Monthly Archives: April 2023

Robert Seethaler – Das Café ohne Namen

Warum braucht ein Café unbedingt einen Namen? Es geht doch auch so, das beweist Robert Simon, der in Robert Seethalers neuem Roman im Wien des Jahres 1966 den Schritt in die Selbstständigkeit wagt. Er eröffnet ein Café am Karmelitenmark, das in der Folge zur Anlaufstelle für eine ganze Riege unterschiedlicher Menschen wird. Mit Das Café ohne Namen begibt sich der Österreicher Seethaler zurück in das Milieu der einfachen Leute – und damit auch zurück in der Erfolgsspur.


Mit seinen letzten beiden Romanen konnte Robert Seethaler nicht mehr wirklich an seine ebenso präzisen wie stimmigen Porträts Der Trafikant und Ein ganzes Leben anknüpfen. In Das Feld reduzierte er die Vita einer Stadt auf den Gang über einen Friedhofs mitsamt grabsteinkurzer Vignetten der Stadtbewohner und ihrer Schicksale. Mit Der letzte Satz schaffte er es dann vor zwei Jahren auf die Longlist des Deutschen Buchpreises, diese Nominierung war aber auch von vielen kritischen Stimmen begleitet, in deren Chor auch ich mich einreihen musste. Sein Porträt Gustav Mahlers war allzu kurz und oberflächlich, schenkte der Musik, also dem zentralen Aspekt Mahlers Wirken, nicht wirklich viel Raum und ließ viele der Qualitäten vermissen, die Seethalers frühere Werke auszeichneten.

Umso schöner, dass er diese Qualitäten in Das Café ohne Namen nun wieder zeigt und so zu alter Stärke zurückkehrt. Das liegt in meinen Augen vor allem auf die Rückbesinnung auf Seethalers literarische Qualitäten, die für mich in der Konzentration auf das alltägliche Milieu der „einfachen“ Menschen liegen.

In seinem neuen Roman konzentriert sich Seethaler dabei auf Robert Simon, der als Kriegswaise in Wien aufwächst und sich in den 1960er Jahren als geschickter Arbeiter mit Hilfsarbeiten rund um den Karmelitenmarkt über Wasser hält.

Ein unerfahrener Wirt und ein Café ohne Namen

Das leerstehende Café an einer Ecke des Marktes und die Erinnerungen an frühere Zeiten lassen in ihm den Entschluss reifen, es trotz keiner großen gastronomischen Erfahrung dort auch einmal als Wirt zu probieren. Und so renoviert er die Liegenschaft und beginnt mit dem Betrieb des Cafés zunächst als reine Ich-AG. Er bietet ein bodenständiges Café mit einer kleinen Karte. Schmalzbrot, Wein in den Varianten rot und Weiß, Limonade, Soda und lokales Bier, das ist das Angebot des Cafés am Karmelitenmarkt. Schon kurz nach der Eröffnung wird Simons Gastronomie gut angenommen und erste Erfolge stellen sich ein.

Immer mehr Gäste kamen: Leute aus dem Viertel, Schichtarbeiter, Angestellte in Hemdsärmeln, die Mädchen aus der Schottenauer Garngabrik. Simon lief umher, nahm Bestellungen entgegen, zapfte Bier, füllte Gläser, spülte sie mit kaltem Wasser ab, putzte sie mit einem Lappen und wischte mit einem anderen über die Tische. Mit einer Holzzange fischte er Salzgurken aus dem Glas und mit einer schmalen Spachtel schmierte er Schmalz auf das Brot, das er beim Marktbäcker bestellt und am Morgen ofenwarm und wie ein Neugeborenes in ein weißes Tuch gewickelt abgeholt hatte.

Später kamen die Händler. Es hatte sich herumgesprochen, dass das Café wieder geöffnet hatte, nun waren sie neugierig. Sie besetzten die Tische oder lehnten am Treseen, wo sie die Hand über das glatt geschmirgelte Holz gleiten ließen und Simon beim Zapfen zusahen.

„Ein Seidel Bier! Für mich einen Roten! Drei Weiße! Zwei davon aufs Haus!“

Robert Seethaler – Das Café ohne Namen, S. 28 f.

Doch nicht nur die Erfolge stellen sich ein – Simon als Wirt stellt auch Personal in Form der jungen Mila ein, um den Betrieb seines Cafés gewährleisten zu können. So kümmern sich die beiden sechs Tage die Woche um das Wohl der Gäste, am Dienstag herrscht Ruhetag.

Gäste und die Dramen des Lebens

Robert Seethaler - Das Café ohne Namen (Cover)

Im Lauf der Zeit findet das Café zwar zu keinem wirklichen Namen, dafür aber zu einem Stammpublikum, das das Café regelmäßig frequentiert. Da ist der Ringer und Showkämpfer René Wurm, der regelmäßig im Prater auf die Bretter geschickt wird, die Fierantin Heide Bartholome die mit dem russischen Maler Mischa Troganjew in einer Art Hassliebe verbunden ist, Trinker mit Glasauge oder Priester, die unter Alkoholeinfluss ausfallend werden, traurige und glückliche Menschen – sie alle kehren mal mehr und mal weniger regelmäßig in Simons namenlosen Cafe dort am Karmelitenmarkt ein.

Bei Robert Seethaler wird das Café zur Bühne für die größeren und kleineren Dramen des Lebens, die er einfühlsam und mithilfe nur weniger Sätze umfassend zu schildern weiß. Das ist jene Stärke, die ich aufgrund der etwas überambitionierten und nicht wirklichen runden Romane der letzten Zeit vermisst hatte, und das nun in Das Café ohne Namen wieder zu entdecken ist.

Wie Seethaler im Kleinen große Geschichten zu erzählen vermag, wie er Platz für alle Gefühlsregungen schafft, sprachlich zwischen Alltagssprache und Sinn für den besonderen Moment pendelt und das alles mit einem Filter der Melancholie versieht, das ist für mich wieder richtig gut gelungen und deshalb eine ganz klare Empfehlung, auch wenn ich das Buch vor Kitsch-Anwürfen nicht in Schutz nehmen kann.

Seinen Drang zur Reduzierung hat Seethaler nach den letzten Miniaturromanen wieder einhegt (so umfasste Der letzte Satz gerade einmal 128 Seiten) und hat seiner neuen Erzählung mit 288 Seiten hier wieder mehr Raum gegeben.

Schnell liest man sich durch diese Seiten, mit denen Robert Seethaler nach dem Kein&Aber-Verlag und dem Wechsel zum Hanser-Verlag nun bei Claassen im Ullstein-Verlag eine neue Heimat gefunden hat. Ein Umstand, der rein optisch bis auf den klein gedruckten Verlagsnamen gar nicht auffallen würde, hat man sich bei Ullstein doch für gestalterische Konstanz (oder eine clevere Kopie) entschieden und setzt die Covergestaltung des Hanser-Verlags auch hier unter neuem Dach fort.

Fazit

Mit Das Café ohne Namen besinnt sich Robert Seethaler wieder auf seine alte Stärke und inszeniert das Café am Rande des Karmelitenmarktes in Wien als Bühne für die großen und kleinen Dramen des Lebens. Sein loser Ensembleroman rund um den Wirt Simon als Anker steht in der Tradition der früheren Werke Seethalers und zeigt eine Wirtschaft im Nachkriegswien, deren Kundschaft ebenso vielfältig ist wie die Geschichte, die sie erlebt und zu erzählen haben. Der Österreicher braucht auch hier wieder nur wenige Sätze, um ganze Leben und Dramen in Worte zu fassen. Dass Seethaler damit wieder viele Fans glücklich machen wird und die Bestsellerlisten erobert, das ist zu erwarten und durchaus gerechtfertigt.


  • Robert Seethaler – Das Café ohne Namen
  • ISBN 978-3-546-10032-8 (Claassen)
  • 288 Seiten. Preis: 24,00 €
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Anthony McCarten – Going Zero

Ist das überhaupt noch möglich, in Zeiten der öffentlichen Videoüberwachung, Vorratsdatenspeicherung und massenhafter digitaler Spuren im Netz unentdeckt zu bleiben und dreißig Tage vom Radar der öffentlichen Überwachung zu verschwinden? Anthony McCarten macht aus dieser Überlegungen einen hochspannenden Thriller, der Orwells 1984 um einige Dimensionen weiterdenkt und der von den allumfassenden technologischen Möglichkeiten der Überwachung genauso erzählt wie vom Widerstand gegen das System. Going Zero ist ein hochspannenden Thriller, der zum Mitreißendsten zählt, das ich seit langem lesen durfte.


Nach Ankündigungen ging im Herbst des Jahres 2021 auf Amazon Prime Video ein Format auf Sendung, dessen zugrundeliegende Idee bestechend klang. Zehn Prominente, die sich als Paare oder solo unerkannt durch Deutschland schlagen müssen, wobei sie von einem Team von professionellen Verfolgern anhand von Kameras und digitalen Spuren gejagt werden. Wer es schaffte, sich der Überwachung zu entziehen, die Verfolger abzuschütteln und rechtzeitig zu einem später bekanntgegebenen Finalort zu gelangen, ohne festgesetzt zu werden, der hatte Celebrity Hunted, so der Titel des Formats, gewonnen.

Das Umsetzung des verheißungsvollen Experiment scheiterte aber durchweg an seiner offensichtlichen Inszenierung mitsamt dem durchscheinenden Script, angefangen von einem skurrilen Verfolgercast mit Ex-Merkelberater und General a.D. Erich Vad, bei dem es peinliche Verhöre der „Verdächtigen“ zu sehen gab, die wohl nicht einmal bei einem Vorabendformat eines Privatsenders den Schneideraum verlassen hätten. Immer wieder stolperten die Kandidat*innen, fanden sich in dilettantisch inszenierte Situationen wieder, bei denen sie sich plötzlich auf wundersame Weise der Verfolgerteams entziehen konnten, übernachteten unerkannt bei Prominenten und schlugen sich mal besser und schlechter durch ihre Mission.

Real fühlte sich hier nichts an, dabei gäbe solch eine Serie ja spannende Anküpfungspunkte für Reflektionen in Sachen öffentlicher Überwachung, der Speicherung und Preisgabe privater Daten und die Bedeutung von Datenschutz her.

Ein Überwachungsthriller von Anthony McCarten

Dafür gibt es jetzt dankenswerterweise den neuen Roman von Anthony McCarten, der all das einlöst, was Amazons Eigenproduktion nicht schaffte. McCarten, der zuletzt kaum noch Bücher schrieb und sich stattdessen auf Drehbücher für Hollywoodblockbuster wie die Queen-Biografie Bohemian Rhapsody konzentrierte, kehrt hier nun wieder zu seinen schriftstellerischen Wurzeln zurück und liefert nun nach tollen Werken wie Superhero oder Licht einen Überwachungsthriller reinsten Wassers ab.

Anthony McCarten - Going Zero (Cover)

Die Grundprämisse bei McCarten ist zunächst die gleiche, wie sie auch Amazon für seine Serie verwendete. Über das ganze Land hinweg werden zehn Freiwillige ausgewählt, die am Going Zero-Programm teilnehmen und die für dreißig Tage untertauchen müssen. Gelingt es ihnen, locken sagenhafte 3 Millionen Dollar als Preisgeld.

Mit diesem Programm möchte der Musk/Bezos/Zuckerberg-Wiedergänger Cy Baxter die Leistungsfähigkeit seines digitalen Werkzeugkastens unter Beweis stellen, den er gerne der CIA zu lukrativen Konditionen verkaufen möchte. Als Betreiber der Plattform WorldShare verfügt er über unzählbare digitale Spuren und private Daten seiner Nutzer, die man zur Aufklärung von Verbrechen nutzen könnte, indem man all diese Daten miteinander verknüpft und so über ein potentes Überwachungsinstrumen verfügt, wie der der Silicon Valley-Millionär erklärt. Das so entwickelte Programm, das auf den Namen Fusion hört, soll nun in einem Betatest auf Herz und Nieren geprüft werden, um vor den wachsamen Augen der CIA die Marktreife des Produkts unter Beweis zu stellen.

Eine Bibliothekarin gegen einen Großkonzern

Augewählt für diesen Betatest namens Going Zero sind zehn Freiwillige. Fünf der Teilnehmenden sind professionelle Datenschützer, Überwachungsexperten und Ex-Militärs, für die das Aufspüren und Untertauchen zum Kerngeschäft gehört. Die anderen fünf ausgewählten Teilnehmenden hingegen sind Laien, die mit Überwachungstechologien eigentlich nichts am Hut haben, darunter auch die Bibliothekarin Kaitlyn Day.

Die Frau, die eben eingetreten ist, betrachtet nachdenklich ihr Bild darin: Mitte dreißig, schwarzes Haar, Pagenschnitt, eine dieser riesigen Brillen, die seit letztem Jahr wieder in Mode sind, eine lange, weit geschnittene Hose, Turnschuhe und unter dem Mantel – einem leichten Übergangsmodell vom Vorjahr -, eine akkurat gebügelte schwarze Bluse mit Blumenmuster. Die Frau sieht sehr danach aus, was sie auch ist, nach Bibliothekarin – oder zumindest so, wie die meisten sich eine Bibliothekarin vorstellen.

Anthony McCarten – Going Zero, S. 9f.

Wie alle anderen Teilnehmenden durfte auch Kaitlyn sich vorbereiten und bekommt nach Start des Programms ein Zeitfenster von zwei Stunden, in dem sie sich unsichtbar machen darf. Ab dann stehen den Verfolger*innen in der Fusion-Firmenzentrale in Washington sämtliche Überwachungsmöglichkeiten zur Verfügung, die das Programm bietet.

Wie sich im Laufe von Going Zero zeigen wird, sind diese Werkzeuge mitsamt aller ihrer Möglichkeiten mehr als erschreckend. Während sich das Netz aus Kameras, Drohnen, Algorithmen und hochmoderner VR-Technik immer dichter um die Teilnehmer*innen zusammenzieht, gelingt es Kaitlyn, auf kreative Art und Weise, sich ihren Überwachenden immer wieder zu entziehen. Damit fordert sie den impulsgesteuerten Cy Baxter heraus, der natürlich alles bieten will, um alle Going-Zero-Programmteilnehmer auch vor Ablauf der dreißig Tage festzusetzen.

Ein atemberaubender Thriller

Going Zero ist ein atemberaubender Thriller von einer Intensität und einem Tempo, wie ich ihn lange nicht mehr lesen durfte. So lässt sich McCarten nicht viel Zeit mit einer Exposition seiner Figuren, sondern stürzt Kaytlyn gleich mitten hinein in das Programm, das schon auf den ersten Seiten rasant beschleunigt, wenn Überwachungsteams und Drohnen Jagd auf die Bibliothekarin machen.

Ab Programmstart ist das Tempo hoch, das zumindest mich auch in eine moralische Zwickmühle brachte. Denn während natürlich ist diese Jagd unglaublich spannend und intensiv, wenn die Häscher den Probanden mit der ganzen Fülle an Überwachungstechnologie zu Leibe rücken und diese Person um Person zur Strecke bringen. Zugleich entsetzt die Wahl der Mittel, nicht nur wenn Cy Baxter als Befehlshaber die Verhältnismäßigkeit der Mittel völlig aus dem Blick verliert und schon einmal Kampfdrohnen in Stellung bringen lässt oder in kanadisches Hoheitsgebiet vordringt.

Die potentielle Allmacht der Technologie gerade in ihrem Zusammenwirken führt McCarten erschreckend vor Augen und zeigt, wie gefährlich uns die Annehmlichkeit der digitalen Welt werden können, in der schon ein einziger Spruch auf einem T-Shirt zur Ergreifung eines Going-Zero-Teilnehmers führen kann.

Dass sich McCarten dabei nicht zu plumper Technologiekritik á la Dave EggersDer Circle hinreißen lässt, macht in meinen Augen die Qualität des Buchs bei. Denn in der Mitte des Buchs, gerade als die Frage entsteht, ob dieses Tempo zu halten ist und der Spannungsbogen über die restliche Laufzeit trägt, kommt es zu einem allesentscheidenden Twist, der Going Zero dann noch einmal auf eine neue Ebene hebt.

Denn ohne zu viel verraten zu wollen, hat auch Kaitlyn Day eine Mission, die aus Going Zero eine Angelegenheit bei der längst nicht ganz so klar ist, wer Verfolger und wer Verfolgter ist, wie es zunächst den Anschein hat. Nuanciert beschreibt der Neuseeländer die Risiken, zeigt aber auch, wozu die Technik im Guten imstande ist, obgleich natürlich die alte Frage bestehen bleibt : Wer überwacht die Überwacher?

Fazit

Die raffinierte Komposition, der Spannungsbogen, die eindrückliche Weiterführung der Schönen, neuen Welt und die Innensicht auf ein Silicon Valley, in dem Geheimdienste und Soziale Medien schon längst gemeinsame Sache machen, ergeben in Going Zero ein Buch, das die Gefahren und Risiken digitaler Technik und die darin innewohnenden Überwachungspotentiale gekonnt und mitreißend auslotet. Eindrücklicher war eine Hymne auf den Datenschutz wohl noch nie. Ein Buch, das wie ein Update für Huxley, Orwell und Co wirkt – das hoffentlich nicht unter dem Radar bleibt, sondern für viel Aufsehen sorgt!


  • Anthony McCarten – Going Zero
  • Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
  • ISBN 978-3-257-07192-4 (Diogenes)
  • 464 Seiten. Preis: 25,00 €
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Angela Steidele – Aufklärung

Angela Steidele entführt in ihrem neuen Roman Aufklärung in ein Leipzig des 18. Jahrhunderts, das einem intellektuellen Bienenschlag gleicht. In allen Ecken der Stadt fliegen die Ideen hin und her. Es summt und brummt im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Bach revolutioniert die Musik, das Ehepaar Gottsched reformiert die deutsche Sprache. Vertreter*innen der Philosophie, Naturwissenschaft und schöne Künste streiten und debattieren, vereint im Ziel, die Gesellschaft weiterzuentwickeln. Steidele beschreibt die neuen Ideen, Rivalitäten und die aufregenden Möglichkeiten, die ein freier Geist bereithalten kann. Ein glänzender Roman, der zeigt, was intellektuell in diesem Land einst vollbracht wurde und der völlig zurecht für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 nominiert ist.


Gottsched ließ den Blick über Luise und mich gleiten. „Das 18. Jahrhundert ist nicht nur das Jahrhundert des Lichts, sondern auch der Frauen!“

Ich spürte sein Knie an meinem und tat so, als würfe mich ein Stoß der stark ruckelnden Kutsche auf Luise. „Oh, entschuldigen Sie bitte.“

Angela Steidele – Aufklärung, S. 298

Schon allein diese kleine Szene arbeitet wunderbar die Themen, Figuren und Widersprüche heraus, die Angela Steidele in ihrem historischen Roman Aufklärung in den Mittelpunkt ihres Erzählens stellt. Denn bei ihr sind es nun die Frauen, die nach Jahrhunderten des männlichen Geniekults nun nach vorne auf die Bühne treten – oder vielleicht eher erst einmal aus der letzten Reihe heraus, wie Steidele zeigt.

Dorothea Bach und Luise Gottsched

Erzählt wird die Geschichte nämlich von Catharina Dorothea, genannt Doro Bach, der ältesten von insgesamt drei Kindern, die Johann Sebastian Bach zusammen mit seiner ersten Frau Maria Barbara Bach hatte. Diese erlaubt uns einen Blick in den Haushalt des Thomanerkantors, der nach dem Tod seiner Frau dann Anna Magdalena Bach heiratete, die für ihn dann ihre Karriere als Kammersängerin aufgab und sich der Erziehung der vielköpfigen Kinderschar kümmerte.

Die zweite zentrale Figur, die nicht nur in obiger Kutschszene als Orientierungspunkt für Doro Bach dient, ist Luise Gottsched. Sie stammt eigentlich aus dem Baltikum, kam aber durch die Ehe mit dem meritenumrankten Johann Christoph Gottsched, Professor für Weltweisheit, nach Leipzig, wo sie seitdem auf Männer und Frauen eine große Faszination ausübt, vor allem auf Dorothea.

Dorothea ist es auch, die die Briefe Luise Gottscheds nach ihrem Tod durchsehen und ordnen soll. Hat ihr Ehemann zwar eine Biographie verfasst, entspricht dieses Bild aber mitnichten dem, das Dorothea von Luise hatte. So liegt es nun an der Bach-Tochter, ihre Version der Ereignisse zu erzählen, woraus die Rahmenhandlung dieses Romans erwächst.

Männlicher Geniekult und Frauen in der zweiten Reihe

Angela Steidele - Aufklärung (Cover)

Egal wie weitumfassend die Kenntnisse von Luise Gottsched oder die musikalische Kompetenz von Doro Bach auch reichen mag – von Gleichberechtigung kann noch lange keine Rede sein, mag auch das Ehepaar Gottsched auf den ersten Blick fortschrittlich erscheinen. Aber übergriffige Männer und männliche Dominanz sind ein Thema, das weder heute noch damals in der Epoche der Aufklärung überwunden werden konnte. Wandernde Finger und Füße auf Kutschfahrten sind da noch das Harmloseste.

Steidele zeigt Mechaniken männlicher Geschichtsschreibung und verdrängter Frauen auf – und knüpft damit auch wieder an die Kanon-Debatten unserer Tage an, nicht nur, wenn Gottsched in der Biographie seiner Frau deren Leben stark überformt und verfremdet. Auch die Erzählerin Doro Bach erlebt dies beim Blick in die Familienchronik Ursprung der musicalisch-Bachischen Familie.

Dabei muss sie feststellen, dass sie zusammen mit Anna Magdalena zwar die Familie versorgt und zusammenhält. In der schriftlichen Aufzeichnung schlägt sich das allerdings keineswegs nieder. Denn in Bachs Chronik ist kein Platz für Frauen.

Eine durchnummerierte Liste mit Namen, Geburt, Verwandtschaftsverhältnissen und Wirkungsstätten als Musiker, selten mehr. Schreibt sich so Geschichte ohne eigenes Zutun? Ist das besser als Gottscheds Biographie über Luise? Er selbst teilte sich die Nummer 25 zu, Friedemann die 45.

„Und welche Nummer habe ich?“

„Ach Caro, gar keine natürlich.“

„Wie, gar keine?“

„Ehefrauen und Töchter zählt unser Vater nicht auf.“

Caroline griff nach den Blättern. „Was – uns gibts gar nicht?“ Fassungslos überflog sie die Chronik. „Nur Männer, die Söhne zeugten! Wie sind die denn auf die Welt gekommen?“

Susanna ließ die Nadel sinken. Sie fand Carolines Bemerkung überflüssig, ja blöd. Es verstehe sich schließlich von selbst, dass all die Väter auch Ehefrauen und Töchter gehabt hätten. Aber die hätten halt keine Werke hinterlassen und deshalb müsse man sie auch nicht erwähnen. Ich wollte nicht zanken und behielt meine Gedanken für mich.

Angela Steidele – Aufklärung, S. 140 f.

Ein historischer Roman mit feministischer Perspektive

Angela Steidele hat mit Aufklärung einen historischen Roman mit feministischer Perspektive geschrieben, der das Licht auch einmal auf jene lenkt, die heute schon wieder vergessen sind, ohne die die Epoche und ihre geisteswissenschaftlichen Entwicklungen so nicht hätten stattfinden können.

Luise Gottsched lauscht heimlich den Vorlesungen ihres Mannes und ist ihm spätestens dann unverzichtbar, wenn es mit einer Übersetzung dem frankophilen preußischen Herrscher Friedrich II. zu beweisen gilt, dass es das Deutsche in Sachen lyrischer Qualität durchaus dem Französischen aufnehmen kann. Zudem ist sie es, die in Steideles Interpretation der Geschichte Bach das Libretto für sein Weihnachtsoratorium liefert, dessen erste Zeilen „Jauchzet, Frohlocket“ wohl auch heute noch jedem und jeder geläufig sein dürften (obgleich die wahre Identität des oder der Verfasser*in jener Zeilen bis heute im Dunklen liegt).

Anna Magdalena organisiert den Probenbetrieb und den Haushalt, damit ihr Mann seine Kantaten und Oratorien ungestört komponieren kann. Johann Heinrich Zedler möchte sein Vorhaben für sein berühmtes Universallexikon auf den Weg bringen – braucht aber eine fähige Schriftführerin, die er in Form von Dorothea Bach findet. Die Schauspielerin Caroline Neuber muss sich das von ihre geleitete Theater immer wieder gegen Widerstände zurückerkämpfen – um ihre Spielrechte dann wieder zu verlieren.

Oftmals scheint es, als sei es alleine die weibliche Hartnäckigkeit und Widerstandskraft, die die Weiterentwicklung von Musik, Theater, Literatur und Wissen in jener Zeit ermöglicht. Die Männer sind in Steideles Leipzig oftmals mit weniger konstruktiven Dingen befasst, die Steidele humorvoll mit viel Anklängen an die Gegenwart und in manchen Passagen fast soaphaft schildert.

Der junge Lessing opponiert gegen Gottsched, dessen strenge Regelpoetik in Sachen Sprache und Theater ein Dorn im Auge ist. Bach strebt nach mehr Anerkennung seiner musikalischen Tätigkeit und komponiert gar das Musikalische Opfer, um sich bei den jeweils Herrschenden auf guten Fuß zu stellen. Junge Studenten schließen sich den Freimaurern an und Geheimgesellschaften schießen aus dem Boden, etwa auch in Ingolstadt, wo Adam Weishaupt seinen Zirkel der Illuminaten gründet.

Während Luise Gottsched sich hinter einem Pseudonym verstecken muss, um Die Pietisterey im Fischbein-Rocke zu veröffentlichen oder anonym hunderte Beiträge für die Publikation ihres Mannes zu schreiben, nutzten die Männer derweil die Anonymität eher, um sich gegenseitig in den Zeitungen zu verleumden. Breitkopf will die Schrifttype Antiqua einführen, hat aber den meisten Erfolg mit der Einführung kleiner Billets, die dutzendfach in den Gassen Leipzigs zirkulieren und auf denen man ebenfalls anonym über andere spottet oder die Wahrheit verdreht. Ein Trend, der in der Stadtgesellschaft schon bald unter dem Begriff „Zwitschern“ um sich greift.

Das Licht ist hier viel heller?

Nicht nur hier, sondern in vielen anderen Passagen scheint immer wieder deutlich die Gegenwart durch, etwa wenn sich auch der Lexikongründer Zedler über die Nachdrucke in mangelnder Qualität beklagt, in der die Raubdrucker beispielsweise die Wikinger falsch als Wikipedinger abgeschrieben nachdrucken. Egal ob Streitfragen über Übersetzungen oder Debatten zu Geschlechterverhältnisse – es wäre ein Fehler, Aufklärung als Roman über eine längst vergangene Zeit abzutun.

Denn Steidele schafft immer wieder durchaus humorvoll Bezüge auch zu unserer Gegenwart herzustellen und zeigt Geschichte als etwas Fortwährendes. Die in der Epoche verhandelten Probleme und auftretenden Themen sind allesamt auch in unserer Zeit von Belang, was in diesen Tagen besonders in den letzten Seiten des Buchs deutlich wird, wenn Steidele durch Dorothea den Siebenjährigen Krieg und seine ganze Sinnlosigkeit beschreibt.

Friedrich II. von Preußen, der gegen Maria Theresia von Österreich opponiert, dazu noch der Konflikt mit Russland unter Zarin Katharina – viele Gefechte um kleine Einflusszonen – und dazu viel Not und Elend für die Zivilbevölkerung. So wird Dorothea Zeugin, wie Friedrich II. trotz der Bittfahrten von Gottsched nach Potsdam die Stadt Leipzig erpresst. Soldaten, die Frauen schänden und Kriegsbeute rauben, Mangel, Hunger und Armut – all das lässt neben den anderen zahlreichen Parallelen in unsere Tage gerade besonders nachdenklich werden und das „Licht“ der Aufklärung so manches Mal recht deutlich flackern.

Licht und Schatten der Aufklärung

Nicht umsonst endet dieses an Gedichten, theoretischen Texten, musikalische Auszügen und philosophischen Zitaten nicht arme Buch auf folgende Zeilen aus Hillers Die verwandelten Weiber:

Denn die einen sind im Dunkeln
Und die andern sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht.

Angela Steidele – Aufklärung, S. 593

Und ja, Angela Steidele hat wirklich ein Buch geschrieben, dass die Licht- und Schattenseiten der Aufklärung in den Blick nimmt und das Zeitalter des Age of Enlightment eben nicht nur verklärt, sondern auch Raum lässt für die Makel jener Zeit. Männer im Licht, Frauen im Schatten – gegen diese Sichtweise schreibt Dorothea Bach an und schafft mit ihrem Zeugnis dieser Zeit ein beeindruckendes Buch, das Steidele klug inszeniert und in einer stimmigen Sprache darbietet.

Obschon sich die Männer im Universitätsumfeld in Aufklärung sehr begeistert vom binären Rechensystem zeigen, so ist die Schwarz-Weiß-Perspektive Angela Steideles Ding als Autorin gar nicht.

Sie überzeugt als Schriftstellerin mit dem Gespür für Verhältnisse jenseits des starr binären Denkens, egal ob geschichtlich oder geschlechtlich. Sie zeigt die schwebende Anziehung zwischen Frauen, die Mannigfaltigkeit der geisteswissenschaftlichen Entwicklungen in den verschiedensten Disziplinen, spielt mit der Unzuverlässigkeit der Erinnerung und des Erzählens und beweist nicht zuletzt auch in der Beschreibung von Musik ein ungeheures Talent. Ihre Schilderung der Aufführung der h-Moll-Messe zu Leipzig oder die Stimmproben von Dorothea mit Luise bestechen durch Plastizität und mitreißende Dynamik. Aufklärung macht nicht zuletzt auch Lust, sich wieder einmal in den klanglichen Kosmos von Johann Sebastian Bach zu versenken.

Fazit

All das macht aus den knapp 600 Seiten Aufklärung ein hervorragend geschrieben und ebenso hervorragend inszeniertes Werk, das voller Themen und Ideen steckt, eben so wie die Epoche der Aufklärung selbst. Man geht hervorragend unterhalten und nachdenklich aus diesem wissensprallen, geistreichen und humorvollen Buch heraus. Es ist Lektüre, die Lust macht auf Geistesarbeit und in der die Historikerin Steidele zeigt, in welcher Qualität man sich Bildung einst erschloss und wie revolutionär die Ansätze der Aufklärer (und natürlich nicht zu vergessen der Aufklärerinnen!) einst waren.

Nun muss man nach der Lektüre von Aufklärung ja nicht gleich einen Privatzirkel gründen, um philosophische Traktate zu übersetzen oder über Musiktheorie zu streiten. Ein Literaturzirkel wäre ja schon einmal ein Anfang – mit dem man am besten dieses Buch liest und sich drüber unterhält, streitet und so vielleicht noch einige verborgene Facetten dieses ungeheuer reichen Buchs erschließt. Dorothea Bach und Luise Gottsched würde es sicher gefallen!


  • Angela Steidele – Aufklärung
  • 978-3-458-64340-1 (Insel Verlag)
  • 603 Seiten. Preis: 25,00 €
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Clemens J. Setz – Monde vor der Landung

Querdenken. Ein Begriff, der früher einmal ein Begriff für unkonventionelle Denkansätze und innovative Geistesarbeit stand. Heute steht das Querdenken als Synonym für das ziemliche Gegenteil. Krude Theorien, unbeirrbar vorgetragen, Inszenierung als Widerstand gegen den „Mainstream“, so das Bild, das sich verstärkt im Zuge der öffentlichen Kritik gegen die Corona-Schutzmaßnahmen auf den Straßen der Republik manifestierte. Selbsternannte Querdenker und Querdenkerinnen waren es, die ihre Wut auf die Straßen trugen und so zunehmend für eine Begriffsverschiebung des Querdenkens sorgte.

Clemens J. Setz porträrtiert in seinem neuen Roman Monde vor der Landung nun einen historischer Vorgänger solcher Querdenker, nämlich den Fantasten Peter Bender, der die Theorie der Hohlerde verficht.


Den alleinigen Besitzanspruch der Wahrheit, er ist nicht nur heutigen Querdenkern zu eigen. Auch in der Geschichte lassen sich Beispiele für Menschen finden, die unbeirrt ihre abstruse Sicht der Dinge und ihre eigenwillige Lesart der Welt fernab des wissenschaftlichen Konsens predigten und sich im alleinigen Besitz der Wahrheit glaubten. Der Büchnerpreisträger Clemens J. Setz hat ein Beispiel für einen solchen „Denker“ gefunden und aus den Archiven ausgegraben. Peter Bender ist sein Name, der in der Stadt Worms lebte und seine Forschungen und Theorien über die Hohlwelt dort publizierte.

Bei Clemens J. Setz gleicht das Worms, durch das sich Peter Bender bewegt, einer Art Lummerland. Da ist die Nachbarin Frau Blun oder der Briefträger Herr Erdelmeier, die grüßen, wenn Bender mal wieder durch die Gassen der herbstlichen Nibelungenstadt eilt. Meist bewegt er sich auf dem „von der Sonne knusprig gebratenen Laub“ (S. 13) auf dem Weg nach Hause zu seiner Familie oder zu seiner Geliebten Else

Das Weltbild einer hohlen Erde

Auch den Obrigkeiten der Stadt Worms ist Bender dabei wohlbekannt, wie Clemens J. Setz in einer Mischung aus Rückblenden und gegenwärtiger Handlung beschreibt. Immer wieder eckt er mit seinem Weltbild und der Agitation für selbiges an. Sich selbst und seine Frau Charlotte betrachtet er als eine Art Priesterpaar, das seine Anhänge der von ihm verkündeten Lehre um sich schart. Doch seine Reden und die Verstöße gegen die Sitten rufen auch die Verwaltung auf den Plan, denn Bender wird für seine ketzerischen Äußerungen auch für mehrere Wochen inhaftiert.

Clemens J. Setz - Monde vor der Landung (Cover)

Doch seinem missionarischen Eifer setzt das keine Grenzen. Mögen die Zeichen in der Zwischenkriegszeit noch so schlecht stehen, Bender lässt sich nicht beirren. Während das Rheinland besetzt wird und die Inflation galoppiert, ist er weiterhin mit der Theorie der hohlen Erde befasst, die im Inneren ihrer Kugel den Himmel und herabsinkende Monde umschließt. Auch mit anderen Theoretikern, die ähnliche Gedankenmodelle propagieren, steht Bender im Austausch und reist dafür sogar bis nach Augsburg, um befreundete Denker zu treffen.

Doch die Zeiten werden schlechter, zunehmend leidet die Familie unter Armut und Benders Frau Charlotte, die er während seiner Zeit als Jagdflieger in einem Lazarett in Polen kennenlernte, wird aufgrund ihrer jüdischen Herkunft immer mehr ausgegrenzt. Spätestens mit der Machtergreifung Hitlers gerät die Familie immer weiter unter Druck, obschon sich Hitler selbst als Anhänger der Astrologie auch für abstruse Gedankengebäude zu begeistern vermag, lässt die Unterstützung Benders immer mehr nach, der nach wie vor von seinem Gedanken eines „Weltbilderkongress“ zu Worms besessen ist.

Die Geschichte der Inhaftierung Benders wird sich wiederholen – diesmal allerdings unter bedeutend schlechteren Umständen, denn der Amtsarzt stellt Bender nun die Diagnose „Geisteskrankheit“ aus, was für diesen wieder in Haft bringen und später auch sein ganzes Schicksal besiegeln wird.

Ein spannendes Leben – mit Lücken

Clemens J. Setz hat eine spannende Biographie ausgegraben, bei der ich persönlich allerdings den Eindruck hatte, bei der trotz des großen Umfangs noch deutliche Lücken bleiben. So bleibt bei mir nach der Lektüre von Monde vor der Landung das etwas unkonkrete Gefühl, dass in dieser Geschichte noch deutlich mehr drin gewesen wäre, als das, was uns Setz hier auf 520 Seiten präsentiert. Vieles bleibt hier so nebulös und angedeutet, wie Benders Weltbild selbst.

Man erfährt von der sogenannten Koresh-Gemeinde in Florida, die ihrem Lehrer Dr. Cyrus Teeds huldigt, bekommt am Rande eine Ahnung eines Buchs, dass Charlotte Bender über ihren Kampf um Peter Bender geschrieben hat – und auch Benders Roman Karl Tormann findet an mehreren Stellen (und einigen – in meinen Augen überflüssigen -Text- und Bildabbildungen) Erwähnung.

So richtig greifbar werden diese seitlich erwähnten Einsprengsel nicht und bleiben so unkonkret wie auch die verschiedenen Abweichungen von Benders Hohlwelttheorien, die etwa die von Bender bewunderten Denker Lang oder Neupert propagieren und über die man zwar seitenweise debattiert, dann aber doch wieder zu keinem Ergebnis kommt, bewohnen diese Männer doch alle eigene Erden mit jeweils eigenen Weltbildern.

Parallelen zum Querdenken unserer Tage

Am selben Morgen hatte Anslinger noch zu Sonnleithner gesagt, er solle, bevor er mit irgendwelcher Wissenschaft daherkomme, lieber seine Hausaufgaben machen. Selbst recherchieren. Nicht in Zeitungen. Eigene Gedanken wagen.

„O Gott, verschone mich!“ Sonnleithner hatte geflucht. Das angewiderte Gesicht, dass dieser Pfarrerssohn aus Leipzig immer machte, wenn es um Monde und alternative Theorien ihrer Entstehung ging, war gerade das Witzigste an der Sache. Recherchiere doch selbst. Was sagen echte Wissenschaftler? Nicht die Zeitungen.

Sonnleithner hatte ihnen nicht einmal abgenommen, dass Gasmasken die Überlebenschancen bei einem Angriff in der Regel verringerten anstatt erhöhten. Sonnleithner glaubte lieber, was man ihm von staatlicher Seite an Wissen vorsetzte.

Clemens J. Setz – Monde vor der Landung, S. 77

Die Parallelen zu Verschwörungstheorien von QANON bis hin zu Impf-Mythen und Lügen in unseren Tagen liegen ja auf der Hand – sonderlich weit führt diese historische Blaupause aktueller diskursiver Entgleisungen allerdings nicht. Bender ist von seiner Theorie überzeugt, kann immer wieder Menschen, vor allem Frauen, mit Charisma von seinen Vorstellungen überzeugen, und doch hilft ihm auch sein Glauben an die hohle Erde nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht wirklich weiter. Clemens J. Setz versucht ihm nahezukommen und schafft das in vielen Passagen auch wirklich beeindruckend.

Fazit

Und doch fehlt mir für die Begeisterung das letzte Quäntchen, dass das Buch in seiner Gesamtkomposition wie auch seinen Verweisen auf die Gegenwart zum bestechenden Leseerlebnis macht. Es ist gut, bisweilen auch virtuos, durchsetzt mit Geschichte und Figuren, die zwischen Wahn und Genie kreisten wie etwa Hermann Oberth, den man wiederum aus dem Roman von Daniel Mellem kennt.

Aber das nicht wirklich greifbare Weltbild, die Verzerrung der Wirklichkeit, die widersprüchlichen Theorien von hohlen Erdkernen, herabsinkenden Monden und konkaven Erden, Benders sprunghaftes Handeln, das alles im Verbund mit einer deutlichen Überlänge hat mir ein leichtes Fremdeln mit dem Buch beschert, obschon ich mit dieser Meinung wirklich in der Minderheit sein dürfte. Andere Stimmen zu Monde vor der Landung finden sich unter anderem im Bücheratlas und dem NDR. Zudem ist das Buch für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 nominiert.


  • Clemens J. Setz – Monde vor der Landung
  • ISBN 978-3-518-43109-2 (Suhrkamp)
  • 528 Seiten. Preis: 26,00 €
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Lee Cole – Kentucky

Kentucky, kurz vor den Wahlen 2016. Lee Cole zeigt in seinem Debüt einen jungen Mann, der an seiner eigenen Herkunft und Klasse zu verzweifeln droht und der sich zwischen Baumschnitt, Verliebtheit und familiären Schwierigkeiten zurechtfinden muss. Ein großartiges Debüt!


Dass die Durchschnittlichkeit eines amerikanischen Mittelschicht-Lebens trotzdem eine spannende Angelegenheit sein kann, das beweist nicht nur Richard Russo in seinen Romanen. Sollte sich der Autor der Great American Novels eines Tages zur Ruhe setzen – mit Lee Cole stünde ein würdiger Nachfolger bereit.

Der im ländlichen Westen Kentuckys aufgewachsene Autor legt mit Kentucky sein Debüt vor, das von Jan Schönherr ins Deutsche übertragen wurde. Darin erzählt er zumindest partikular einen Campusroman, der sich von „normalen“ amerikanischen Campusromanen doch deutlich unterscheidet. Denn hier steht kein privilegierter junger Mensch im Mittelpunkt, der auf dem Campus zwischen akademischen Partys und Verbindungshäusern hin- und herhuscht.

Vielmehr spielt der Roman tatsächlich zu großen Teilen auf dem Campus, der für Owen Callahan, den Helden von Lee Coles Buch zwar Studien- aber vor allem auch Arbeitsort ist. Denn da der junge Mann alles andere als begütert ist und nach einigen Drogenexzessen in früheren Tagen so gut wie kein Erspartes besitzt, gelingt ihm der Zutritt zur akademischen Welt nur über die Arbeit der Baumpflege.

Baumpflege und Studium

Die Universität von Louisville bietet ihren Baumpflegekräften auf dem Campus eine Art Work & Study an. Tagsüber stutzen Owen, Rando und James zusammen die Bäume auf dem Campus und dem angeschlossenen Arboretum, danach darf Owen Vorlesungen zum Thema Kreatives Schreiben besuchen, was sich hier als ein bisweilen recht skurriles Seminars zum Thema „Dschungelnarrative“ entpuppt.

Lee Cole - Kentucky (Cover)

Derweil hängt Owen in Studentenkneipen wie der „Schadenfreude“ herum und sucht nach seinem Platz im Leben. Nach Hause zieht es ihn nicht wirklich, vor allem weil man seine Bleibe kaum als Zuhause bezeichnen kann. Abgebrannt lebt er im Keller bei seinem Großvater, der ihm neben dem kostenlosen Zimmer auch seinen Truck zur Verfügung gestellt hat. Mit im Haus wohnt zudem sein Onkel Cort, der als eine Art Frührentner seine Tage mit Zocken oder dem stundenlangen gemeinschaftlichen Konsum von Cowboystreifen und Western verbringt.

Man hat sich irgendwie arrangiert, aber immer wieder fliegen die Fetzen und spätestens als Cort in seinem Zimmer ein von der Straßenseite aus gut einsehbares Plakat mit dem Slogan Make America Great Again anbringt, wird klar, dass hier Welten aufeinanderprallen.

Das Leben in den Südstaaten

Besonders deutlich wird dies Owen selbst, als er sich in die aus Bosnien stammende und an seiner Uni lehrende Alma verliebt, die mit ihrer Lyrik und Prosa schon aufhorchen ließ. Ihre sich entwickelnde Liebesgeschichte lässt Owen noch einmal neu auf seine Heimat dort in den Südstaaten und die trostlose Existenz seiner getrennt lebenden Mittelschichtseltern blicken.

Kentucky ist ein Roman, der vordergründig kaum Handlung bereithält. So mäandert Owens Leben zwischen der sich entwickelenden Romanze mit Alma, seiner trostlosen und von Armut geprägten Wohnsituation, seinem Job auf dem Campus und den Gehversuchen als Literat hin und her. Dabei beherzigt Lee Cole aber auch, was er in seinem Roman Alma über Literatur sagen lässt:

Viele große Romane mäandern vor sich hin, und der Plot entsteht nur durch die Abfolge von Ereignisse. Ich meine, ein Plot kann ja manchmal auch bloß darin bestehen, dass Zeit vergeht. Weißt du was ich meine?

Lee Cole – Kentucky, S. 238 f.

Möchte man diesen Roman zusammenfassen, dann ist es nicht die besondere Handlung oder besondere Figuren. Alles mäandert hier in seiner Durchschnittlichkeit dahin. Die Kunst von Lee Cole ist es aber nun, ähnlich wie Richard Russo dieses Mittelmaß als etwas Besonderes zu inszenieren.

Das Besondere im Durchschnittlichen

Sein Romanpersonal ist an Durchschnittlichkeit nicht zu überbieten. Die leicht rassistischen Eltern, Trump-Unterstützer, Republikaner dort im Süden, auf der anderen Seite die Einwandererfamilie Almas, die sich nach der Flucht aus Jugoslawien rasch den neuen Verhältnissen in ihrer Heimat angepasst hat.

Die deprimierende Kulinarik der faden Restaurants und Kneipen, in denen die Dates von Owen und Alma stattfinden, die Flohmärkte auf Parkplätzen, evangelikale Gottesdienste mitsamt der Verfechtung der These des Kreationismus, die Hoffnungslosigkeit und der Stolz der Einwohner dort im Süden der USA, für die auch die Südstaatenflagge irgendwie zur Identität und zum Nationalstolz zählt, von all dem erzählt Lee Cole in seinem Debüt eindringlich und anschaulich.

Aber es ist nicht allein der Blick auf die amerikanische Mittelschicht, kurz vor der spektakulären Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA. Lee Cole beweist in Kentucky neben seinem Auge für die soziologischen Aggregatszustände im Herzland der USA, dass er auch den Aufstiegsmythos der USA zu dekonstuieren in der Lage ist. Wie er das Strampeln Owens für ein vernünftiges Auskommen und wenigstens etwas finanziellen Spielraum zeigt, das ist wirklich gut gemacht.

Irgendwie genoss ich es, ihr meine Schrottjobs aufzulisten. Ich hatte Häuser gestrichen, Burger gebraten und Kinderbücher in einer Bibliothek einsortiert. Vor dem Gastspiel als Baumpfleger in Denver hatte ich in einem Thai-Restaurant in Boulder das Geschirr gespült. Besonders in Colorado war ein Großteil meines Gehalts für Bier, Pillen und das dort eben erst legalisierte Gras draufgegangen. Meine Familie nannte das gern euphemistisch „Party machen“, im Sinne von „Wann hörst du endlich auf, immer nur Party zu machen, und kriegst mal dein Leben auf die Reihe?“. Diese Frage kann ich in den verschiedensten Versionen.

Aber wie eine Party war mir dieses Leben eigentlich nie erschienen. Vor allem hatte ich mich einsam und erbärmlich gefühlt, und diese Einsamkeit hatte irgendwann einen Siedepunkt erreicht, ab dem sie nicht mehr auszuhalten war.

Lee Cole – Kentucky, S. 67 f.

So sehr sich Owen auch für Stipendien bemühen mag und einen Job als Leitung des Baumpflegeteams anstrebt – so wirklich gelingt ihm das Vorankommen nicht. Seinem Milieu und seiner sozialen Prägung kann er nicht wirklich entkommen, wenngleich er sich bei Familientreffen auch streitet und seine liberale Weltsicht mit der der Hinterwäldler-Eltern kollidiert. Letzten Endes ist der amerikanische Traum und das Aufstiegsversprechen aber doch nur ein fernes Glimmen am Horizont. Das zeigt Lee Cole in Kentucky sehr deutlich.

Fazit

Das macht aus Kentucky ein wirklich lesenswertes Buch, das die amerikanische Mittelschicht mit Scharfsinn und Beobachtungsgabe in den Blick nimmt. Lee Cole gelingt ein Roman, der weniger durch seine Handlung als vielmehr durch sein Talent für die Schilderung der Lebenswelt von ganz durchschnittlichen Amerikanern in der Tradition von Richard Russo besticht. Großartige Literatur aus dem Bible Belt im Jahr 2016, das durch den großen Realitätsgehalt und die Schilderung des Großen im Kleinen überzeugt. Ein großartiges Debüt, das noch viel erhoffen lässt.


  • Lee Cole – Kentucky
  • Aus dem Englischen von Jan Schönherr
  • ISBN 978-3-498-00270-1 (Rowohlt)
  • 416 Seiten. Preis: 25,00 €
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