft geraten, sind selten einfach nur gut oder schlecht.

Taylor Brown - Maybelline (Cover)

Neben der Komplexität der Figuren überzeugt aber auch die Themenfülle, die trotz des vermeintlich Jahrzehnte zurückliegenden Handlung erstaunlich aktuell ist. So spielen religiöser Eifer und Bigotterie eine Rolle, die Frage von Machtmissbrauch und Korruption wird verhandelt, die Probleme einer falschen Drogenpolitik sind Thema genauso wie nicht behandelte Kriegstraumata und gesellschaftliche Spaltung.

Ohne die Balance des Plots aus den Augen zu verlieren widmet sich Brown diesen vielen Themen. Er erzählt in einem klaren Ton, schafft Bilder und Sequenzen, die sich nachhaltig im Kopf verankern, etwa wenn er die Kriegsgräuel in Nordkorea beschreibt oder von Autorennen auf den engene Straßen des Hinterlands in den Appalachen erzählt. Auch die Naturbeschreibungen des von den Dochertys bewohnten Bergs, seiner Flora und Fauna wissen zu überzeugen. Wie das Leben dort die Menschen beeinflusst und den Takt des Lebens vorgibt, das schildert Brown nachvollziehbar und enorm eindrücklich (übersetzt von Susanna Mende)

Fazit

Maybelline besitzt gesellschaftliche Relevanz, richtet seinen Blick auf das Hinterland Amerikas und die vergessenen Probleme und Menschen dort. Ein Buch, das viele Klänge und Bilder wachruft. Eines, das seine Figuren ernst nimmt, spannend und hochtourig ist und das ich mit gutem Gewissen eine weitere Perle aus dem Polar-Verlag nennen kann. Gerne noch mehr davon!


  • Taylor Brown – Maybelline
  • Aus dem Englischen von Susanna Mende
  • Mit einem Nachwort von Kirsten Reimer
  • ISBN 978-3-948392-18-5 (Polar-Verlag)
  • 416 Seiten. Preis: 14,00 €
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Joël Dicker – Das Geheimnis von Zimmer 622

„Eines der großen Tiere der Ebezner-Bank wurde ermordet“ , sagte man. Ein Mord in Verbier. Das hatte es noch nie gegeben!

Joël Dicker – Das Geheimnis von Zimmer 622, S. 429

Man muss sich doch die Augen reiben bei der Lektüre von Joël Dickers neuem Roman Das Geheimnis von Zimmer 622. Ist das noch die beschauliche Schweiz, die Dicker hier schildert? Er erzählt vom Tarnen, Tricksen und Täuschen im Umfeld einer Schweizer Privatbank. Und fährt dabei eine gewaltige Menge an Budenzauber auf.


Irgendwann muss Joël Dicker genug gehabt haben von den USA als Schauplatz seiner Geschichten. Nachdem seine letzten drei Titel (Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert, Die Geschichte der Baltimores, Das Verschwinden der Stephanie Mailer) allesamt zu Bestsellern avancierten und Plätze in den Top20 der hiesigen Verkaufscharts erreichten, scheint Dicker Lust auf etwas Neues gehabt zu haben. Das betrifft sowohl die Erzählweise als auch den Schauplatz seines neuen Romans. Denn Das Geheimnis von Zimmer 622 spielt in den Schweizer Alpen zwischen Verbier und Genf.

Für seine Erzählung verwendet er dabei einen Kniff, der an Dickers ersten Bestseller erinnert. Wieder ermittelt hier ein Schriftsteller, der einem Rätsel auf den Grund gehen will. Der Unterschied zu Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert? Diesmal ist es Joël Dicker selbst, der als Ich-Erzähler ermittelt. Eine Konstruktion, die zuletzt auch etwa Anthony Horowitz für seine Krimis um den Ermittler Nathaniel Hawthorne wählte. Eine im Prinzip reizvolle Idee, die hier aber leider nicht so wirklich funktionierten mag.

Ein Mord in Verbier

Die Rahmenhandlung ist dabei schnell erzählt. Nach dem Ende einer Liason möchte Joël Dicker in einem edlen Alpenhotel im Schweizer Verbier Ablenkung finden. Doch mit dieser ist es nicht weit her. Denn kurz nach seiner Ankunft im Zimmer 623 muss er feststellen, dass es zwar ein Zimmer 621 und 621a gibt, allerdings keines, das die Nummer 622 trägt. Eine Mitbewohnerin im Hotel, die um Dickers schriftstellerischen Meriten weiß, versucht ihn in der Folge zu motivieren, hinter das Geheimnis von Zimmer 622 zu kommen. Und tatsächlich: schon bald erfahren die beiden, dass sich in jenem Zimmer ein Mord ereignet hat. Doch wer starb und warum wurde er umgebracht? Darüber fabuliert Dicker im Binnenteil der Erzählung.

Joel Dicker - Das Geheimnins von Zimmer 622 (Cover)

Er erzählt vom Schweizer Bankerben Macaire Ebenzer, dem eigentlich die Nachfolge im gleichnamigen Bankhaus (dem renommiertesten der Schweiz, so munkelt man) zugestanden hätte. Doch aufgrund einer früheren Verfehlung hat sein Vater eine besondere Art der Nachfolgeregelung ersonnen. Der Bankrat soll entscheiden. Und in diesem hat der Banker Lew Lewowitsch die Nase vorne. Jener Lewowitsch ist allerdings auch mit Macaires Gattin Anastasia verbandelt, mit der ihn eine lange Affäre verbindet.

Joël Dicker weiß, wie man eine Geschichte erzählt. Sein in den Vorgängerbüchern erprobtes Erzählkonzept der verschachtelten Erzählkonstruktion findet auch hier abermals Anwendung. So wechselt er zwischen der Rahmenhandlung um Joël Dickers Spurensuche und das Geschehen rund um das Bankhaus Ebenzer hin und her. Das ist unterhaltsam gemacht, ermüdet aber mit zunehmender Dauer des Buchs.

Immer und immer wieder wird eine Rückblende eingeschoben. Jede Figur hat ihre Geheimnisse, die stets durch eine oder mehrere Rückblenden erzählt werden. Dicker springt dabei unzählige Male in der Zeit zurück und hat sichtlich Mühe, die Geschehnisse , die zu dem Mord in Zimmer 622 führten, ausreichend sparsam dosiert in die Rahmenhandlung einzubauen.

Viel unglaubwürdiger Budenzauber

So muss er viel Aufwand treiben, um die Identität der Leiche und des Mörders in den zwischengeschalteten Sequenzen geheimzuhalten, ehe sich seine Binnenerzählung der Rahmenhandlung annähert. So ganz funktionieren mag es nicht, besonders mit zunehmender Lauflänge. Immer wieder muss Dicker Budenzauber um Budenzauber abbrennen, um das Geschehen halbwegs plausibel zu machen. Und je mehr Budenzauber er abbrennt, umso absurder wird dieses Buch.

Dies zeigt sich auch in den Figuren. Das Geheimnis von Zimmer 622 ist leider samt und sonders von Karikaturen bevölkert. Der täppische und nicht allzu helle Bankerbe, seine fremdgehende Frau, der weltläufige russische Topbanker, die grausame russische Mutter, die ihre beiden Töchter um jeden Preis in die europäische Hautevolée einheiraten will. Die an den Türen lauschende Putzfrau, die neugierige Sekretärin, der Dämlack-Cousin. Glaubwürdig ist in diesem Buch leider kaum etwas. Abgesehen davon, dass Dickers Verbier und Genf hier eher Chicago als wirklichen Schweizer Städten ähneln, sind auch die Figuren hanebüchen konstruiert.

Die Figuren sind mehr als unglaubwürdig. Ein Schweizer Bankerbe, so dämlich, tölpelhaft und weinerlich wie der völlig überzeichnete Macaire Ebenzer? Ein Bankier, der für eine geheime Organisation der Schweizer Regierung spioniert und Top-Secret-Aufträge erfüllt, derweil aber nicht mitbekommt, wie ihm seine Frau mit dem Konkurrenten Hörner aufsetzt? Und auch wenn Joël Dicker am Ende dieses voluminösen Buchs eine Erklärung hierfür liefert – glaubwürdiger wird dadurch gar nichts, im Gegenteil.

Überzeichnete und cartooneske Figuren

Ständig reißen diese Figuren in diesem Buch die Augen auf, wimmern, zetern oder sind bass erstaunt. Genauso albern wie ihre Namen (Sinior Tarnogol, Lew Lewowitsch, Macaire Ebenzer) ist auch ihr Handel. Das ist ein ums andere Mal hart an der Grenze des Erträglichen – und so manches Mal in seiner stilistischen Unbeholfenheit einfach jenseits von Gut und Böse.

„Scheiße“, raunte er [Macaire] Anastasia zu, „da ist Lewowitsch. Was treibt der denn hier?“

Anastasia hob den Blick und sah ihren Geliebten, und ehe sie es verhindern konnte, ging ein strahlendes Lächeln über ihr Gesicht. Ihr Herz schlug heftiger denn je. Sie war nur noch verliebter. Sie himmelte ihn an, er war schöner, aufrechter, mächtiger als all diese Männer um ihn herum, aus denen er herausstach. Sie fühlte sich lebendiger in seiner Gegenwart. Plötzlich sah sie ihn wieder so vor sich wie vor sechzehn Jahren, am Wochenende ihrer ersten Begegnung.

Joël Dicker – Das Geheimnis von Zimmer 622, S. 208

Konnte mich Dicker mit diesen schon zuvor manchmal recht einfach gezeichneten Figuren im amerikanischen Umfeld noch überzeugen – auf Schweizer Boden wirkt das leider nur noch künstlich und cartoonesk. So bleibt trotz des routiniert konstruierten Erzählwerks ein Buch, das aufgrund seiner Überzeichnung und teilweise stilistischen Holprigkeiten nicht überzeugen kann.


  • Joël Dicker – Das Geheimnis von Zimmer 622
  • Aus dem Französischen von Michaele Meßner und Amelie Thoma
  • ISBN 978-3-492-07090-4 (Piper)
  • 624 Seiten. Preis: 25,00 €

Ergänzende Informationen zum übrigen Werk von Joël Dicker

Wer sich trotz dieses wirklich grottigen Unterhaltungsroman weiter mit den Werken Joël Dickers beschäftigen möchte, dem seien seine früheren Bücher empfohlen, die allesamt in den USA spielen. Wohl am besten (und auch in Form einer Serie adaptiert) ist das deutschsprachige Debüt von Joël Dicker: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert. Ein süffiger Roman über einen Schriftsteller in der Kreativitätskrise, der über seinen eigenen Mentor zu recherchieren beginnt, nachdem auf dessen Grundstück die Leiche eines vor Jahrzehnten verschwundenen Mädchens auftaucht. Schon hier kommt die verschachtelte Erzählweise des Autors zum ersten Mal zum Tragen, da hier ja ein Schriftsteller von einem Schriftsteller erzählt, der über einen Schriftsteller recherchiert. Was in der Theorie kompiziert klingen mag, entpuppt sich dann als spannendes und unterhaltsam komponiertes Werk, das mich für Dicker sehr einnahm.

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