Category Archives: Historischer Roman

Eugen Ruge – Pompeji

Redner, Strippenzieher, Machthungrige – mit seinem neuen Werk Pompeji legt Eugen Ruge einen historischen Roman vor, der sehr deutlich auf die Gegenwart zielt und auf unseren Umgang mit nahenden Katastrophen und auf rhetorisches Blendwerk blickt.


Wobei, ist das wirklich ein historische Roman? Eigentlich nicht, denn das, was Eugen Ruge in Pompeji verhandelt, das ist in der Wahl des Gegenstandes und der Erzählmittel so gegenwärtig und aktuell, dass man auch vonseiten des dtv-Verlags auf eine Labelung als historischer Roman verzichtet hat und stattdessen einfach die Zuschreibung des Romans auf das eruptive Cover gesetzt hat.

Eugen Ruge - Pompeji (Cover)

Im Gegensatz zum englischen Bestsellerautor Robert Harris, der im Jahr 2004 den Vulkanausbruch von Pompeji in seinem gleichnamigen Roman verarbeitete, ist Ruge Werk deutlich mehr als eine Nacherzählung jener damaligen Ereignisse, die Harris einst in seinem Roman darbot. In dessen acht Tage umfassender Schilderung stützte sich der britische Autor auf einen Krimiplot rund um eine Verschwörung am Fuße des Vesuv, um mit den Mitteln des Spannungsromans das bekannte historische Ereignis zu garnieren.

Ruge verzichtet auf solche erzählerischen Hilfsmittel. Er interessiert sich mehr für Machtpolitik, für Lobbyarbeit und die Strategien zur Verdrängung unangenehmer Erkenntnisse, womit Pompeji viele Anknüpfungspunkte zur Gegenwart aufweist. Allen voran liest sich sein Buch wie ein Kommentar auf die sich abzeichnende Klimakatastrophe, auch wenn es im Buch die Erkenntnis eines aktiven Vulkans ist, die statt der heutigen Erkenntnisse über den notwendigen Wandel unseres Lebens verdrängt wird.

Interesse am politischen Pompeji und den Mechanismen der öffentlichen Meinung

Konzentrierte sich der Handlungsrahmen bei Robert Harris damals auf das Ausbruchsjahr 79 nach Christus, fasst Eugen Zeit und Material deutlich weiter. Sein Interesse gilt dem Leben dort in Pompeji vor der Katastrophe. Schon einmal war die Stadt einige Jahre zuvor von einem schweren Beben erschüttert worden. Doch die Bequemlichkeit der Menschen hat rasch für eine Verdrängung der damaligen Katastrophe gesorgt. Schon längst hat man wieder zu einem Alltag gefunden, den Ruge in seiner Fantasie schildert. Pompeji alias Colonia Cornelia Veneria als Ort der Politik, als Forum der öffentlichen Meinungen, das ist es, was ihn im vorliegenden Werk beschäftigt.

Dies ist der wahre Bericht vom Untergang Pompejis und seiner Bewohner. Dies ist die Geschichte des Vulkanvereins von seinen chaotischen Anfängen bis zu dem Tag, da er sich zu Tode feierte. Aber vor allem ist dies die Geschichte seines Gründers oder jedenfalls des Mannes, der sich dafür hielt. Es ist die Geschichte des vielbewunderten, vielgeliebten, aber auch vielgehassten, des unglaublich schlauen, aber vielleicht auch ganz mittelmäßigen Bürgers Jowna alias Josephus alias Josse.

Eugen Ruge – Pompeji, S. 11

Jener Josse steht im Mittelpunkt des Romans. Eigentlich stammt er aus niederem Geschlecht, ist Sohn eines aus Pannonien geflohenen Metzgers, der sich nun in Kampanien niedergelassen hat. Dort lebt er zusammen mit seiner Frau Jadwiga und dem kleinen Sohn in ärmlichen Umständen.

Vom Sohn eines Metzgers zum Bewerber um das Kapitol

Seinen Sohn hat der Metzger als Zeichen der Assimilierung und der Bewunderung des römischen Lebensstils dort in Pompeji auf den Namen Josephus ins Register eintragen lassen. Später wird daraus Josse. Ein Muster für den Umgang mit der eigenen Identität und Legende, der später noch viele weitere Beispiele folgen sollen.

Jener „Josse“ Josephus begreift Pompeji als Spielfeld, das zum gesellschaftlichen Aufstieg und den kreativen Umgang mit der eigenen Identität einlädt. So schart er eine Gruppe junger Taugenichtse um sich, verbringt die Tage zwischen Körperertüchtigung und Debatten.

Erst der Auftritt eines griechischen Sachverständigen wird zum Wendepunkt in Josses bislang recht ereignislosem Leben. Dieser hält einen Vortrag im sogenannten Vogelschutzverein, den Josse und seine Getreuen eigentlich nur der Aussicht auf die Anwesenheit von Frauen wegen besuchten. Doch die im Vortrag geäußerten Erkenntnisse des Griechen, man lebe in Pompeji auf einem Vulkan, fasst Josse trotz fehlender rhetorischer Ausbildung kurz und prägnant zusammen, sodass der junge Mann dort das erste Mal von sich reden macht.

In der Folge wird er weitere Reden halten, wird unter die Fittiche eines Rhetoriktrainers genommen, macht die Bekanntschaft mit Aufsteigern in Pompeji, wird eine Kolonie am Meer gründen, für die Abkehr von der Stadt und ein sicheres Leben in seiner Kolonie werben, um nach der Bekanntschaft mit einer höherstehenden Pompejianerin schließlich die genau umgekehrte Botschaft zu verkünden und mithilfe seines von Unterstützern finanzierten neuen Vulkanvereins für ein Leben mit dem Vulkan werben.

Der Aufstieg von Josse in Pompeji

Eugen Ruge zeigt in seinem Werk einen Aufsteiger, der teils aus günstigen Umständen, teils aus eigenem Vermögen und teils aus eigenem Unvermögen immer höher in die pompejianeische Gesellschaft aufsteigt. Mit rhetorischem Geschick und viel Blendwerk macht er von sich reden, stachelt Menschen an und wird wiederum von der Machtelite als Werkzeug benutzt.

Damit knüpft Eugen Ruge ein Stück weit an Werke wie Bertolt Brechts Der unaufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui an. Zugleich beschreibt er auch Mechaniken von Demagogen und Verführern, die in Sachen eigener Standpunkte eine erstaunliche Wendigkeit und Ungreifbarkeit an den Tag legen. Und nicht zuletzt beschreibt Pompeji auch die politischen Versuche, aus einer sich abzeichnenden Katastrophe politisches Kapital zu schlagen.

So porträtiert Eugen Ruge Josse als Aufstieger, der es schließlich bis zum ernsthaften Bewerber für das Kapitol schafft, nachdem seine Getreuen in einer Schmutzkampagne andere Kandidaten aus dem Rennen geschlagen haben. In Pompeji ist es eben nicht nur der Vulkan, der Dreck in die Luft schleudert. Dirty Campaigning, Super-PACS – Begriffe, die man (noch) aus dem US-amerikanischen Wahlkampf rund ums Kapitol kennt, Ruge zeigt sie in seinem Roman schon als Mittel des antiken Kaitolwahlkampfs. Er zeigt Josse als Profiteur der Krise, die er selbst fleißig befeuert, um an die Macht zu gelangen.

Moderne literarische Gestaltungsmittel

Auch die literarischen Gestaltungsmittel des Buchpreisträgers sind doch eher Mittel von heute. Da gibt es Invektive zu lesen, die wenig römisch, dafür sehr zeitgemäß sind. Im Wahlkampfstress um das Kapitol muss Josses Geldgeberin und Chefstrategin einmal feststellen, dass ihr Besitz um ganze vier Prozent gesunken ist, obschon die Prozentrechnung erst im 15. Jahrhundert und die Betriebswirtschaftslehre noch einmal deutlich später erfunden wurde. Josse predigt, man müsse lernen „mit dem Vulkan zu leben“.

Das erinnert in seiner Inszenierung von historischem Stoff mithilfe von moderner Mittel und klarer Brüche in Sachen historischer Geschlossenheit stark an Regiearbeiten etwa von Baz Luhrman.

Das kommentierende und erzählende Wir führt die Lesenden immer wieder an der Hand, blendet sich aus Gesprächen aus, rafft Erkenntnisse und Handlungen zusammen, nimmt Vorausschauen vor und leitet quecksilbrig durch die Ereignisse.

Fazit

So ist Pompeji eine große literarische Freude. Mehr Don’t look up denn historische Nacherzählung, auch wenn Ruge im Nachwort versichert, die historischen Umstände und intellektuellen Bewegungen sehr akkurat studiert zu haben.

Hier wagt ein Autor, einen historischen Stoff auf seine Gegenwärtigkeit abzuklopfen, mit den literarischen Möglichkeiten zu spielen und aus der Vergangenheit auf das Jetzt zu blicken. Mit großem Gespür für politische Manipulationstechniken, rhetorische Nebelkerzen und die Skrupellosigkeit von Machteliten, der der Ruges Aufstieger Josse hier begierig nacheifert ist das ein hervorragender und themensatter Roman geworden, den man nur loben kann!


  • Eugen Ruge – Pompeji
  • ISBN 978-3-423-44177-3 (dtv)
  • 429 Seiten. Preis: 21,99 €
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Gabriele Tergit – Der erste Zug nach Berlin

Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug ins Chaos? In Gabriele Tergits Roman Der erste Zug nach Berlin will die junge Amerikanerin Maud Deutschland nach dem Krieg besuchen. Sie tut das im Gefolge einer Expedition voller besonderer Charaktere und lernt ein Land kennen, in dem alle nur Opfer gewesen sein wollen und in dem bezüglich alter Nazieliten eine erstaunliche Kontinuität herrscht. Böse, treffend, schnell.


Ist Gabriele Tergit nach ihrer Wiederentdeckung in den letzten Jahren zumeist für ihre groß angelegte Familiensaga Effingers oder die Mediensatire Käsebier erobert den Kurfürstendamm bekannt, so gibt es aus dem Werk der 1982 in London verstorbenen Autorin noch immer viel zu entdecken. Der erste Zug nach Berlin ist dafür der beste Beweis.

Diesen kurzen Roman siedelt Gabriele Tergit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg an. Die junge Ich-Erzählerin Maud begleitet im Gefolge ihres Onkels Phipps eine amerikanische Reisedelegation nach Deutschland. Die Neunzehnjährige steht kurz vor einer Hochzeit mit ihrem gleichaltrigen Freund und so ist diese Reise noch einmal die große Gelegenheit zum ungebundenen Reisen und Abenteuer, ehe sie in den Stand der Ehe eintritt.

Von Amerika ins Nachkriegsdeutschland

Im Zug finden sich illustre Gestalten, die Maud ganz genau beobachtet und karikiert:

Als ich ins Flugzeug stieg, brüllten sie alle durchs Megaphon und sangen und trugen kleine Papierkappen und kurz und gut, es war himmlisch. Als das Flugzeug sich in Bewegung setzte und ich den guten alten friedlichen Kontinent verließ, um in das wilde, unkultivierte Europa zu fahren, da war mir doch sehr anders und ich ging in die Bar, um einen Cocktail zu trinken. Neben mir saß ein junger Engländer mit einem merkwürdig unbeweglichen Gesicht, sehr groß, sehr schwarz mit einer Pfeife und in der der Eiseskälte des späten März ohne Mantel an Deck. Nur einen Schal und Handschuhe. Es war der 53. Lord Dolgelly, der noch gestern ein Mr. Randall gewesen war, aber glücklicherweise war sein älterer Bruder, der Lord, bei einem der Expeditionsversuche mit Raketen zur Minverva, dem kürzlich entdeckten Planeten, zu gelangen, verunglückt. Er sprach nicht, rauchte und machte auch sonst einen leicht idiotischen Eindruck.

Gabriele Tergit – Der erste Zug nach Berlin, S. 9

Inmitten vulgärer Amerikaner, Engländer mit geerbten Adelstiteln und vieler weiterer Unikate macht sich nun Maud auf, um zu reportieren und das Land der Täter kennenzulernen. Auf der Reise kommt es zu zahlreichen Diskussionen. Man streitet über Rassismus, die Press oder die richtige Strategie für das Re-Education-Programm, das den Deutschen die Folgen ihres Tuns vor Augen führen soll. Man ist sich uneins, die Argumente und Ansichten fliegen hin und her – und das zudem noch oftmals auf Englisch, das Gabriele Tergit immer wieder in den Passagen einfließen lässt (deren Übersetzungen sich dann aber auch im Anhang des Buchs finden).

Der Umgang mit der Schuld

Gabriele Tergit - Der erste Zug nach Berlin (Cover)

Ähnlich wie zuletzt auch Andreas Pflüger in Ritchie Girl blickt auch Gabriele Tergit in ihrem in den 50er Jahren entstandenen Roman auf die deutsche Nation und ihren Umgang mit der Schuld. In vielen Gesprächen will Maud ergründen, wie eine ganze Nation unter ihrem Führer Hitler mehrere Kontinente mit ihrem Krieg überziehen und Millionen von Menschen ermorden konnte. Die Erkenntnisse, die ihre Gespräche zutage fördern, sind aber ernüchternd.

Niemand will etwas getan haben, alle sind ausnahmslos Opfer, äußern antisemitische Klischees, sehen sich von feindlich gesinnten Juden in England und Amerika zu Unrecht angegriffen und weißen jegliche Schuld von sich, die sie den Alliierten zuschieben. Täter war man keinesfalls und wusste von nichts etwas – und wenn Maud und ihre Delegation dann tatsächlich auf ein misshandeltes Opfer der Nationalsozialsten stoßen, dann stirbt dieses Opfer in der Folge unterversorgt und in ärmlichen Verhältnissen, ausgegrenzt von der übrigen Gesellschaft.

Es ist viel Bitternis über diesen infamen Umgang mit der eigenen Schuld und die Kontinuitäten der Karrieren, die Nazikader an den Tag legen, wenn sie nach dem Ende des „3. Reichs“ weiterhin an zentralen Schaltstellen der Macht sitzen. Das verbindet sich in Der erste Zug nach Berlin mit viel Fatalismus und Uneinigkeit unter Amerikanern, Russen und Engländern, die allesamt auch nicht frei von Rassismus und Stereotypen sind.

Orientierung an Gabriele Tergits Original-Typoskript

Gabriele Tergits Buch ist trotz seiner Kürze keine einfache Lektüre. Sie vermengt erregte Dialoge, die vom Englischen ins Deutsche wechseln und umgekehrt, erzählt in schnellen Schlaglichtern, rast so manches Mal nur durch die Handlung und ist auf ein fast atemloses Erzählen bedacht, bei dem der Leser wie Tergits Heldin Maud so manches Mal erst begreifen muss, was hier gerade verhandelt wurde oder über was sich die Delegation da ganz genau echauffiert.

Die ganze Fülle dieses trotz seiner Kürze so vielfältigen Romans wird nun erstmals durch die vorliegende Ausgabe erlebbar. Denn wie Herausgeberin Nicole Henneberg in ihrem Nachwort schreibt, orientiert sich die aktuelle Ausgabe am Original-Typoskript Gabriele Tergits. Zwar gab es im Jahr 2000 bereits eine Ausgabe des Romans, doch der damalige Herausgeber griff stark in den Text ein, glättete, kürze und strich. Diese Bereinigungen sind nun wieder entfernt, wodurch ein vielstimmiger Roman erscheint, der uns mitnimmt direkt in die Zeit unmittelbar nach der Stunde 0 in Deutschland (die es so ja gar nicht gab, wie Der erste Zug nach Berlin eindrücklich zeigt).

Mehr Meinungen zu Gabriele Tergits Roman gibt es auch auf dem Blog von Birgit Böllinger und im HeymannBlog von Sönke Schneider.


  • Gabriele Tergit – Der erste Zug nach Berlin
  • Artikelnummer: 17460X (Büchergilde Gutenberg)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle

Mutterschaft und Lyrik, Selbsterkundung und Biografiearbeit, Stillen und Übersetzungsarbeit- all das bringt die irische Lyrikerin Doireann Ní Ghríofa in ihrem Prosadebüt Ein Geist in der Kehle zusammen und erschafft das Doppelporträt zweier außergewöhnlicher Frauen.


Die Lesart ihres Textes schreibt Doireann Ní Ghríofa ihren Lesenden dabei unmissverständlich vor und wiederholt es im ganzen Text von Ein Geist in der Kehle fast mantraartig: Dies ist ein weiblicher Text. So ist das erste Kapitel überschrieben, so hebt der Text gleich zweimal zu Beginn an und mit diesen Worten beschließt Ghríofas ihr Buch.

Dies ist ein weiblicher Text, erdacht beim Falten der Kleidung anderer. Ich trage ihn bei mir im Geist und er wächst, allmählich und sacht, während meine Hände Tausende Pflichten verrichten.

Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle, S. 11

Doch was macht einen Text über die bloße Zuschreibung hinaus zu einem weiblichen Text? Hier sind es zuallererst die Themen und Figuren, deren Weiblichkeit in unterschiedlichen Facetten erkundet wird. Die eine Figur ist die Ich-Erzählerin, die sich mithilfe des Mittels der Autofiktion deckungsgleich mit der Autorin Doireann Ní Ghríofa präsentiert. Sie erzählt von ihrem Alltag als Mutter, der Care-Arbeit und ihrer steten Tätigkeit für eine Muttermilch-Bank, für die sie sich selbst Muttermilch aus ihrer Brust abpumpt. Über zehn Jahre hinweg hat sie Kinder geboren und versorgt. Das vierte Kind droht nun zu einer Risikoschwangerschaft zu werden. Kaiserschnitt und Kinder-Intensivstation folgen, ehe das Familienleben wieder in ruhigere Bahnen findet.

Muttermilch und Lyrik

In dieser Zeit wird die irische Dichterin Eibhlín Dubh Ní Chonaill zum Bezugspunkt und Rettungsanker für die Erzählerin. Sie verfasste einst das 36 Strophen umfassende Lamento caoineadh airt uí laoghaire, welche als bestes Gedicht des 18. Jahrhunderts aus Irland respektive Großbritannien gilt. Flucht und Vertreibung, die Ermordung des eigenen Gatten und die Selbstbehauptung sind Themen im Leben dieser Dichterin, der die Erzählerin durch das von ihr selbst unwissenschaftlich erklärte Mittel der Tagträume immer näherkommt.

Ich beginne mit einem unwissenschaftlichen Mischmasch aus Tagträumen und Tatsachen, zusammengerührt, während ich Porridgepampe in einen Mülleimer schabe, Schulranzen und Mäntel zusammensammle, Kinder ins Auto drängle, mir an der Ampel Flüche verkneife, drei Jungen Abschiedsküsse gebe und wieder nach Hause fahre. Die ganze Zeit über habe ich ein Auge auf Eibhlín Dubh und eines auf meiner Tochter in ihrem Kindersitz.

Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle, S. 11

Die Dichterin und ihr wechselvolles Leben löst in der Erzählerin fast so etwas wie eine Obsession aus. Sie versucht sich an einer eigenen Übertragung der Verse Eibhlín Dubhs, beginnt zu forschen und sichtet Archive, um den Lebensspuren der Dichterin nachzugehen. Dabei kommt es zu einer reizvollen Überblendung der Leben, die sich doch mehr ähneln, als es auf einen ersten Blick hin den Anschein haben mag.

Tagträumend der Dichterin nahekommen

Doireann Ní Ghríofa - Ein Geist in der Kehle (Cover)

Dabei versenkt sich die Erzählerin ganz tief in den anstrengenden Alltag, der Mutterschaft bedeutet. Schlaflose Nächte, wenig eigene Zeit, dabei aber der stete Wunsch nach weiteren Kinder und die genaue Beobachtung des eigenen Körpers. So beschreibt Doireann Ní Ghríofa detailliert die Gewinnung von Muttermilch, ihre schwankende Milchproduktion der Brüste oder die Sterilisation ihres Mannes. Für sich genommen ist das nicht sonderlich kunstvoll oder literarisch überzeugend (außer man sieht Ghríofa in diesen Parts in der Tradition des Naturalismus).

Das Ganze gewinnt aber durch die Überblendung mit dem Leben Eibhlín Dubhs an Qualität. Auch diese erfährt Verluste, sieht ihre Kinder aufwachsen und legt all ihre Empfindungen in ihr Langgedicht – zumindest in der Imagination der Erzählerin, wodurch die Parallelmontage dieser so unterschiedlichen wie auch gleichen Frauen ein Vergleich von Mutterschaft über die Grenzen der Jahrhunderte ermöglicht wird.

So wird aus dem Text tatsächlich das, was uns Doireann Ní Ghríofa immer wieder einbimst – ein weiblicher Text, der in der Tradition von Sarah MossSchlaflos steht. Sie beschreibt schonungslos Mutterschaft, findet aber auch Raum für die Rettung aus der nicht sonderlich intellektuellen Anforderung durch geistige Arbeit, die hier aus der Einfühlung in Eibhlín Dubh besteht.

Im Spannungsfeld zwischen Lyrik und Autofiktion

Ein Geist in der Kehle bewegt sich im Spannungsfeld der irischen und englischen Sprache, zwischen Lyrik und Autofiktion, historischer Rekonstruktion und Mutterschaftsschilderung. Dementsprechend ist es auch nur konsequent, dass der btb-Verlag zwei Übersetzer gefunden hat. Cornelius Reiber übertrug die Prosa-Passagen, während der Musiker und Lyriker Jens Friebe für die den Kapiteln vorangestellten irischen und englischen Verse eine deutsche Entsprechung fand. Zudem übertrug Friebe das gesamte, im Anfang befindliche Gedicht caoineadh airt uí laoghaire beziehungsweise the keen for art ó laoghaire, das vor Doireann Ní Ghríofas deutschem Debüt sicherlich nur Eingeweihten der Lyrik Irlands ein Begriff gewesen sein dürfte.

So erschafft sich Doireann Ní Ghríofa mit ihrem Prosadebüt Ein Geist in der Kehle eine ganz eigene Nische. Klugerweise hat der herausgebende btb-Verlag auf eine Gattungsbezeichnung verzeichnet, denn das was Ní Ghríofa im Inneren ihres Werkes bietet ist zu disparat und zu eigenständig, um sich auf eine Bezeichnung wie Roman verengen zu lassen. Ein außergewöhnliches Buch über Mutterschaft und Lyrik!


  • Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle
  • Aus dem Englischen von Cornelius Reiber und Jens Friebe
  • ISBN 978-3-442-76231-6 (btb)
  • 384 Seiten. Preis: 24,00 €
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Ulrike Draesner – Die Verwandelten

Eine Familie, ebenso kompliziert und verwinkelt wie das 20. Jahrhundert. Ulrike Draesner in ihrem neuen Großroman Die Verwandelten über deutsch-polnische Familienbande, den Lebensborn und die Nachwirkungen der Kriegsgräuel des Zweiten Weltkriegs.


Alles beginnt eigentlich recht überschaubar in diesem an Themen wie auch Seiten satten Roman, der uns mitnimmt in ein abgelegenes Institut in Hamburg, in das Kinga Schücking per ICE anreist. Die alleinerziehende Rechtsanwältin will dort einen Vortrag über den Lebensborn, das „Zuchtprogramm“ der Nationalsozialisten, halten. Ungewollte oder uneheliche Kinder wurden in diesem Programm aufgezogen und an „arische“ Familien vermittelt. Auch Kinga selbst ist die Nachfahrin eines Lebensborn-Kindes. Ein Erbe, das sie bis heute nicht losgelassen hat, und das sowohl ihr berufliches als auch privates Leben bestimmt.

Besonders groß ist die Überrarschung, als Kinga dort in Hamburg beim Smalltalk nach dem Vortrag auf Doro stößt, die sich als polnische Verwandte von Kinga entpuppt. Die genauen Verflechtungen zwischen der ebenfalls auf einen polnischen Namen hörenden Kinga und Dorota entwirrt (beziehungsweise manchmal auch verwirrt) UIrike Draesner nun auf den folgenden gut 550 Seiten.

Eine Familie zwischen Deutschland und Polen

Dabei geht die Professorin für Literarisches Schreiben weit in der Vergangenheit zurück und lässt immer wieder unterschiedliche Frauen der Familie Schücking beziehungsweise der Familie Valerius zu Wort kommen. Durch diese in unterschiedlichen Tonlagen gehaltenen Erinnerungen entsteht ein dichtes und nicht immer einfach zu überblickendes Bild der Kriegswirren und deren Nachwirkungen, die sich in ganz unterschiedlicher Form manifestierten.

Ulrike Draesner - Die Verwandelten (Cover)

So ist Kingas verstorbene Mutter Alissa ein Lebensbornkind, das aber auch auf den Namen Gerhild hörte und vom regimetreuen und ideologisch sehr wendigen Ehepaar Gerda und Gerd adoptiert wurde. Diese waren zwar mit dem familieneigenen Konservenunternehmen zu Reichtum gelangten, die Elternschaft blieb ihnen allerdings verwehrt, obschon sich Gerda als fleißige Propagandistin des arischen Familienideals erwies.

So war es ein Lebensbornkind, auf das die beiden zurückgriffen – Alissa Gerhild, die eigentlich aus Wrocław stammte, besser bekannt noch unter dem Namen Breslau. Sie war das Ergebnis einer unehelichen Liaison des glühenden Shakespearefans und Theaterdirektors Marolf Valerius mit dessen Dienstmädchen – ein Fakt, den sich Kinga und wir mit ihr erst langsam erschließt.

Über den Familienstamm der Valerius‘ findet die polnische Seite der Familie ins Buch, auf deren Seite ebenfalls Umbenennungen und Identitätswechsel stattfanden, um die Kriegsgräuel und die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs zu überstehen.

Geschichte aus Frauenperspektive

Allmählich verfestigt sich das Bild einer deutsch-polnischen Familie, in der es stets die Frauen waren, die auf ganz unterschiedliche Art und Weise ihre Generationen über die Runden brachten, sich anpassten und sich selbst mit großer Härte behandelten, um die Zeiten zu überleben. Gewalt, Lieblosigkeit und Lügen waren dabei in allen Jahrzehnten die Mittel, derer sich die Frauen bedienen mussten, wie Ulrike Draesner in ihrem Roman zeigt. Dabei ist es kein chronologischer Erzählbogen, der Die Verwandelten ausmacht. Vielmehr sind es viele kleine Fragmente und Erinnerungssplitter, die sich allmählich zu einem großen Familienbild der Bagasche zwischen Oder und Isar verfestigen.

Bei der Lektüre dieses ambitionierten Werks hilft ein Blick auf das hintere Vorsatzblatt des Buchs ungemein. Denn hier ist die komplizierte Familiengeschichte der Valerius‘ und Schückings visualisiert, ebenso wie sich ein Dramatis Personae und ein Verzeichnis polnischer Begriffe im abschließenden Teils des Buchs findet. Es sind Hilfestellungen, die die Lektüre von Die Verwandelten erleichtern und die komplizierte Reise durch die Zeit und das familiäre Geflecht hindurch etwas durchschaubarer machen.

Manchmal ist es zu viel des Guten, etwa wenn Draesner neben den über hundert Jahre umspannenden Familien- beziehungsweise Frauenverästelungen im zwanzigsten Jahrhundert dann auch noch ein unbemanntes, drohnenähnliches Bohrobjekt in den Wurmloch genannten Zwischenteilen losschickt, das sich einmal durch die deutsche und polnische (Erd-)Geschichte und Tektonik wühlt. Es sind Kapitel, in denen einmal mehr Draesner Begeisterung für die Erdgeschichte über das Anthropozän hinaus aufscheint, die aber in meinen Augen verzichtbar gewesen wären, auch wenn sie die voluminösen drei Hauptteile unterbrechen und gliedern.

Sprache in ihrer ganzen Ausprägung

Ulrike Draesner ist ja eine Meisterin der Sprache. Stets sucht sie nach einer eigenen Form für ihre Erzählungen und ringt ihren Untersuchungsgegenständen unzählige Sprachbilder und Spracheinfälle ab. So umspielte sie in der Biographie des Dada-Mitbegründers Kurt Schwitters ebenjene Dada-Poesie oder fand in Kanalschwimmer zu einem englisch-deutschen Sprach- und Bewusstseinsstrom passend zur Überquerung des Ärmelkanals. Auch in Die Verwandelten ist unverkennbar die Sprachkünstlerin Draesner am Werk, die ihre Frauen mit unterschiedlichen Draesner-Sound in Sachen Sprachmelodien und Mustern ausstattet. Zudem ist allen Kapiteln eine Form konkreter Poesie voranstellt, die mal erkennbarer, mal kaum chiffrierbar erscheint.

Großartig geraten ihr etwa die Passagen der in einem Pflegeheim liegende Gerda, Kingas Großmutter, die sich in ihren Erinnerungen verliert und dabei immer wieder zwischen Pflegebedürftigkeit im Altenheim und eigener Wendigkeit zur Zeit des „Dritten Reichs“ hin und herwandert. Auch die Beschreibungen der Vertreibung im Osten, die Gewalt vor allem gegen Frauen, das Leid und die Not – all das schildert Draesner plastisch und eindringlich erfahrbar.

Und doch war es mir angesichts des anspruchsvollen Gesamtumfangs von fast 600 Seiten neben allen geschichtlichen Rückblicken und Sprüngen auf sprachlicher Ebene dann die Frequenz ihrer sprachschöpferischen Kraft etwas zu viel des Guten. So hätte ich auf das ein oder andere originelle Kompositum oder Sprachbild der Lyrikerin verzichten können, sorgten diese in ihrer Fülle doch eher für ein Gefühl der sprachlichen Übersättigung und waren für mich eher Ausdruck eines gewissen Manierismus denn eine wirklich zielführende Flankierung des Inhalts.

Mittelteil einer Trilogie

Die Verwandelten ist das Mittelstück von Ulrike Draesners geplanter Trilogie über familiäre Verflechtungen zwischen Polen und Deutschland, die sie mit Sieben Sprünge vom Rand der Welt begann. Ohne dieses erste, vor neun Jahren erschienene Werk gelesen zu haben, sind es doch die Themen der Vertreibung, des deutsch-polnischen Erbes und der familiären Verflechtungen über die Generationen hinweg, die sich als Themenfelder dieser Trilogie herauszukristallisieren scheinen.

Persönlich bin angesichts dieses fordernden Familienromans nun erst einmal überwältigt und werde mir bei Gelegenheit zu einem späteren Zeitpunkt einmal den Auftakt der Trilogie vornehmen. Unabhängig davon zolle der Autorin Respekt für ihre schier unerschöpfliche Sprachkraft und Genauigkeit, mit der sich Draesner in ihre fiktive Großfamilie hineinspürt und die deutsch-polnischen Geschichte ebenso genau untersucht, wie es die Drohne in ihrem Roman mit den Gesteinsschichten dort im Untergrund tut.

Die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse erscheint mir folgerichtig, obschon es Die Verwandelten einem nicht wirklich leicht macht und schnell für ein Gefühl der Überforderung sorgen kann. Aber dafür ist Literatur ja auch da und Ulrike Draesner beherrscht diese Kunst wahrhaftig.


  • Ulrike Draesner – Die Verwandelten
  • ISBN 978-3-328-60172-2 (Penguin)
  • 608 Seiten. Preis: 26,00 €
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Robert Seethaler – Das Café ohne Namen

Warum braucht ein Café unbedingt einen Namen? Es geht doch auch so, das beweist Robert Simon, der in Robert Seethalers neuem Roman im Wien des Jahres 1966 den Schritt in die Selbstständigkeit wagt. Er eröffnet ein Café am Karmelitenmark, das in der Folge zur Anlaufstelle für eine ganze Riege unterschiedlicher Menschen wird. Mit Das Café ohne Namen begibt sich der Österreicher Seethaler zurück in das Milieu der einfachen Leute – und damit auch zurück in der Erfolgsspur.


Mit seinen letzten beiden Romanen konnte Robert Seethaler nicht mehr wirklich an seine ebenso präzisen wie stimmigen Porträts Der Trafikant und Ein ganzes Leben anknüpfen. In Das Feld reduzierte er die Vita einer Stadt auf den Gang über einen Friedhofs mitsamt grabsteinkurzer Vignetten der Stadtbewohner und ihrer Schicksale. Mit Der letzte Satz schaffte er es dann vor zwei Jahren auf die Longlist des Deutschen Buchpreises, diese Nominierung war aber auch von vielen kritischen Stimmen begleitet, in deren Chor auch ich mich einreihen musste. Sein Porträt Gustav Mahlers war allzu kurz und oberflächlich, schenkte der Musik, also dem zentralen Aspekt Mahlers Wirken, nicht wirklich viel Raum und ließ viele der Qualitäten vermissen, die Seethalers frühere Werke auszeichneten.

Umso schöner, dass er diese Qualitäten in Das Café ohne Namen nun wieder zeigt und so zu alter Stärke zurückkehrt. Das liegt in meinen Augen vor allem auf die Rückbesinnung auf Seethalers literarische Qualitäten, die für mich in der Konzentration auf das alltägliche Milieu der „einfachen“ Menschen liegen.

In seinem neuen Roman konzentriert sich Seethaler dabei auf Robert Simon, der als Kriegswaise in Wien aufwächst und sich in den 1960er Jahren als geschickter Arbeiter mit Hilfsarbeiten rund um den Karmelitenmarkt über Wasser hält.

Ein unerfahrener Wirt und ein Café ohne Namen

Das leerstehende Café an einer Ecke des Marktes und die Erinnerungen an frühere Zeiten lassen in ihm den Entschluss reifen, es trotz keiner großen gastronomischen Erfahrung dort auch einmal als Wirt zu probieren. Und so renoviert er die Liegenschaft und beginnt mit dem Betrieb des Cafés zunächst als reine Ich-AG. Er bietet ein bodenständiges Café mit einer kleinen Karte. Schmalzbrot, Wein in den Varianten rot und Weiß, Limonade, Soda und lokales Bier, das ist das Angebot des Cafés am Karmelitenmarkt. Schon kurz nach der Eröffnung wird Simons Gastronomie gut angenommen und erste Erfolge stellen sich ein.

Immer mehr Gäste kamen: Leute aus dem Viertel, Schichtarbeiter, Angestellte in Hemdsärmeln, die Mädchen aus der Schottenauer Garngabrik. Simon lief umher, nahm Bestellungen entgegen, zapfte Bier, füllte Gläser, spülte sie mit kaltem Wasser ab, putzte sie mit einem Lappen und wischte mit einem anderen über die Tische. Mit einer Holzzange fischte er Salzgurken aus dem Glas und mit einer schmalen Spachtel schmierte er Schmalz auf das Brot, das er beim Marktbäcker bestellt und am Morgen ofenwarm und wie ein Neugeborenes in ein weißes Tuch gewickelt abgeholt hatte.

Später kamen die Händler. Es hatte sich herumgesprochen, dass das Café wieder geöffnet hatte, nun waren sie neugierig. Sie besetzten die Tische oder lehnten am Treseen, wo sie die Hand über das glatt geschmirgelte Holz gleiten ließen und Simon beim Zapfen zusahen.

„Ein Seidel Bier! Für mich einen Roten! Drei Weiße! Zwei davon aufs Haus!“

Robert Seethaler – Das Café ohne Namen, S. 28 f.

Doch nicht nur die Erfolge stellen sich ein – Simon als Wirt stellt auch Personal in Form der jungen Mila ein, um den Betrieb seines Cafés gewährleisten zu können. So kümmern sich die beiden sechs Tage die Woche um das Wohl der Gäste, am Dienstag herrscht Ruhetag.

Gäste und die Dramen des Lebens

Robert Seethaler - Das Café ohne Namen (Cover)

Im Lauf der Zeit findet das Café zwar zu keinem wirklichen Namen, dafür aber zu einem Stammpublikum, das das Café regelmäßig frequentiert. Da ist der Ringer und Showkämpfer René Wurm, der regelmäßig im Prater auf die Bretter geschickt wird, die Fierantin Heide Bartholome die mit dem russischen Maler Mischa Troganjew in einer Art Hassliebe verbunden ist, Trinker mit Glasauge oder Priester, die unter Alkoholeinfluss ausfallend werden, traurige und glückliche Menschen – sie alle kehren mal mehr und mal weniger regelmäßig in Simons namenlosen Cafe dort am Karmelitenmarkt ein.

Bei Robert Seethaler wird das Café zur Bühne für die größeren und kleineren Dramen des Lebens, die er einfühlsam und mithilfe nur weniger Sätze umfassend zu schildern weiß. Das ist jene Stärke, die ich aufgrund der etwas überambitionierten und nicht wirklichen runden Romane der letzten Zeit vermisst hatte, und das nun in Das Café ohne Namen wieder zu entdecken ist.

Wie Seethaler im Kleinen große Geschichten zu erzählen vermag, wie er Platz für alle Gefühlsregungen schafft, sprachlich zwischen Alltagssprache und Sinn für den besonderen Moment pendelt und das alles mit einem Filter der Melancholie versieht, das ist für mich wieder richtig gut gelungen und deshalb eine ganz klare Empfehlung, auch wenn ich das Buch vor Kitsch-Anwürfen nicht in Schutz nehmen kann.

Seinen Drang zur Reduzierung hat Seethaler nach den letzten Miniaturromanen wieder einhegt (so umfasste Der letzte Satz gerade einmal 128 Seiten) und hat seiner neuen Erzählung mit 288 Seiten hier wieder mehr Raum gegeben.

Schnell liest man sich durch diese Seiten, mit denen Robert Seethaler nach dem Kein&Aber-Verlag und dem Wechsel zum Hanser-Verlag nun bei Claassen im Ullstein-Verlag eine neue Heimat gefunden hat. Ein Umstand, der rein optisch bis auf den klein gedruckten Verlagsnamen gar nicht auffallen würde, hat man sich bei Ullstein doch für gestalterische Konstanz (oder eine clevere Kopie) entschieden und setzt die Covergestaltung des Hanser-Verlags auch hier unter neuem Dach fort.

Fazit

Mit Das Café ohne Namen besinnt sich Robert Seethaler wieder auf seine alte Stärke und inszeniert das Café am Rande des Karmelitenmarktes in Wien als Bühne für die großen und kleinen Dramen des Lebens. Sein loser Ensembleroman rund um den Wirt Simon als Anker steht in der Tradition der früheren Werke Seethalers und zeigt eine Wirtschaft im Nachkriegswien, deren Kundschaft ebenso vielfältig ist wie die Geschichte, die sie erlebt und zu erzählen haben. Der Österreicher braucht auch hier wieder nur wenige Sätze, um ganze Leben und Dramen in Worte zu fassen. Dass Seethaler damit wieder viele Fans glücklich machen wird und die Bestsellerlisten erobert, das ist zu erwarten und durchaus gerechtfertigt.


  • Robert Seethaler – Das Café ohne Namen
  • ISBN 978-3-546-10032-8 (Claassen)
  • 288 Seiten. Preis: 24,00 €
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