Monthly Archives: Juli 2025

Svealena Kutschke – Gespensterfische

Wie kann man überleben, ohne verrückt zu werden? Oder bedeutet Überleben auch immer, selber ein wenig verrückt zu werden? Svealena Kutschke erkundet in ihrem Roman Gespensterfische die Frage des Überlebens und erzählt weit ausgreifend von Patienten und Ärzten einer norddeutschen Psychiatrie. Daraus entsteht eine Lektüre, die in ihrer Erzählweise herausfordert, aber zugleich zu vielen Fragen und Reflektionen einlädt.


Gespensterfische, das sind Fische, die unter größtem Druck in der Tiefsee leben. Licht dringt in ihren Lebensbereich keines mehr vor, nur üben die Wassermaßen einen großen Druck auf die Tiere aus. Die Fische haben körperliche Merkmale entwickelt, um unter den widrigen Bedingungen leben zu können. Manche von ihnen verfügen sogar über eine eigene Lumineszenz, um dort in der Tiefe überleben zu können. Sie zeigen damit jenen Überlebenssinn, den auch die Figuren in Svealena Kutschkes Roman an den Tag legen.

Denn bei vielen der Figuren handelt es sich um Psychiatrieinsassen einer Einrichtung im Norden des Landes. Wie Gespensterfische haben sie eigene Überlebensstrategien entwickelt, um auf das Leben mit all seinen Zumutungen reagieren zu können. Mal mehr und mal weniger gut eingestellt mit Medikamenten trotzen sie den inneren Dämonen – vor denen aber auch ihre Gegenüber nicht gefeit sind.
Denn viele der Behandelnden sind ebenfalls nicht frei von den Schwarzen Hunden, wie der selbst unter Depressionen leidende Winston Churchill seine Pein einst ausdrückte.

Der Geist war jeden Morgen schon lange vor ihm wach, ausgezehrt von sich selbst. Er schlief nur in Fetzen. Vor einem freien Tag bediente er sich am Medizinschrank. Er war schließlich Psychiater. Auch ihm einmal in der Woche die tiefe kalte See, in der nichts mehr zu finden ist als der eine oder andere Gespensterfisch.

Svealena Kutschke – Gespensterfische, S. 157

Dem herausfordernden Thema von psychischer Belastung, psychischer Probleme und der Behandlung dieser Felder begegnet Svealena Kutschke mit großem Einfühlungsvermögen, die sprachlich nachzuzeichnen vermag, wie sich Depressionen oder andere Krankheitsbilder ausdrücken und vor allem anfühlen. Mit einer wandelbaren und sehr poetischen Sprache springt sie durch die Jahrzehnte und die Leben ihrer Figuren.

Psychiatriegeschichte und der Umgang mit blinden Flecken

Svealena Kutschke - Gespensterfische (Cover)

Immer wieder wechseln die Kapitel, beleuchtet sie die dunkelsten Kapitel der Psychiatriegeschichte dort in Lübeck, als Patienten der Jannsen-Klinik in der Zeit der Nazis der Euthanasie zum Opfer fielen und wie sich der Umgang mit dieser Schuld wandelte. Auch zeigt sie in ihren Figuren den Wandel und die Anpassung an neue Umstände, etwa dann wenn die Künstlerin Laura an einem Bildroman über die Klinikpatientin Olga Rehfeld arbeitet, deren Mann nach der Scheidung zu ihrem behandelnden Arzt werden sollte.

Bei einem Aufenthalt in der Klinik in den 90er Jahren lernt sie diese Lebensgeschichte kennen, die sie nicht mehr loslassen soll. Immer tiefer verstrickt sie sich in das Leben der vor ihr in der Jannsen-Klinik lebenden Frau – und löst durch die sich intensivierende Beschäftigung auch eine Krisis bei Laura aus.

Auch Olga Rehfeld erlebte eine solche Krisis, fand aber in der Verbindung zu ihrer Mitpatientin Noll einen Raum, der ihr einen Umgang mit ihren Problemen ermöglichte. Denn vor allem in der Beschäftigung mit der Sprache, die an das Werk von Lyrikerinnen wie Ingeborg Bachmann, Sylvia Platz, Yoko Tawada oder vor allem Friederike Mayröcker anschließt, fand sie einen Ausdrucksraum. Es ist ein Ausdrucksraum, an den Svealena Kutschke mit ihrer Sprache, den Sprachbildern und den immer wieder verändernden Rhythmen und Melodien ihrer Sätze anknüpft.

Rehfeld glaubte an Arbeit, Beharrlichkeit, Disziplin, was das Gegenteil von Keksen war. Besonders aber glaubte Rehfeld an Räume. Physische Räume. Und Denkräume. Einen physischen Raum hatte sie sich erkämpft. Es gegen das liebevolle Lächeln Fellners durchgesetzt, das Hause gehöre doch ganz ihr, den ganzen Tag, überall könne sie doch –

Svealena Kutschke – Gespensterfische. S. 76

Kunst als Heilungsraum

Mit ihren gemalten Bildern und der graphischen Beschäftigung mit ihrer gewissermaßen Vorgängerin versucht sich Laura an einem Zugang zum Heilungsraum der Kunst, sie für sich öffnen soll. Immer wieder ist diese Kunst für Patienten ein Ausdrucksmittel – und auch Svealena Kutschke nutzt sie ausgiebig, um damit die Innenweilten ihrer Figuren anschaulich erfahrbar zu machen.

Vieles ist in Gespensterfische wie in einem impressionistischen Gemälde hingetupft. Es ist ein Erzählen, das auf das Innen schaut und das dennoch ein Gespür für das hat, was nicht erzählt werden kann und was im Ungefähren bleiben muss. Sie springt nicht nur durch fast zehn Jahrzehnte, sondern blickt auch immer wieder auf unterschiedliche Generationen von Menschen auf beiden Seiten des Behandlungsspektrums und fällt von Figur zu Figur, deren Schicksale sie immer wieder aufgreift.

Sie zeigt dabei, wie durchlässig die Schichten von vermeintlichen Normalen und „Verrücktem“ ist, und wie fragil doch unser Bild der Welt ist, das wir uns machen. Literatur wird bei Kutschke zum seelischen Ausdrucksmittel und zum Überlebenswerkzeug, oder wie es eine ihrer Figuren im Buch in einer Notiz einmal beschreibt: Wenn wir nicht sterben wollen, müssen wir erzählen (S. 222)

Zudem trägt ihr kunstvoller Beitrag neben den in diesem Bücherherbst erscheinenden Werken von Leon Engler oder Anna Prizkau dazu bei, das immer noch klischeetriefende Thema der Psychiatrien und psychiatrischer Behandlung aufzubrechen und ein Bewusstsein für diese Welt und die in ihr lebenden und arbeitenden Menschen zu schaffen – und das stets mit einem Gespür für Brüche und die Fragilität des vermeintlich Normalen.

Fazit

Thematisch wie sprachlich wie strukturell ist Gespensterfische das Gegenteil eines Easy Reads. Kunstvoll komponiert und sehr fein, fast fragil gearbeitet erfordert Kutschkes Buchs das Einlassen auf ihren Text. Wenn man sich aber die Zeit und die gedankliche Offenheit für ihr Erzählen nimmt, so wird man mit einer sprunghaft und gerade dadurch so eindrücklich erzählten Geschichte belohnt, deren Zusammenhänge und Beziehungen sich erst langsam erschließen.

Wie durchlässig die Schichten von vermeintlich Normalem und „Verrücktem“ ist, wie man den Widrigkeiten der Welt trotzt, was Wirklichkeit eigentlich bedeutet und wie sich langsam unser Umgang mit den lange Zeit so stigmatisierten Menschen mit psychischen oder Problemen und Schwierigkeiten wandelt, das lässt sich aus diesem Kunstwerk erfahren, das die Zeit belohnt, die man sich für die Beschäftigung mit Kutschkes Werk und Gedankenwelten nehmen sollte. Denn die Tiefe in diesem Buch ist enorm, auch wenn die Gespensterfische dabei nur Metapher sind.


  • Svealena Kutschke – Gespensterfische
  • ISBN 978 3 89561 363 0 (Schöffling)
  • 224 Seiten. Preis: 24,00 €
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Tomasz Różycki – Die Glühbirnendiebe

Wenn der Weg über den Flur zum Anschauungsunterricht in Sachen Leben im Kommunismus wird, dann handelt es sich um den Roman Die Glühbirnendiebe von Tomasz Różycki. In diesem Buch schickt der polnische Autor einen Jungen zu Nachbarn, um dort Kaffeebohnen mahlen zu lassen. Der kurze Gang wird zu einer großen Reflektion über das Lebensgefühl und den Alltag im Plattenbau zur Zeit des Spätsozialismus


Kaffee, für viele von uns gehört er zum täglichen Leben dazu und ist meist auf Knopfdruck innerhalb von Minuten und nahezu überall verfügbar. Ganz anders jedoch bei Tomasz Różycki. Denn der Roman des 1970 geborenen Autors spielt irgendwann in der Spätphase des Kalten Kriegs in Polen.

Karol Wojtyla ist Papst und segnet auf Bildern und Fotos auch die Wohnungen der Familien im Plattenbau – Güter des täglichen Bedarfs sind aber weit weniger verfügbar als der omnipräsente Papst und Landsmann. Teils über Tage hinweg müssen sich Familienmitglieder gegenseitig abwechseln, um ihren Platz in langen Schlangen zu behaupten, an deren Ende im besten Fall einige wenige Rationen von Luxusgütern wie etwa Kaffee warten.

Die Sache mit dem Kaffee

Und wenn man aufgrund eines guten familiären Netzwerkes und einer wohlkoordinierten Anstelltaktik zu den Glücklichen zählt, dann kann es passieren, dass sich sich der sehnlich begehrte Kaffee als nicht verarbeitetes Produkt in Bohnenform herausstellte. So zumindest im Falle des Romans von Tomasz Różycki, der mit genau diesem Fall eröffnet, der sich in der Folge zu einem Panorama des Lebens im Spätsozialismus entfaltet.

Hört euch an, wie meine Mutter gesprungen ist. Also, das war so: Als es uns kurz vor Vaters Namenstag endlich gelungen war, Kaffee zu organisieren, und sich herausstellte, dass es Bohnen waren, sagte Vater, der vorm Fernseher saß, wo im pulsierenden grauen Pixelwirbel gelegentlich die fantastischen Formen des Plattenbaupanoramas von Ursynów auftaucheten, zu mir: „Geh zu Stefan und lass ihn mahlen“, denn sie hatten eine Kaffeemühle. Er ging natürlich nicht selbst, obwohl man dazu über den schrecklichen Dachboden musste, und wir klopften auch nicht bei den Nachbarn links und rechts, weil die von links keine Mühle und wir mit denen von rechts kein sonderlich gutes Verhältnis hatten, warum, wusste, keiner genau.

Tomasz Różycki – Die Glühbirnendiebe, S. 5

Und so macht sich der junge Held Tadeusz auf den Weg hinauf zum Dachboden, wo der gefürchtete Gaang auf einer Länge von etwa 120 Meter die verschiedenen Plattenbauten miteinander verbindet, um die Kaffeebohnen in einen nutzbaren Daseinszustand verwandeln zu lassen.

Was eigentlich nicht länger als ein paar Minuten dauern dürfte, wird im Falle von Die Glühbirnendiebe zu einer Erzählung von 220 Seiten. In dieser Erzählung taucht man man mit Tadeusz gemeinsam tief ein in das Leben dort im Plattenbau ein und erhält eine Ahnung davon, wie Gemeinschaft und Alltag einst aussahen in jenem spätkommunistischen Betonmonstrum, das von Rissen und Brandnarben durchzogen am Rande eines Steinbruchs harrt.

Leben im Plattenbau

Tomasz Różycki - Die Glühbirnendiebe (Cover)

Aufgrund des Vandalismus, der sich auch im steten Diebstahl von Leuchtmitteln im Haus zeigt, ist der Gang äußerst schummrig beleuchtet. So flößt sich Różyckis junger Erzähler selbst Geschichten und Erinnerungen ein, um sich damit von der Schaurigkeit seines Wegs zu den Nachbarn abzulenken.

Meter um Meter kämpft sich Tadeusz dort oben auf dem Flur voran, während seine Gedanken immer wieder abschweifen und sich in Erinnerungen verharken. Der Müllschlucker, die ständigen Zündeleien und Brandstiftungen und die Risse im Gebäude, die einen Ausblick auf die Tristesse des Stadtteils Ursynów im Süden Warschaus erlauben, sie alle zeigt uns Tadeusz in seiner Art der Autosuggestion.

Ähnlich wie das aufgrund von Sprengungen im benachbarten Steinbruch immer wieder schwankende Gebäude zeigen sich auch im Alltag der Menschen immer mehr Risse und das System beginnt langsam zu bröckeln. Noch aber regiert der Sozialismus in seinem ganzen Lauf – was sich aber keineswegs einem grauen und deprimierenden Leseerlebnis äußert – ganz im Gegenteil.

Ein gewitzter Roman über den Spätsozialismus

Die Glühbirnendiebe ist ein gewitzter Roman, der mit viel Liebe zu seinem Erzählgegenstand den Alltag im Plattenbau mit all seinen Mängeln, vor allem aber mit der Findigkeit seiner Bewohner noch einmal wachruft. Die Familie Tadeusz‘, die aus der Ukraine stammt und in der vor allem die Altlemberger Flüche des Vaters Zeugnis von der Herkunft ablegen, die Nachbarn, die mal als äußerst kreative Denunanzianten die Mitbewohner im Plattenbau anschwärzen, mal mit besonders rigorosen Ernährungsvorschriften ihrer Kinder Tadeusz‘ Familie herausfordern, sie alle leben im wahrhaftigen Erinnerungsgang des Jungen auf.

Die Anforderungen, die das Leben im Block stellte, werden bis heute unterschätzt- Dabei war es eine echte Schule des Lebens, vielleicht eine kommunistische, aber eine Schule.

Tomasz Różycki – Die Glühbirnendiebe, S. 53

Tomasz Różycki erzählt von Familienfeiern, deren Tabakkonsum alle Feinstaubmesswerte pulverisiert haben dürfte, von kuriosen Schwarzbrennereien in der Platte oder dem Fest, das die Zuteilung von Schweinsfüße bedeutete, denn das Endprodukt von Sülze konnte ganze Familien in kulinarische Ekstase versetzen, wie Die Glühbirnendiebe beweist.

Es sind die kleinen Momente, die so anschaulich vom Leben im großen Plattenbau erzählen. Tadeusz erweist sich als durchaus sprachmächtiger Erzähler (Übersetzung aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann), der von Menschen und deren Zusammenleben erzählt, und damit wieder einmal jenes vielzitierte und vielen Denker*innen zugeschriebene Zitat erfüllt, dem nach der Historiker sagt, wie es war und der Schriftsteller, wie es sich angefühlt hat.

Fazit

Wie es sich angefühlt hat, das Leben im Plattenbau, das zeigt Tomasz Różycki in seinem Roman eindringlich. Der Spätsozialismus ersteht in diesem Roman wieder auf und straft damit auch die Worte von Tadeusz‘ Freundin Bermuda Lügen. Denn diese bekennt, dass sie Bücher für Zeitverschwendung hält, das Lesen sie langweile. „Wozu lesen, wenn man leben kann?“ so ihre Haltung. Dabei sind es genau solche Bücher wie Die Glühbirnendiebe, bei denen man nicht nur Lesen, sondern gleich ganze Leben mitleben kann. Mehr kann gute Literatur nicht schaffen!


  • Tomasz Różycki – Die Glühbirnendiebe
  • Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
  • ISBN 978-3-949262-45-6 (edition. fotoTAPETA)
  • 224 Seiten. Preis: 25,00 €
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Henning Sußebach – Anna oder: Was von einem Leben bleibt

Ja was ist es, das von einem Leben bleibt? Spuren, Fotos, Vermächtnisse geben Hinterbliebenen eine Ahnung davon, wer der Mensch war, der da gegangen ist. Was aber, wenn der Tod einer Person schon fast hundert Jahre zurückliegt, niemand mehr lebt, der der Toten je begegnet ist und sich so gut wie nichts erhalten hat, das einen Eindruck von der Person geben könnte, die einst gelebt hat?

In seinem Buch Anna oder: was von einem Leben bleibt macht sich Henning Sußebach daran, das Leben seiner 1932 verstorbenen Urgroßmutter zu rekonstruieren, um sie so auch stellvertretend für andere Menschen dieser Generation wenigstens ein Stück weit dem Vergessen zu entreißen. Was er dabei zutage fördert, ist die Biografie einer resilienten Frau, deren Leben von jenem Fortschritt kündet, der die Gesellschaft erst deutlich später erreichen sollte.


Kein Tagebuch, nur ein paar Notizbücher, Fotos, Briefe, Kaffeeservice, Verlobungsring und ein paar weitere Hinterlassenschaften, mehr hat sich nicht erhalten an Spuren von Anna, der Urgroßmutter des Journalisten Henning Sußebachs. Ausgehend von diesen kümmerlichen Spuren begibt er sich auf die Mission, wenigstens in Ansätzen ihr Leben und die Lebenswelt zu rekonstruieren, in der sich diese Frau bewegt hat. Dies tut er immer auch mit dem Blick von heute, der um die Probleme und eigenen Unzulänglichkeiten der Interpretation vergangener Zeiten und vergangener Leben weiß.

Anna lebte in heute schwer fassbaren, unübersichtlichen Zeiten, womöglich zu wirr und widersprüchlich für ein klares Bild, das die Jahre überdauert. Sie war Bürgerin von vier Staaten. Königreich Preußen, Norddeutscher Bund, Deutsches Kaiserreich, Weimarer Republik. Sie durchlebte Währungsreformen, Börsencrashs und Inflation. Sie war Zeugin, als ein großer Krieg den Kontinent verheerte, als Monarchien stürzten und eine junge Demokratie um ihre Existenz kämpfte. Sie erlebte mit, wie die Industrialisierung einigen Wohlstand brachte und andere ins Elend rutschen ließ. Sie las von Männern, die sich in wackligen Fluggeräten an die Eroberung des Himmels machten. Sie sah die ersten Autos fahren. Sie hörte, wie plötzlich Stimmen von Radiowellen übertragen wurden.
Anna war dabei, als die Welt sich weitete, die Räume für eine Frau wie sie aber eng blieben.

Henning Sußebach – Anna oder: was von einem Leben bleibt, S. 8 f.

Auf den Spuren der eigenen Urgroßmutter

Henning Sußebach - Anna oder: was von einem Leben bleibt (Cover)

Anhand einiger Fotos und den biografischen Spuren fühlt sich Sußebach in das Leben seiner Urgroßmutter ein, das nicht nur von zeitlichen Umbrüchen gekennzeichnet war, sondern in dem sie auch selbst den Zerfall von sicher Geglaubtem erfuhr.

So arbeitete sie in jungen Jahren als Lehrerin im tiefsten Sauerland und trat mit 20 Jahren diesen Dienst im Dörfchen Cobbenrode an, in dem sie als alleinstehende Frau die stete Verfügung durch die Männer des Dorfs erfahren haben muss. Aber durch Heirat und stete Arbeit brachte es die 1867 geborene Frau zur angesehenen Besitzerin des wenige Jahre zuvor errichteten Postamtes, dessen Betreiberin sie wurde. Während in den Ländern Europas langsam eine Frauenbewegung erstarkte und Rechte für sich einforderte, war davon in Cobbenrode noch wenig zu merken.

Und doch setzt sich Anna gegen viele Widerstände durch, die es privat wie auch gesellschaftlich zu dieser Zeit zu überwinden gab – und die auch heute noch nicht ganz verschwunden sind. Eine Ehe, die nur nach 90 Tagen ihr tragisches Ende fand, danach eine unkonventionelle Partnerwahl, auch der Aufstieg zur selbstständigen Unternehmerin, die als Postbevollmächtige die Poststation des Dorfs betrieb – mit all dem zeigte sich Anna als widerstandsfähig und selbstermächtigend, was ihr Leben auch über hundert Jahre nach ihrem Tod so interessant und geradezu zu einem Vorbild macht, was die unbeirrte Verfolgung des eigenen Lebensweges anbelangt.

Fortschritt und Widerstandskraft

Aufstieg und private Schicksalsschläge vermengen sich im Leben Annas, die doch nie aufgibt und sich von Widerständen nicht aufhalten lässt, wie Henning Sußebach in seinem Buch zeigt.

Auch der Zeitkontext spielt eine wichtige Rolle. So bettet der für die Wochenzeitung Die Zeit tätige Journalist das Leben und die wichtigen Schritte in Annas Leben immer wieder in das jeweilige historische Zeitgeschehen ein. Er blickt auf die parallel zum Leben Annas stattfindenden Entwicklungen weltweit, die auch einen Fortschrittsgeist atmen, bei der wie in der übrigen Geschichtsschreibung für Frauen aber nicht viel Platz ist.

1878 – weit außerhalb von Annas Radius bedeutet das:
In Berlin werden zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. verübt. (…)
In New Jersey an der Ostküste der Vereinigten Staaten arbeitet der Erfinder Thomas Alva Edison an Glühbirnen für elektrisches Licht. In Paris stellt ein Bildhauer den Kopf einer Freiheitsstatue vor, die Frankreich dem Verbündeten jenseits des Atlantiks schenken will.
Ein Baron bricht auf, um als erster Seefahrer das Polarmeer nördlich des russischen Kaiserreichs zu durchfahren, die Nordostpassage.
Im Osmanischen Reich beginnt der Archäologe Carl Humann mit Ausgrabungen auf dem Burgberg der antiken Stadt Pergamon.
Männer, Männer, Männer.

Henning Sußebach – Anna oder: was von einem Leben bleibt, S. 31 f.

Ergänzt um Dokumente wie die damals geltende Schulordnung in Cobbenrode oder Auszüge aus Schulbüchern entsteht ein dichter, reflektierter Text, der den Geist jener Zeit gut vermittelt. Auch bricht der Text die Männerzentrierung der Geschichtsschreibung auf und zeigt mit dem exemplarischen Blick auf das vergessene Leben von Anna, wie viel Tiefe, Kraft und Fortschrittsgeist auch an Orten und in Leben von heute vergessenen Personen zu finden ist, die die Geschichtsschreibung sonst eher übersieht und wo man es kaum erwartet. Zudem entdeckt Sußebach seine Urgroßmutter als Quelle dessen, was heute unter dem Wort der „Resilienz“ firmiert.

Fazit

Anna oder: was von einem Leben bleibt setzt dem Leben Annas ein Denkmal und zeigt, was wir durch das Vergessen und Nicht-mehr-Erinnern an Personen der Geschichte drei oder vier Generationen vor uns eigentlich verlieren. Sein liebevoller und bedachter Blick auf die eigene Urgroßmutter entreißt diese wirklich dem Vergessen und zeigt sie als widerstandskräftige, bereits damals emanzipierte und unkonventionelle Frau

Nicht zuletzt ist Sußebachs Buch auch eine Einladung zur Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte und zum Blick auf die Leistungen und Leben der eigenen Vorfahren. Dass sich diese Beschäftigung lohnen kann, das unterstreicht Anna oder: was von einem Leben bleibt auf eindrucksvolle Art und Weise!


  • Henning Sußebach – Anna oder: was von einem Leben bleibt
  • ISBN 978-3-406-83626-8 (C. H. Beck)
  • 205 Seiten. Preis: 23,00 €
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Das Deutscher Buchpreis-Lotto 2025

Wie jedes Jahr so auch heuer meine Spekulationen, was die Nominierungen für den Deutschen Buchpreis 2025 anbelangt. Nach einer Trefferquote von 7 von 20 Titeln im vergangenen Jahr hoffe ich diesmal auf eine nicht ganz so vorhersagbare Liste, lasse mich aber gerne überraschen.

Wie immer gilt: es handelt sich bei meinem literarischen Lottoschein um eine Mischung aus Erwartetem, Erhofftem, Übersehenem und Gemochten (und in guter Tradition eines Tippspiels darunter natürlich auch Blind-Geratenes und Noch-Nicht-Gelesenes).

In einem Monat, genauer gesagt am 19. August, haben wir dann auf alle Fälle Gewissheit, denn dann erscheint die offizielle Nominierungsliste für den Deutschen Buchpreis 2025. Hier jetzt aber gibt es meinen ausgefüllten Tippschein mit folgenden Nominierten:

Mein Tippschein 2025

  • Annett Gröschner – Schwebende Lasten (C. H. Beck)
  • Anja Kampmann – Die Wut ist ein heller Stern (Hanser)
  • Christoph Hein – Das Narrenschiff (Suhrkamp)
  • Christine Wunnicke – Wachs (Berenberg)
  • Arno Frank – Ginsterburg (Klett Cotta)
  • Tim Staffel – Wasserspiel (Kanon-Verlag)
  • Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung (Hanser)
  • Annegret Liepold – Unter Grund (Blessing)
  • Daniela Dröscher – Junge Frau mit Katze (Kiepenheuer Witsch)
  • Clemens Böckmann – Was du kriegen kannst (Hanser)
  • Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit (Klett Cotta)
  • Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern (C. H. Beck)
  • Svealena Kutsche – Gespensterfische (Schöffling)
  • Ralf Westhoff – Niemals nichts (Rowohlt)
  • Katerina Poladjan – Goldstrand (S. Fischer)
  • Leif Randt – Let’s talk about feelings (Kiepenheuer Witsch)
  • Nora Hadadda – Blaue Romanze (S. Fischer)
  • Verena Güntner – Medulla (Dumont)
  • Martina Clavadetscher – Die Schrecken der anderen (C. H. Beck)
  • Lena Schätte – Das Schwarz an den Händen meines Vaters (S. Fischer)

Welche Titel erwartet oder erhofft ihr euch auf der diesjährigen Liste?

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Susan Barker – Old Soul

Aufgepasst bei dieser Fotografin! Denn wenn in Susan Barkers Roman ein Lichtbild von einer mysteriösen Fotografin angefertigt wird, kann es schnell passieren, dass man sich im Bann dunkler Mächte wiederfindet und plötzlich alle Organe und Äußeres im Körper spiegelverkehrt angeordnet sind. Mit Old Soul liefert die britische Autorin einen spannend komponierten Beitrag zum Genre des Horrorromans ab.


Es ist eine verblüffende Duplizität der Ereignisse, die eine zufällige Begegnung am Flughafen von Kansai in Japan zutage fördert. Denn eigentlich wollen der Grundschullehrer Jake und die Bankangestellte Mariko einen Flug nach Amsterdam erreichen, doch nichts da. Sie verpassen ihren Flug und treffen sich, verbunden durch das Erlebnis, zu einem Abendessen, um sich die Zeit bis zum Abflug am nächsten Tag zu vertreiben.

Im Lauf dieses Abendessens stoßen sie dabei auf eine erstaunliche – oder besser gesagt erschreckende Gemeinsamkeit. Denn sie beide haben geliebte Menschen verloren, beide scheinen in den Wahnsinn abgeglitten zu sein, bei beiden fanden sich nach dem Tod ihr Inneres wie Äußeres spiegelverkehrt angeordnet – und beide waren zuvor einer Fotografin begegnet.

Invertierte Körper, alte Seelen

Susan Barker - Old Soul (Cover)

Diese Offenbarung führt zu weiteren Erkenntnissen. Denn Mariko hinterlässt Jake einen Hinweis auf ihre Schwägerin Sigrid, die er in ihrer Wohnung in Marzahn aufsucht. Diese liefert ihm weitere Hinweise auf die Begleitumstände des Todes von Hiroji, ihrem Mann und Marikos Bruder.

Damit ist Jake fast in so etwas wie einen Kaninchenbau gefallen. Denn bei seiner Suche stößt Jake auf immer weitere Spuren solcher geheimnisvoller Todesfälle – und eine Fotografin, die bei diesen Todesfällen stets eine Rolle zu spielen scheint. Selbst über Jahrzehnte und Kontinente hinweg ist es immer wieder das gleiche Muster, das bei seinen Recherchen zutage tritt. Eine mysteriöse Fotografin, ein Abgleiten in den Wahnsinn, wahlweise Verschwinden oder ein Tod mit invertiertem Innerem und Äußeren.

Diese Spurensuche Jakes, die sich in sogenannten Zeugnissen ausdrückt, in denen Menschen via Gespräch oder Tagebücher von ihren Erfahrungen mit dem Verlust geliebter Menschen berichten, ergänzt Susan Barker mit immer wieder eingeschobenen Passagen, die in den sogenannten Badlands spielen. Hier ist es ein junges Mädchen namens Rosa, das die Bekanntschaft mit einer Fotografin gemacht hat. Diese soll Rosa für deren spirituellen Youtube-Kanal porträtieren. Eigentlich hat die Fotografin aber ganz anderes im Sinn, wie sich schnell unter der glühenden Sonne dort in der Wüstenlandschaft zeigt.

Warum hast du keine Angst?

Ich lebe schon zu lange und habe zu viel gesehen, um mich zu fürchten.

Wie alte bist du denn? Fünfunddreißig?

Um die dreihundert. Ich bin eine alte Seele.

Das Mädchen greift lachen nach der Flasche. Wow. In dreihundert Jahren hast du bestimmt eine Menge erlebt.

Na ja… Kriege, Hungersnöte, Völkermord. Das banale, nie endende Schauspiel menschlicher Grausamkeit und Habgier.

Susan Barker – Old Soul, S. 194

Von Berlin-Marzahn bis New Mexico

Marzahn, Osaka oder die Wüste New Mexicos sind die Schauplätze, an die Susan Barker uns Leser*innen mitnimmt. Egal ob Zeit oder Ort – in allen Episoden zeigt sich das Gespür der Autorin für die jeweilige Atmosphäre und die genauen Milieuschilderungen, die von Bambuswäldern in Japan bis zum Underground in der DDR reicht. Auch Menschen und deren kreative Umgebung weiß Susan Barker hervorragend zu zeichnen, etwa eine Bildhauerin, deren Kunst die Autorin glaubhaft zu vermitteln weiß oder ein Künstler, der mit dem DDR-Staat hadert und dessen Kunst jenen Schrecken zutage fördern wird, dem auch anderen Figuren später noch begegnen werden.

Dieser Sinn für die präzise Zeichnung der jeweiligen Milieus und die dort herrschende Atmosphäre, verbunden mit stilistischer Varianz (souverän von Volker Oldenburg übersetzt) und schon fast globalem Anspruch verbindet das Schreiben Barkers mit dem ihres britischen Landsmannes Hari Kunzru. Dessen von einer ähnlichen Atmosphäre für Schauplätze und dem damit verbundenen Plot getragenes Schreiben, etwa in seinem Werk Götter ohne Menschen, das in einer ähnlich kargen Wüstenlandschaft spielt, Red Pill, das ebenfalls die DDR zum Thema hat oder sein Bestseller White Tears, in dem der Horror auch erst noch tapsig und später umso wirkungsvoller zutage tritt.

Bis hin zur großen Action und dem Showdown reicht dieses durchdacht komponierte Buch

Literarisch versiert erzählt, klug komponiert und mit einem hervorragenden Gespür für Stimmungen und das Abgründige ist Old Soul ein Beispiel, wie gelungen Horrorliteratur heutzutage aussehen kann. Der Suhrkamp-Verlag hat mit Autorin und auch der Aufmachung des Buchs wirklich einen Griff getan. Gerne mehr von diesem kosmopolitischen, literarische hochwertigen Grusel!

Eine weitere Meinung zu Old Soul gibt es auf dem Blog Lust auf Literatur und bei Literatur leuchtet.


  • Susan Barker – Old Soul
  • Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
  • ISBN 978-3-518-47474-7 (Suhrkamp)
  • 390 Seiten. Preis: 24,00 €
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