Heinrich von Berenberg – Vom Stemmen der Gewichte

Einführung in das Portfolio seines Verlags, Hommage an den literarischen Herzensort Spanien, dazu noch mehr als ein Dutzend Schriftsteller*innenporträts aus der halben Welt. Heinrich von Berenberg macht mit der unter dem Titel Vom Stemmen der Gewichte veröffentlichten Zusammenstellung seiner Newsletter und charmanten Programmvorstellung Lust auf Literatur aus dem gleichnamigen Verlag.


Das Veröffentlichen von Büchern, es kann bisweilen ein echter Kraftakt sein. Was die Arbeit mit Autor*innen, Manuskripten und den Umgang mit der Öffentlichkeit anbelangt, kostet sie Verlagshäusern und deren Mitarbeitenden oftmals viel Energie. Da ist der kleine Gewichtheber nicht das schlechteste Bild, der minimal schurzberockt seit nunmehr 21 Jahren tapfer auf den Umschlägen des Berenberg-Verlags die kurz vor ihrem Bruch stehende, schwer beladene Gewichtstange nach oben stemmt.

Was für ein Kraftakt dieses Stemmen von literarischen Gewichten sein kann, das lässt sich aus dem Buch von Heinrich von Berenberg lernen. In diesem gibt er, versehen mit dem schönen Untertitel News and Letters, Einblicke in das Geschäft des Büchermachens. Auch erklärt der Verleger, wie der kleine Gewichtheber als Logo zum seinem Haus fand, der sich auf der Verlagshomepage mit folgenden Worten selbst so vorstellt: Der Berenberg Verlag ist ein Literaturverlag mit viel Non-Fiction im Programm. Wir bemühen uns um deutschsprachige Literatur, sind aber störrisch international.

Newsletter und Autor*innenporträts

Heinrich von Berenberg - Vom Stemmen der Gewichte (Cover)

Wie es kam mit dem Verlag und was den Verleger vom einstigen Lektor und Übersetzer bei Wagenbach mit Schwerpunkt der spanischen Literatur zu einem Verleger werden ließ, davon gibt das in Broschur im eigenen Verlag erschienene Buch Auskunft. Den Schwerpunkt des Buchs bilden Newsletter, die Heinrich von Berenberg als Verlegerpost in unregelmäßigen Abständen verfasst und in denen er seine Autor*innen vorstellt, weit über jegliches ökonomisches Interesse hinaus.

Es sind gelehrte Darstellung, die mit persönlichem Blick seine Bindung zu Autor*innen und Themen ergründen und die neugierig machen auf das jeweilige Werk und das Oeuvre der Autor*innen. Jene Werkvorstellungen lassen sich nun hier versammelt lesen und bilden damit die thematische Fülle ab, die die Verlagspublikationen mit den meist schmalen, fadengehefteten und dafür inhaltlich umso gehaltvolleren Büchern kennzeichnet.

So erzählt Heinrich von Berenberg von seinem erstmaligen Kontakt mit Richard von Schirach und der Arbeit, die hinter seinem Buch Die Nacht der Physiker steckte. Seine Hymne auf die Autorin Christine Wunnicke findet sich ebenso wie eine Hommage an schwierige Autoren wie Igal Avidan. Auch erzählt er von den Schwierigkeit, die das Leben bereithält, wenn etwa die Wahrnehmung der eigenen Personen mit der Fremddarstellung auseinanderklafft – so passiert etwa im Zug der Publikation der Tagebücher Michael Rutschkys.

Bis hin zum Ungemach, das die Debatte über den von Berenberg verlegten Roman Eine Nebensache von Adania Shibli brachte, reicht der Bogen, den von Berenberg in seinen Betrachtungen als Verleger spannt. Immer weisen seine Briefe und Vorstellungen über die einzelnen Werke oder Autor*innen hinaus und vermitteln einen Eindruck, wie vielfältig und herausfordernd das Büchermachen auch sein kann. Ein Kraftakt eben.

Faszination für die spanische Literatur

Aber auch seiner Faszination für Spanien und die lateinamerikanische Welt ergründet der Verleger in seinem Buch – und das gleich vorneweg. Die starke Prägung seit Jugendtagen und Einsichten in ein literarisch vielgestaltiges Land, dessen Fülle hierzulande gar nicht so wirklich bekannt ist, ihren Ursprung betrachtet von Berenberg und schreitet dabei biographische wie literarische Wegmarken seines Lebens ab.
Die Beschäftigung mit richtungsweisenden Autoren wie etwa Rafael Chirbes oder Roberto Bolaño, dessen Werk von Berenberg entdeckte und teilweise übersetzte, bis hin zu zeitgenössischen Autoren wie Vicente Valero oder Juan Pablo Villalobos, um deren Pflege sich der mehrfach preisgekrönte Verlag verdient gemacht hat, all das hat in diesem Buch seinen Platz.

Fazit

Liest man Vom Stemmen der Gewichte, bekommt man Lust, sich in die vom Verlag herausgegebene Literatur zu stürzen. Elegant und kenntnisreich geschrieben vermitteln von Berenbergs Porträts eine Ahnung von der Vielfalt, die auf Leser*innen abseits des Mainstreams wartet. Sein Buch ist weit mehr als nur eine Werbeveranstaltung für das eigene Programm – es ist ein Blick hinaus in die weite Welt der Literatur, ein Blick hinter die Kulissen des Literaturbetriebs und nicht zuletzt eine Anregung, sich auf Überraschungen einzulassen.


  • Heinrich von Berenberg – Vom Stemmen der Gewichte
  • ISBN 978-3-911327-07-7 (Berenberg)
  • 280 Seiten. Preis: 22,00 €
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Paul Ruban – Der Duft des Wals

Wie soll man sich bei diesem Gestank nur erholen? In Der Duft des Wals lässt der Kanadier Paul Ruban eine Familie im eigentlich paradiesischen Urlaubsparadies auf das Odeur eines geplatzten Wals treffen. Da liegt Ärger in der Luft…


Diesen Urlaub hatten sich alle Beteiligten wahrscheinlich anders vorgestellt. Sommer, Süden, Meer, Drinks für die Eltern und Planschen im Pool für die Kinder. Das, was für die viele Menschen als gelungener Sommerurlaub gilt, strebt auch die Familie um den früheren Eiskunstläufer Hugo und seine Frau Judith als gewünschte Art der Erholung an. Dafür haben sie sich an Bord eines Flugzeugs begeben, das sie in den Süden bringt, genauer gesagt ins Hotel Nuevo Gran Palacio, das all diese Zutaten aufweist, possierliche Nasenbären und dschungelhaftes Grün in der Umgebung inklusive. Doch dann das:

Bumm.
Eine dumpfe, aber heftige Explosion.

Ich reiße sofort die Augen auf.
Judith schläft ungerührt im anderen Bett weiter. Mit der Hand unter der Wange und etwas Spucke im Mundwinkel, wie sonst auch. Während ich in Hotels nie gut schlafe, könnte meine Frau genauso gut in einem Kanu oder einem Nagelbett schlafen. Ich schaue durch den offenen Türspalt im Wohnbereich, wo Ava auf einem Schlafsofa liegt. Auch sie hat nichts gemerkt. (…)

Ich starre wie hypnotisiert auf den kreisenden Deckenventilator und überlege, was die Explosion verursacht haben könnte. Sie war heftiger als eine explodierende Gasflasche, schwächer als ein in die Luft gejagtes Auto – zumindest verglichen mit denen aus Filmen – zumindest verglichen mit denen aus Filmen. Auch wenn sie durch die Hotelwand abgeschwächt wurde, war die Explosion doch in der Nähe. Dazu wirkte sie auf mich relativ fleischig, hatte eine etwas schleimige und nasse Texter. Es war mehr ein Bummplatsch als ein Bumm.

Paul Ruban – Der Duft des Wals, S. 27

Ein explodierter Wal im Urlaubsparadies

Paul Ruban - Der Duft des Wals (Cover)

Die akustische Analyse von Hugo erweist sich als durchaus richtig. Denn als er sich auf die Suche nach dem Ursprung des Explosionslauts begibt, stößt er auf einen gigantischen Walkadaver, der just am Strand in Hotelnähe explodiert ist und der seine Überrest über den Strand verteilt hat. Und damit nimmt jener Geruch seinen Ursprung, der Hotelpersonal wie Gäste im Folgenden bis in den Schlaf hinein malträtieren wird.

Ausgeteilte Nasenklammern, Citronella-Kerzen oder sogar eine waghalsige Ausbringungsaktion von Chanel-Parfüm per Drohne zeitigen keinen so rechten Erfolg. Mit dem explodierten Wal nebenan lässt sich nur unter Schwierigkeiten urlauben, wie es der Kanadier Paul Ruban unterhaltsam in seinem Roman illustriert.

Der multiperspektiv erzählte Roman erzählt von der Stewardess Celeste, der Familie um Hugo oder Waldemar, den alteingesessenen Gepäckträger Waldemar, der nun zum Fahren eines Golfcarts abkommandiert wurde. Sie alle müssen sich im Hotelkomplex mit den Auswirkungen der Explosion auseinandersetzen, wobei Der Duft des Wals rasch von Figur zu Figur wechselt und so manches Mal so gar Gegenschüsse wagt, wenn Hugo und seine Frau diametral gegenüberstehen, wobei die Zaubertafel ihrer Tochter Ava das einzige zu sein scheint, das in dieser Familie (noch) so recht funktioniert.

Explodierende Wale, implodierende Beziehungen

Wobei, ohne an dieser Stelle zu viel von der Handlung vorwegnehmen zu wollen: Der Duft des Wals zelebriert den Zerfall und die Zerstörung. Wale explodieren und Beziehungen implodieren, Schreckgespenster zerfallen, während sich an anderer Stelle neue auftun, während die Nasenbären um die Protagonisten des Buchs herumtappsen.

Der Duft des Wals ist das, was man einen Beachread nennt. Kurze Kapitel, Sprünge, hohes Tempo, ein Einstieg, der den Leser*innen leichtgemacht wird, ein überschaubarer Umfang, dazu noch ein exotisches Setting, das aber auch Platz lässt für die Auswüchse des modernen Tourismus und dessen Sinnlosigkeit nebst aller Zerstörung, die mit dem menschlichen Eingriff in solche Paradiese einhergeht.

Fazit

Der von Jennifer Dummer aus dem Französischen übersetzte Roman überzeugt mit schwarzem Humor, einem Blick in die Abgründe des Tourismus, die Klassenunterschiede in vermeintlichen Urlaubsparadiesen und dem lustvollen Blick auf die langsame, aber unausweichliche Zersetzung von Beziehungen. Als Negativbeispiel eines Urlaubs ist das ein hervorragender Beachread, bei dem zu bleiben hofft, dass die Umstände des eigenen Urlaubs dann positiver sind als die in Rubans Buch.


  • Paul Ruban – Der Duft des Wals
  • Aus dem Französischen von Jennifer Dummer
  • ISBN 978-3-351-04253-0
  • 223 Seiten. Preis: 22,00 €
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Fien Veldman – Xerox

Selbstgespräche mit dem Drucker, Kontemplation im Kämmerlein. In ihrem Roman Xerox erkundet Fien Veldman die moderne Arbeitswelt und erzählt von einer anonymen Arbeiterin, die beim Höher – Schneller – Weiter der modernen Arbeitswelt nicht mitmachen möchte und sich stattdessen ihre eigene Arbeitsnische sucht. Ein Büroroman im Geiste von Herman Melvilles Bartleby der Schreiber.


Mit seiner Ankündigung sorgte Mark Zuckerberg Anfang des Jahres für Schlagzeilen. Nicht nur, dass er im Geiste Elon Musks Faktenchecks und Moderationen bei Facebook abschaffen möchte, auch sollen fünf Prozent der Mitarbeiter beim Digitalkonzern entlassen werden. Treffen werde es leistungsschwache Arbeitnehmer, mit deren Performance man nicht zufrieden sei, so die Ankündigung des Multimilliardärs.

Damit reiht sich Zuckerberg ein in die Riege des Höher – Schneller – Weiter, das von den Mitarbeitenden mehr Effizienz und Leistung einfordert und damit ganz im Trend der Hochleistungsgesellschaft liegt. Wie es aber aussehen kann, wenn man gar nicht zu den Highperformern zählen möchte, sondern sich lieber mit seinem kleinen Arbeitsplatz und einem überschaubaren Arbeitsanspruch begnügen möchte, das erkundet Fien Veldman in ihrem Roman Xerox.

Einöde im Startup

Sie erzählt von einer anonymen Angestellten, die in einem Startup in einer Stadt mit Grachten ihren Dienst tut. In einem kleinen Kämmerlein sitzt sie, Gesellschaft leistet ihr der Xerox-Drucker, den sie mit Hingabe bedient und der ihr auch als Gesprächspartner dient. Die meiste Zeit verbringt die Angestellte für sich und hat eine Virtuosität in Sachen Erkennung von Papierqualität und Vermeidung von Papierstau entwickelt.

Fien Veldman - Xerox (Cover)

Ab und an soll sie aber auch die Betreuung des Kunden-Postfachs übernehmen und die Anliegen der Schreibenden beantworten – und das alles für den Mindestlohn, von dem auch noch Geld für das Mittagessen einbehalten wird. Motivation sieht anders aus, auch wenn ihr Chef ihr zu verstehen gibt, dass sie und ihre Arbeit gesehen werden.

Die größte Spannung in diesem recht einförmigen (Büro)Alltag bildet da schon ein Paket, das falsch adressiert wurde und dem sie nun neben dem Job durch die Straßen und Häuser in der Stadt hinterherjagt.

Doch dann zeigt sich, dass eines ihrer Selbstgespräche mit dem Drucker eines zu viel war – der Chef wittert Fremdbeschäftigtung und stellt seine Arbeitnehmerin frei, die in Gesprächen mit einem Therapeuten ihr Verhalten aufarbeiten soll. Dabei will sie ja eigentlich nur eines – wieder zurück in ihr Kämmerlein und zurück zum Xerox-Drucker.

Ich möchte einfach meine Briefe ausdrucken und verschicken und dann und wann die Tonerkartuschen austauschen. Ich möchte an meinem Papier fühlen können, ob es für den jeweiligen Tag geeignet ist, wie ich es immer tue. Ich möchte jeden Tag in mein kleines Kämmerlein gehen und dort in Ruhe gelassen werden. Ich möchte morgens meinen Drucker anmachen und seinen Aufwärmgeräuschen lauschen, während in den ersten Schluck Kaffee trinke aus der Tasse, die ich immer benutze und die ich selbst abwaschen, wenn nötig. Ich möchte den Tag mit meinem Gerät verbringen, die Stapel gedruckter Briefe wachsen sehen, ich möchte die Umschläge zählen, sie kategorisieren und in kleinere Stapel aufteilen, Adressetiketten ausdrucken und aufkleben.

Fien Weldman – Xerox, S. 115

Fien Veldman auf den Spuren Herman Melvilles

Xerox erzählt von der Sinnlosigkeit mancher Jobs, die im Kosmos eines Büros aber trotzdem verrichtet werden sollen. Wie die junge Arbeitnehmerin, die es in die Stadt mit den Grachten geschafft hat, jetzt an der Eintönigkeit im Start-Up leidet, sie aber auch sucht, das erinnert schon fast an Franz Kafka und seine Tätigkeit im Versicherungsbüro in Prag.

Doch statt großer Literatur entstehen bei der Arbeitnehmerin Gedanken, die sich zurückbewegen in ihre Kindheit, die wild assoziieren und die sich der Drucker ergeben anhört, ehe dieser zur großen Überraschung auch selbst zu Wort kommt (womit Fien Veldman nebenbei bemerkt auch die literarisch eigenwilligste und herausragendste Annäherung an das Phänomen Papierstau aus ungewöhnlicher Perspektive gelingt).

Vor allem aber erinnert Xerox auch an den Urvater aller Büroromane, nämlich Herman Melvilles Erzählung von Bartleby, dem Schreiber. Dieser versah in einer New Yorker Kanzlei seinen Dienst, ehe er mit der ikonischen Verweigerung I prefer not to sämtliche an ihn herangetragene Arbeit ablehnte und damit sein Umfeld in Verzweiflung und Ratlosigkeit stürzte.

Auf diesen Spuren wandelt Veldman und zeigt ihre Arbeitnehmerin als Rädchen im Getriebe, das gar nicht primär funktionieren, sondern leben will. Damit hätte sie es natürlich auch schwer, würde das Startup Facebook heißen und ihr Chef auf den Namen Mark Zuckerberg hören.

„Ich meine: es gibt Menschen, die sich mit ihrer Umgebung mitbewegen, Menschen die etwas tun. Und es gibt Menschen wie dich. Du kannst ruhig darauf warten, dass sich etwas von sich aus verändert, aber das wird schlichtweg nicht passieren, die Welt wird sich nicht an dich anpassen.“

Fien Veldman – Xerox, S. 135

Fazit

Mit ihrem Debüt Xerox reiht sich Fien Veldman ein in die Reihe von Büroromanen aus niederländischer Feder, wie sie Willem Elsschot oder J. J. Voskuil schrieben. Aber steht Veldmans Buch in der Tradition von Melville und Kafka. Ihr gelingt ein literarisch interessant gestaltetes Porträt einer namenlosen Arbeiterin und deren sanftes Opponieren gegen die anonyme Leistungsgesellschaft.


  • Fien Veldman – Xerox
  • Aus dem Niederländischen von Christina Brunnenkamp
  • ISBN 978-3-446-27952-0 (Hanser)
  • 224 Seiten. Preis: 23,00 €
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Christoph Hein – Das Narrenschiff

Die DDR – ein Schiff voller Narren? In seinem Breitwandpanorama Das Narrenschiff zeichnet Christoph Hein den schlingernden Kurs des Dampfers namens Deutsche Demokratische Republik nach und lässt ein ganzes Ensemble von Figuren die Entwicklungen des Landes auf unterschiedlichen Ebenen erleben. Damit leistet der Autor einen wichtigen Beitrag zum Verständnis ostdeutscher Lebenswelten und beugt einseitiger Vereinnahmung der DDR-Geschichte vor. Und nebenbei liest sich das Ganze auch noch höchst unterhaltsam.


Die literarische Beschäftigung mit der DDR, sie treibt auch im 36. Jahr nach dem Mauerfall weiter viele lesenswerte Blüten. Mit seinem neuen Roman fügt sich Christoph Hein mit seinem Roman in eine ganze Riege an Autorinnen von Annett Gröschner über Anne Rabe bis zu Charlotte Gneuß, die vor zwei Jahren mit ihrem Roman Gittersee debütierte.

Allen Büchern ist gemein, dass die Autorinnen in ihren Romanen das Lebensgefühl in der DDR von Resignation über Rebellion bis hin zu Anpassung eindringlich erkunden. Auch Christoph Hein gelingt das in seinem Roman Das Narrenschiff ganz hervorragend. Der 1944 in Schlesien geborene Hein zeigt in seinem Werk höchst anschaulich und nachvollziehbar, wie das Leben in der DDR war – und wie sich verschiedene Figuren in diesem System verhielten.

Angefangen bei der „Stunde Null“ bis hinein in die Nachwendezeit reicht der dickleibige, 750 Seiten starke Roman, der die ganze Fülle von Emotionen in den Blick nimmt, die der ostdeutsche Staat bei seinen Bewohnern hervorrief. Von der Verheißung eines antifaschistischen Landes nach den erlebten Kriegsgräuel bis hin zum Gefühl der Fremdbestimmung in der Wendezeit reicht der emotionale Bogen, der auch die Figuren nicht von den Brüchen, Enttäuschungen und der Zerrissenheit ausnimmt, wie sie jene Zeit vielfach kannte.

Zwei Familien in der DDR

Christoph Hein - Das Narrenschiff (Cover)

Den Mittelpunkt bilden in Heins Roman zwei Familien, deren Lebenswege Das Narrenschiff nachzeichnet. Familie Emser besteht aus dem Ökonomieprofessor Karsten Emser, der schon unmittelbar nach dem Ende der Nazi-Herrschaft in einer Gruppe um Walter Ulbricht aus Moskau nach Berlin aufbrach, um den neuen Arbeiter- und Bauernstaat aufzubauen. Als Mitglied des Zentralkomitees der Staatspartei zählt er mit seiner Frau, der Stellvertreterin des Bürgermeisters zu den obersten Kadern des Landes.

Sie verbindet eine Freundschaft mit Familie Goretzka, deren Zusammenhalt eher auf Vernunft denn Liebe gründet. Yvonne Goretzkas Mann Jonathan verschwand in den Wirren des Zweiten Weltkriegs und zurück blieb Yvonne mit der gemeinsamen Tochter Kathinka. Um dem Schicksal als Alleinerziehende zu entgehen, gab sie dem Werben des kriegsversehrten Johannes nach, der sich als ideologisch standfester Vertreter des Sozialismus präsentiert. Trotz ihres anfänglichem Haderns mit dem neuen politischen System und den Gegebenheiten bringt es Yvonne auch auf Druck ihres Mannes zur Leiterin eines sogenannten Kulturhauses, der dann eine Position im Kulturministerium zur ideologischen Überprüfung von Kinder- und Jugendfilmen folgt.

Fünfter im Bunde ist Professor Benaja Kuckuck, der ebenfalls mit seiner Position im neuen Staat hadert. Hochangesehener Shakespeare-Spezialist und Anglist, hat er sich während des Zweiten Weltkriegs als Jude nach England ins Exil geflüchtet, muss nach seiner Rückkehr in die neue DDR aber feststellen, dass ihn sein einstiges Exil und jetziges Leben in Ostdeutschland zum Paria im westlichen Wissenschaftsbetrieb macht. So bleibt ihm nur, sich mit der DDR zu arrangieren, in deren System er zum Vorgesetzten von Yvonne Goretzka in der Hauptverwaltung Film wird.

Kämpfe mit dem System DDR

Den Werdegang dieser Clique, ihr Hadern und Kämpfen mit dem Staat bis hinein ins private Glück mit Kindern und deren Entwicklung zeichnet Christoph Hein höchst unterhaltsam nach, indem er immer wieder von Figur zu Figur springt, anhand derer er die ganze Fülle von Verhalten gegenüber dem Staat nachzeichnen kann. Parteihörigkeit, Skepsis gegenüber dem Staat, der mit dem „Antifaschistischen Schutzwall“ seine Bürger einsperrt, offene Rebellion, drängende Ausreisewünsche, Bequemlichkeit, aber auch ein Hadern, das im Freundeskreis immer wieder thematisiert wird, etwa wenn die Wechsel in der politischen Führungen in den Bruderstaaten mit Blick auf das eigene Land diskutiert werden:

„Du hast mit Šik gesprochen?“

„Mehrmals. Es gibt einige Punkte, wo wir uns einig sind, die wir aber bisher nicht durchsetzen konnten. Und nun macht er es mit Dubček. Ich sagte ihm, ein Staat ist kein Kajak. Keine Nussschale, die man herumreißen kann. Es ist ein Riesentanker, und jede Kurskorrektur muss behutsam erfolgen. Bei einem Riesenschiff kann man den Kurs nicht plötzlich um hundertachtzig Grad drehen, das würde ein solches Schiff zerreißen.“

Benaja nickte vor sich hin und sagte dann nachdenklich: „Dann wäre es wohl ein Schiff voller Narren.“

Emser sah ihn erstaunt an. „Seltsam, dass du das sagst. Das mit dem Narrenschiff. Das Gleiche habe ich selbst auch schon Rita gegenüber erwähnt. Ein Narrenschiff. Natürlich. Narren sind immer mit an Bord.“

„Auch in der Kapitänskajüte?“

Karsten Emser lächelte, dann verfinstere sich plötzlich seine Miene.

Christoph Hein – Das Narrenschiff, S. 537

Der Staat als Narrenschiff

Der Staat als Narrenschiff, in dem Ideologie vor Vernunft ergeht und der sehenden Auges wider die Expertise von Kennern wie dem Ökologieprofessor Emser in Turbulenzen gerät, davon erzählt Christoph Hein höchst anschaulich. Ihm gelingt es, trotz manchmal leicht didaktischer Erklärdialoge wie dem obigen, ein Gefühl vom Leben in der DDR zu vermitteln und zu zeigen, welche verschiedenen Wege die Menschen wählten, um sich zum Staat zu verhalten.

Bis hinein in die Diskurse unserer Tage zielt das Buch, etwa wenn nach der Friedlichen Revolution und der völligen Planlosigkeit des Zentralkomitees auf den letzten Meter der Tanker DDR endgültig havariert, was zum plötzlichen Ende des bislang bekannten Systems führt. Immobilien, die man als sein Eigentum wähnte, werden nun per Grundbuch von Westdeutschen zurückgefordert, Firmen, die pleitegehen und westdeutschen Konkurrenten verdrängt werden, Staatseigentum, das von Westdeutschen vereinnahmt wird – liest man Das Narrenschiff, lässt das das Fremdeln vieler Ostdeutscher mit Westdeutschland auch fast vier Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Staates besser verstehen.

Fazit

In Das Narrenschiff treffen Systemtreue und Zufriedenheit auf Aufbruchsgeist und Rebellion. Heins Figuren altern mit dem Land, in dem sie leben, und tragen die Brüche jener Zeit auch in ihren literarischen Leibern. Hein gelingt mit seinem Panorama des Lebens in der DDR ein wichtiges Buch, das Verständigungsarbeit leistet und aus vielen Blickwinkeln das System DDR und seinen Weg in den Untergang nachzeichnet.

Das ist ein großes Panorama, ein wichtiges literarisches Dokument zum Verständnis dieses untergegangenen Landes und ein wirklich unterhaltsames Buch, das seine zeitintensive Lektüre mit viel Einsicht, Unterhaltung und auch Dramatik belohnt. Eine Honorierung von Heins Buch angesichts der bevorstehenden literarischen Preissaison hierzulande würde ich ausdrücklich begrüßen!


  • Christoph Hein – Das Narrenschiff
  • ISBN 978-3-518-43226-6
  • 750 Seiten. Preis: 28,00 €
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Bernardine Evaristo – Mädchen, Frau etc.

Einen ganzen Teppich aus Frauenleben webt die britische Autorin Bernardine Evaristo in ihrem Roman Mädchen, Frau etc.. Mit diesem Bogen an weiblichem, schwarzem Leben gelang der Autorin im Jahr 2019 eine Sensation: nach genau fünfzig Jahren seit Bestehen des Preises errang mit Bernardine Evaristo erstmals eine schwarze Frau diesen Preis. Nicht nur angesichts ihres Themas eine mehr als fällige Entscheidung – die im Lichte unserer Tage besehen auch zeigt, wie schnell sich der Zeitgeist wieder wandeln kann.


So viel (schwarzes) Frauenleben in einem Buch ist selten. Jedes der ersten vier Kapitel von Bernardine Evaristos Buch stellt drei ganz unterschiedliche Frauenleben vor, ehe im fünften Kapitel dann viele der vorgestellten Frauen auf der Premierenparty zum neuen Stück der Theatermacherin Amma im National Theatre in London zusammenfinden.

Es ist ein großer Bogen oder besser ein literarischer Teppich aus Leben und Schicksalen, den Evaristo in ihrem Roman knüpft. Da ist die schon erwähnte Amma, die als schwarze, lesbische Künstlerin zunächst gegen das althergebrachte System revoltierte. Sie „schleuderte als Rebellin Handgraten auf das Establishment, das sie ausschloss“ (S. 12), hat jetzt aber doch den Weg in die Institutionen angetreten. Als gefeierte Regisseurin aus dem Off reüssiert sie auf der größten Theaterbühne des Landes, wo sie ihr Stück Die letzte Amazone von Dahomey inszeniert.

Weiter geht es dann mit Ammas Tochter Yazz; darauf folgen weitere Frauen wie die im Laufe ihres Lebens zunehmend desillusionierte Lehrerin Shirley, die aus Nigeria stammende Akademikerin Bummi, die sich in London trotzdem als Putzfrau durchschlagen muss oder deren Tochter, deren Leben dann wiederum Berührungspunkte mit der Lehrerin Shirley aufweist.

Ein erzählerischer Teppich schwarzer Frauenleben

Bernardine Evaristo - Mädchen, Frau, etc. (Cover der Büchergilde-Ausgabe)

Immer wieder gibt es kleine Querverweise, berühren sich Leben, gibt es Überschneidungen der Lebensthemen, denen sich die Frauen gegenüber sehen. Dabei ist es die Unterschiedlichkeit, die ihre schwarzen Frauen ein. Mögen sie auch höher oder tiefer auf der gesellschaftlichen Leiter stehen, mögen sie scheinbar aller materiellen Sorgen enthoben sein oder sich genau damit herumschlagen. Es sind doch Fragen der Perspektivlosigkeit, des Rassismus und der Aussicht auf gesellschaftlichen Aufstieg, der über Generationen hinweg die Frauen vor Herausforderungen stellt.

Ausgreifend bis ins 19. Jahrhundert hinein ist Mädchen, Frau etc. das Manifest weiblicher Widerstandskraft und zeigt den vielgestaltigen Kampf um Selbstbehauptung für Evaristos Frauen.

Ebenso vielgestaltig, was Frauenleben und Themen anbelangt, ist auch Bernardine Evaristos Sprache. Die Professorin für Kreatives Schreiben wählt einen schnellen, manchmal fast nur angerissenen Stil, der sich gar nicht erst mit so etwas wie Zeichensetzung und eigentlich grammatikalisch gebotener Großschreibung innerhalb eines Satzes aufhält.

Rhythmisiert und vorwärtsdrängend ist ihr Stil, den Tanja Handels wunderbar ins Deutsche übertragen hat. Schnell hat man sich eingewöhnt in diese Erzählweise, die auch mit Rückblenden arbeitet und in manchen Passagen an ein Langgedicht erinnert.

Gewinner des Booker Prize 2019

Evaristos Sprache und der so vielstimmige Blick von schwarzen Frauen auf ihr Leben in Großbritannien fügt der britischen Literaturgeschichte eine notwendige und aufschlussreiche Perspektive hinzu. Insofern ist die Auszeichnung mit dem Booker Prize mehr als gerechtfertigt, den Evaristo im Jahr 2019 zusammen mit Margaret Atwoods Die Zeuginnen erhielt.

Nun, sechs Jahre später, lässt sich konstatieren, dass Evaristos Auszeichnung wirklich gerechtfertigt war und vielleicht auch nur die singuläre Zuerkennung des Preises verdient hätte. Atwoods Werk war ein solides, aber eben auch nur durchschnittlich erzähltes, am Actionerzählhandwerk aktueller Bücher orientiertes Sequel zu ihrer eigentlichen Großtat Der Report der Magd, das angesichts der zeitgeschichtlichen Entwicklungen seine ganze Prophetie und Klasse nach wie vor entfaltet, wohingegen das deutlich jüngere Werk der kanadischen Autorin dem Vergleich mit dem Vorgängerroman nicht Stand gehalten hat.

Doch der Blick zurück stellt nicht nur die wahre Klasse von Evaristos Werk und dessen Zeitlosigkeit in Sachen Themen und Erzählabsichten unter Beweis. Vor allem ist das Buch – so paradox es klingen mag -aufgrund dieser Zeitlosigkeit in gleichem Maße auch eine Kenngröße für die Zeit, die seit der Auszeichnung des Buchs verstrichen ist.

Zeitgeist im Wandel

Denn besieht man sich Bernardine Evaristos Sieg mit Mädchen, Frau etc. vor sechs Jahren, so muss man auch unweigerlich feststellen, wie sehr sich der Zeitgeist seit jenen Tagen gedreht hat. Jener Sieg zeigt deutlich, welcher Backlash in Sachen marginalisierter Perspektive, LGBTQI+ und der gesellschaftlichen Stellung der Frau in der Zeit von 2019 bis heute im Jahr 2025 stattgefunden hat.

War die Auszeichnung des Buchs im Jahr 2019 auch Ausdruck eines gestiegenen Bewusstseins für Diversität, Women of Color und bislang vernachlässigter Blickwinkel, so wäre eine Mehrheitsentscheidung für Evaristos Buch in diesen Tagen nicht mehr ohne Weiteres denkbar, davon bin ich überzeugt.

In aktuell tonangebenden Kreisen würde Mädchen, Frau etc. schnell als „identitätspolitisch“ oder gleich stumpf als „woke“ verunglimpft werden (was es natürlich im besten Sinne auch ist). In Zeiten, in denen diese Begriffe als Schimpfworte geführt werden, Firmen in atemberaubenden Tempo ihre Programme zur Förderung von Vielfalt und benachteiligten Personen einkassieren und die „starken“ Männer wieder den Ton angeben, dürfte schon alleine die Widmung des Buchs das Gemüt manch rechtsreaktionären Geistes erheblich zum Kochen bringen. Denn da heißt es:

Für die Schwestern, Sisters & Sistas & Sistahs & Sistren & die Frauen, Women & Womxn & Wimmin & Womyn & unseren Männern, Men & Mandem & die LGBTQI*-Mitglieder unserer Menschenfamilie

Widmung von Bernardine Evaristo – Mädchen, Frau, etc.

Notwendige Lektüre – gerade jetzt

Vor sechs Jahren sprach aus dieser Widmung ein fortschrittlicher Geistes, der ebenso in sprachlichen Experimenten eines Gendersterns oder der Einführung von Sensitivity Readers einen Ausdruck fand. Das Bemühen um den Einschluss von Menschen in ihrer ganzen Vielfalt und die Ermöglichung und Sichtbarmachung von mehr Pluralität in Gesellschaft und Sprache war an vielen Stellen zu greifen.

Davon ist nicht mehr viel übrig. Die über die Jahre mühevoll vorangedrehten Uhren des gesellschaftlichen Fortschritts werden in Rekordtempo zurückgestellt. Die USA als Taktgeber der „antiwoken“ Revolution kassieren erkämpfte Rechte für Trans*-Menschen ein, lassen per Geschlechtseintrag nur noch zwei Geschlechter zu (wie unsinnig dies ist zeigt schon alleine das Buchkapitel Megan/Morgan), unterstützen die Entfernung tausender Bücher aus Schulbibliotheken (darunter das eben schon erwähnte Der Report der Magd von Margaret Atwood, aber auch die Aussonderung von Evaristos Buch ist bestimmt nur eine Frage der Zeit)

Dabei zeigt doch Bernardine Evaristo mit ihrer lässig erzählten Geschichte, wie bedeutend gerade für Menschen, die außerhalb der weißen Mehrheitsgesellschaft stehen, die Sichtbarkeit in Gesellschaft und damit auch in der Literatur ist.

Natürlich ist auch manch linker Furor in Sachen Identitätspolitik zu kritisieren und auch das Buch meint es vielleicht an der ein oder anderen Stelle zu gut damit. Aber, und das ist das Entscheidende: Mädchen, Frau etc. schafft Bewusstsein für die Bedeutung dieses Fortschritts und der Notwendigkeit der gesellschaftlichen Veränderung, mit dem wir uns hinterfragen, uns auf unbekannte Schicksale und Perspektiven einlassen und im Dialog mit anderen Menschen den gesellschaftlichen Fortschritt vorantreiben. Das Buch atmetet diesen Geist, der in der Realität längst schon wieder verpufft zu sein scheint.

Fazit

Aber trotzdem – oder genau deswegen sind solche Bücher wie das von Bernardine Evaristo auch in reaktionären Zeiten so wichtig. Wir sehen, was auf dem Spiel steht, welche Fortschritte wir schon erlangt haben und was dieser Kampf auch für Menschen außerhalb der Mehrheitsordnung bedeutet. Allein schon deshalb lohnt die Lektüre von auch in diesen Tagen, schließlich ist Evaristos Werk eines, das weit über seine Zeit hinaus- und uns den Weg zu einer verständnisvolleren Gesellschaft weist.


  • Bernardine Evaristo – Mächen, Frau etc.
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-608-50484-2 (Tropen)
  • Artikelnr. 172844 (Büchergilde Gutenberg)
  • 512 Seiten. Preis: 24,00 €
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