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Eine Selbstbefragung als Leser

Vorige Woche wollten wir in unserem Literaturkreis wieder einmal ein Buch lesen und besprechen. Ausgesucht war Sofi Oksanens Als die Tauben verschwanden. Im Vorfeld stand natürlich auch bei mir die Lektüre des Buchs an, wollte man doch fundiert und nahe am Text über das Buch debattieren. Und dann das:

Der Auslöser der Überlegungen

Während ich die 430 Seiten las, rauschte die Handlung einfach an mir vorbei. Obwohl ich aufmerksam sein wollte, trieben meine Gedanken schon nach wenigen Seiten wieder von der Handlung weg. Keine der erzählerischen Wegmarken in dem Buch bekam ich zu greifen. Wie ein Passagier an einem Bahnsteig stand ich vor diesem Buch, das einfach an mir vorbeifuhr. Der Erzählzug legte für mich keinen Stopp ein, bei dem ich hätte zusteigen und damit in die Geschichte gelangen können. Ein Symptom, das mir so schon lange nicht mehr bei einem Roman unterkam. Nun begann ich die Selbstbefragung. Warum fand ich einfach keinen Zugang zu diesem Buch und warum las ich völlig an seiner Geschichte vorbei?

Mehrere mögliche Punkte fielen mir dazu ein, die meine Eigenanamnese ergab:

  • Übertriebene Konstruktion?

Als die Tauben verschwanden erzählt von der wechselvollen finnisch-estischen Geschichte. Anhand von drei Figuren zeigt sie, wie erst Rote Armee, dann die Nationalsozialisten und dann die Kommunisten Estland besetzen und damit stets eine sofortige Anpassung der estischen Bevölkerung verlangen. Rechnung trägt Oksanen in diesem Buch dieser wechselhaften Geschichte, indem sie mehrmals mit ihren Kapiteln aus der Zeit der Nazi-Besatzung der 40er Jahre weiter in die 60er Jahre und damit in die Zeit des Kommunismus springt. Immer wieder tut sie das und ließ mich dabei schon beim ersten Sprung zurück, da sich für mich die Figuren noch nicht so weit entwickelt hatten, dass man mit ihnen den Sprung wagen würde. Womit ich schon beim zweiten Kritikpunkt angelangt wäre.

  • Stumpfe Charaktere?

Figuren sind für mich der zentrale Dreh- und Angelpunkt. Eine schwache Geschichte oder ein wenig glaubhafter Plot kann für mich immer durch lebendige Figuren aufgefangen werden. Und tatsächlich gibt es Autoren, die derart plastisch und glaubwürdig Figuren zeichnen können, das man sie durch die Buchseiten hindurch zu kennen glaubt. In letzter Zeit war das bei mir etwa bei Richard Russo der Fall.

Hier scheiterte ich schon an der Namenszuweisung der Protagonisten. Immer wieder rutschten mir die Charaktere durcheinander, keiner blieb mir irgenwie im Gedächtnis, schon beim nächsten Kapitelsprung hatte ich vergessen, wer wer war. So etwas kam mir auch selten unter. Dies führte zu der Frage, was ich bei Figuren brauche, damit sie mir nahekommen. Neben der Identifizierung mit der eigenen Erfahrung brauchen Figuren in meinen Augen auch eine Geschichte und Widerhaken. Beides war leider Mangelware, sodass ich hier weder über die voltenreiche Geschichte, noch über die Figuren, die sie transportieren, in den Erzählfluss gelangte.

Vielleicht ist der nächste Punkt auch der wichtigste, der mir bei meinen Überlegungen in den Sinn kam:

  • Übersättigung?

Vielleicht ist dieser Punkt auch der entscheidende: ich bin im Moment mit Büchern, die den Zweiten Weltkrieg und seine Auswirkungen auf die Menschen behandelt, völlig übersättigt. Gefühlt jedes zweite Buch in diesem Bücherfrühjahr spielt im Zweiten Weltkrieg und setzt sich mit diesem mithilfe unterschiedlicher ästhetisch-literarischer Konzepte auseinander. Eine lose Auswahl dieser Bücher, die mir in den Sinn kamen, folgt hier: Arno Geigers Unter der Drachenwand, David Schalkos Schwere Knochen, Erich Vuillards Die Tagesordnung, Bernhard Schlinks Olga, Ralf Rothmanns Der Gott jenes Sommers, Jo Bakers Ein Ire in Paris – und das ist noch nicht einmal die vollständige Aufzählung von allen Büchern aus alleine diesem Frühjahr. Jedes weitere Buch, das dieses Thema bearbeitet, muss da schon entweder in ästhetischer oder sprachlicher Form Neues bieten, damit ich nicht übersättigt zurückbleibe. Geschafft hat es Als die Tauben verschwanden nicht im Ansatz. Deshalb lautet hier meine Diagnose: WW2-Overkill.

 

Die Frage jedes Sportreporters nach der Niederlage: Woran hats gelegen? kann ich jetzt definitiv mit diesen drei Punkten beantworten. Die Wahrheit auf meinen mangelnden Zugriff auf Sofi Oksanens Roman erklärt sich durch eine Mischung dieser drei Punkte (und sicherlich noch einiger etwas marginaler) weiterer Punkte.

Möchte man nun der literarischen Niederlage auch positive Seiten abgewinnen, so dann wohl diese: die Selbstbefragung hat mir wieder einmal vor Augen geführt, welche Punkte für mich eine nachhaltige Lektüre ausmachen und was für mich ein gutes von einem schlechten Buch trennt. diese drei oben aufgeführten Stichpunkte zählen definitiv zu meinem Kernkatalog, nach dem ich Bücher hinsichtlich ihrer Qualität bewerte.

Dennoch bleiben auch kritische Fragen, die über dieses einzelne Ereignis nun hinausweisen, besten: Lese ich zu viele Bücher? War zuletzt zu viel Durchschnitt in meinen Lektüren dabei? Die Selbstbefragung und Anamnese wird daher über die nächsten Bücher hinweg weiter verfolgt. Auch würde mich eurer Meinung zu dem Thema interessieren:

Wovon habt ihr genug? Gibt es Themen oder Inszenierungen, von denen ihr nichts mehr lesen wollt? Oder generell gesprochen: was lässt euch Bücher abbrechen?

Ich bin auf eurer Meinung sehr gespannt!

 

Veranstaltungstipp: Der Literarische Salon

Am 19.07.2018 ist es in Augsburg um 19:30 Uhr mal wieder soweit: die Sommerausgabe des Literarischen Salons findet in der Haag-Villa statt.

Wie gewohnt gibt es verschiedene Bücher und eine bunte Mischung an Gästen, die über Neuerscheinungen streiten und diskutieren. Diesmal steigen Sina Trinkwalder (Manomama), Daniela Hungbauer (Augsburger Allgemeine) und ich in den Ring. Moderiert wird das Ganze von Michael Schreiner (ebenfalls Augsburger Allgemeine).

Beim Sommer-Salon diskutieren wir über folgende drei Bücher:

Celeste Ng – Kleine Feuer überall

Es brennt! In jedem der Schlafzimmer hat jemand Feuer gelegt. Fassungslos steht Elena Richardson im Bademantel und den Tennisschuhen ihres Sohnes draußen auf dem Rasen und starrt in die Flammen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie die Erfahrung gemacht, »dass Leidenschaft so gefährlich ist wie Feuer«. Deshalb passte sie so gut nach Shaker Heights, den wohlhabenden Vorort von Cleveland, Ohio, in dem der Außenanstrich der Häuser ebenso geregelt ist wie das Alltagsleben seiner Bewohner. Ihr Mann ist Partner einer Anwaltskanzlei, sie selbst schreibt Kolumnen für die Lokalzeitung, die vier halbwüchsigen Kinder sind bis auf das jüngste, Isabel, wohlgeraten. Doch es brennt. Elenas scheinbar unanfechtbares Idyll – alles Asche und Rauch?

 

Robert Seethaler – Das Feld

Wenn die Toten auf ihr Leben zurückblicken könnten, wovon würden sie erzählen? Einer wurde geboren, verfiel dem Glücksspiel und starb. Ein anderer hat nun endlich verstanden, in welchem Moment sich sein Leben entschied. Eine erinnert sich daran, dass ihr Mann ein Leben lang ihre Hand in seiner gehalten hat. Eine andere hatte siebenundsechzig Männer, doch nur einen hat sie geliebt. Und einer dachte: Man müsste mal raus hier. Doch dann blieb er. In Robert Seethalers neuem Roman geht es um das, was sich nicht fassen lässt. Es ist ein Buch der Menschenleben, jedes ganz anders, jedes mit anderen verbunden. Sie fügen sich zum Roman einer kleinen Stadt und zu einem Bild menschlicher Koexistenz.

 

Theodor Storm – Ein Doppelgänger

Aus jugendlichem Leichtsinn, weniger aus krimineller Energie, ist John Hansen straffällig geworden und versucht nach der Rückkehr in die Heimat, wieder Fuß zu fassen. Mit seiner Frau Hanna und seiner Tochter Christine lebt er in einer Kate am Dorfrand, wird den Ruf des Zuchthäuslers aber nicht los. Die Last der Vergangenheit erschwert ihm das Leben; John findet immer seltener Arbeit. Bei einem Streit mit seiner Frau zerbricht schließlich auch sein häusliches Glück.

 Für dieses Buch erhielt Sophie Nicklas den Gestaltungspreis der Büchergilde Gutenberg.

Im Anschluss an die Diskussion stellen wir vier alle noch drei besondere Lesetipps für den Sommer vor.

Ich freu mich auf eine spannende Diskussion und neue Blickwinkel. Eintrittskarten gibts bei der Buchhandlung am Obstmarkt. Ich würde mich über viele bekannte und unbekannte Gesichter im Publikum freuen – man sieht sich am nächsten Donnerstag!

Der literarische Herbst 2018 (Teil 2)

Vor einiger Zeit ging schon ein Artikel online, in dem ich zahlreiche Bücher aufführte, auf die ich mich freue. Heute wird das Ganze fortgeführt, da inzwischen die Programme einiger weiterer Verlage online gegangen sind. Vorhang auf also für Runde Zwei der Novitätendisco (mit mehr Indie-Verlagen, mehr Frauen, und überhaupt!):

 

Bunte Cover liegen im Trend. Diese beiden Werke treten den Beweis an: Tom Rachmans Die Gesichter und Richard Powers Die Wurzeln des Lebens. Bislang konnte mich keines von Rachmans Büchern so wirklich vom Hocker hauen. Vielleicht wird das mit dem neuen Buch anders? Darin erzählt er von einem Sohn, der sich aus dem Schatten seines Vaters lösen möchte (Übersetzung von Bernhard Robben). Auch auf Richard Powers freue ich mich, schließlich habe ich noch nichts von diesem Autor gelesen und würde diesem Zustand gerne Abhilfe schaffen.

Thematisch in die Reihe der farbenfreudigen Cover passt auch Chris Kraus‘ neuer Roman Sommerfrauen, Winterfrauen. Kraus‘ letzter opulenter Roman Das kalte Blut konnte mich wirklich begeistern – hoffentlich kommt der neue Titel an dieses 1200seitige Werk auch heran. Weiter geht es mit Christian Torklers Der Platz an der Sonne, hierin entwirft der Autor eine Vision von Deutschland im Jahr 1978, in dem Berlin in Trümmern liegt. Alternative Geschichtsschreibungen mag ich sehr – mal sehen, ob auch dieses Buch überzeugen kann!

Etwas weiter von Deutschland weg spielt der nächste Vorschautitel, nämlich Wonder Valley von Ivy Pochoda. Darin lässt die Autorin mehrere Figuren in der Gluthitze Kaliforniens aufeinanderprallen. Man darf auf diesen literarischen Flipperautomaten durchaus gespannt sein, wie ich finde.

 

Um mit spannenden Autorinnen fortzufahren: auch Nino Haratischwili lässt mit Die Katze und der General wieder von sich hören. Nach ihrem monumentalen Wurf Das achte Leben und der Auszeichnung mit dem Brecht-Preis der Stadt Augsburg freue ich mich nun, wieder von der Autorin zu hören. Eine weitere tolle Autorin ist Jennifer Clement, die nach ihrem Blick auf den blutigen Drogenkonflikt in Mexiko in Gebete für die Vermissten nun ein weiteres heißes gesellschaftliches Eisen anfasst. Nämlich die Faszination der Amerikaner für Waffen. Gun Love heißt das Buch und erscheint im September bei Suhrkamp.

Ebenfalls im September erscheint das Debüt von Min Jin Lee, das in Amerika ein Bestseller war und auf der Shortlist des National Book Award stand. In Ein einfaches Leben erzählt die Autorin vom Milieu der koreanischen Einwanderer. Laut Verlagswerbung stecken 20 Jahre Arbeit in dem Buch – nicht nur eingedenk der aktuellen Ereignisse rund um Amerika und Nordkorea bin ich mehr als gespannt.

Die große Faszination an Büchern ist es ja, dass sie mich in andere Leben und Welten hineinschauen lassen. Mit der Lebenswelt von koreanischen Einwanderern in den USA hätte ich ja normalerweise keine Berührungspunkte. Ein weiterer dieser Weltenöffner könnte Der Sport der Könige der Autorin C.E. Morgan sein. Darin erzählt sie von einer Familie von Pferdezüchtern in den Südstaaten der USA – darüber hinaus scheint mir das Buch – wenn man nach der Ankündigung geht – auch die aktuellen Probleme der USA auf der Folie dieses Romans zu verhandeln.

Ein schwarzhumoriger Spaß könnte auch das Buch Glorreiche Ketzereien von Lisa McInerney werden. Es erscheint im Liebeskind-Verlag, der ja immer ein gutes Händchen für außergewöhnliche Bücher hat.

 

Auch im Bereich der Spannungsliteratur gibt es einige Titel, auf die ich mich freue, unter anderem auf Nachschub aus dem Polar-Verlag, der wieder einmal ein spannendes Programm aufbietet. Besonders ins Auge fiel mit das Buch Grant Park von Leonard Pitts Jr., der in diesem Buch das die Unruhen in Memphis 1968 und die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten verbindet. Über seinem Krimi scheinen die Themen Rassismus und Amerikas Auseinandersetzung mit seinem historischen Erbe zu schweben. Ich bin gespannt.

In eine ganz andere Richtung zielt der Krimi Murder Swing, der von einem Vinyl-Detektiv erzählt, der in London seinem Tagewerk nachgeht. Er wird angeheuert, eine seltene Pressung zu finden, womit das ganze Schlamassel beginnt. Dieses Buch scheint mir der Bruder von den Titeln wie Hari Kunzrus White Tears oder Vintage von Grégoire Hervier zu sein.

Marlow ist der inzwischen schon siebte Band in der Reihe um den Berliner Kriminalkommissar Gereon Rath. Nachdem im Herbst die Verfilmung der ersten Bände der Reihe im Free-TV zu sehen ist und bislang jeder Roman ein Bestseller war, dürfte sich diese Geschichte hier nahtlos fortsetzen (wenngleich die Bücher von Volker Kutscher nun bei Piper statt Kiepenheuer&Witsch erscheinen).

Ein weiterer Garant für gute Kriminalliteratur ist Dennis Lehane. Seine Bücher sind eigentlich immer grandios – was ich hoffentlich nach der Lektüre auch von Der Abgrund in dir sagen werde. Auch Desperation Road von Michael Farris Smith lässt mich hoffen. Er erzählt in seinem Buch von einem frisch entlassenen Häftling und einer Mutter mitsamt Tochter auf der Flucht. Könnte klischeebeladen werden, könnte aber auch voll einschlagen. Ich werde berichten!

 

Ein toller Titel, der schon so bei mir wunderbar funktioniert ist Männer, die sich schlecht benehmen von Joshua Ferris. Klingt gut, wird gekauft. Und Kurzgeschichten gehen eh immer. Ein weiterer Titel, dessen Klappentext mich sehr anspricht, ist der Titel Der Blumensammler von David Whitehouse. Darin dreht sich alles um einen unscheinbaren Mann, den ein Brief auf eine große Reise schickt. Darin sind sechs seltene Blumen notiert – und der Mann begibt sich auf die Suche nach diesen Blumen.

Das Verschwinden des Josef Mengele von Oliver Guez dreht sich um die Flucht des ehemaligen KZ-Lager“arztes“ Josef Mengele, die er nach dem Ende des Dritten Reichs nach Buenos Aires antrat. In Frankreich war der Titel ein Bestseller und wird von Nicola Denis übersetzt. Diese hat auch schon Eric Vuillards Die Tagesordnung ins Deutsche übertragen.  Apropos Eric Vuillard: der Matthes&Seitz-Verlag bringt ein neues Sortiment mit Backlist-Titeln und Taschenbücher auf den Markt. Besonders auf die Ausgabe von Eric Vuillards Kongo freue ich mich. In diesem ursprünglich 2015 erschienen Buch montiert Vuillard die Geschehnisse rund um die Kongo-Konferenz im Jahr 1884. Die HC-Ausgabe entging mir, im Paperback wird die Lektüre nun nachgeholt. Und auch eine weitere Veröffentlichung des umtriebigen Verlags aus Berlin hat meine Aufmerksamkeit. Vermächtnis einer Jugend ist die Autobiographie von Vera Brittain, die als Hilfskrankenschwester die Schrecken des Ersten Weltkriegs miterleben musste. Genau 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs sicher eine lohnende Lektüre.

 

Billige Wortspiele mit seinem Nachnamen spare ich mir – nicht aber den Hinweis auf das Buch. Mein Ein und Alles von Gabriel Tallent klingt nach einem facettenreichen Porträt eines jungen Mädchens in der Abgeschiedenheit Nordamerikas. Höchst aktuell und hoffentlich angemessen moralisch ambivalent gehalten wird der Roman Die Polizisten des Franzosen Hugo Boris. Er erzählt darin von drei Polizisten, die die Abschiebung eines Flüchtlings in die Wege leiten müssen.

Etwas mehr Zerstreuung bietet Christian Schnalke in seinem Roman Römisches Fieber, der von Franz Wercker erzählt, der 1818 über eine Station am Gardasee in den Dunstkreis einer deutschen Künstlergemeinschaft in Rom gerät. Mich erinnert diese Beschreibung stark an die Titel oder Porträt ohne Dichter oder Keyserlings Geheimnis von Klaus Modick.

Die letzten beiden Vorschautipps kommen aus dem Hause DuMont und Ullstein. Im Kern eine Liebesgeschichte von Elizabeth McKenzie verspricht einen amerikanischen Gesellschaftsroman, bei dem auch der Humor nicht zu kurz kommt. Das lässt hoffen. Erst letztens fragte ich mich, ob es vielleicht dieses Jahr noch einen großen Roman zum Thema 1968 und dessen 50. Geburtstag gibt. Im Programm des Ullstein-Verlags bin ich nun auf den Krimi Die Tote im Wannsee des Autorentrios Lutz, Wilhelm und Kellerhoff gestoßen, das diese literarische Lücke hoffentlich etwas zu stopfen vermag.

 

Bevor ich mich nun nach dieser Auflistung völlig verzweifelt frage, wann man das alles lesen sollte noch die Frage an euch – haben sich für euch schon weitere Leseperlen aus den kommenden Programmen herauskristallisiert? Ich bin auf weitere Tipps gespannt!

 

 

Der literarische Herbst 2018

Auch wenn uns erst einmal ein hoffentlich großartiger Sommer 2018 bevorsteht – im literarischen Betrieb stehen die Zeichen schon wieder stark auf Herbst. Die aktuellen Vorschauen sind zumeist schon online gegangen – und ich habe die Zeit genutzt, um mir zahlreiche Wunschtitel aus den Programmen herauszupicken, auf die ich mich freue. Deshalb kommt hier eine erste höchst subjektive und vorfreudige Auswahl an Titel für den literarischen Herbst 2018 (genauere Infos über die Titel und deren Erscheinungsdatum verbergen sich hinter den Links im Text). Eine zweite Rutsche wird demnächst folgen:

 

 

Stefan Thome fand sich schon öfter auf Nominierungslisten für den Deutschen Buchpreis wieder. Nach seinen beiden Büchern aus Sicht zweier Ehepartner (Fliehkräfte und Gegenspiel) gibt es nun Neues vom hessischen Autor. In Gott der Barbaren beschäftigt er sich mit einer christlichen Aufstandsbewegung in China im 19. Jahrhundert. Ein geographisches und historisches Kapitel, bei dem ich gerne dazulerne. In der harten Gegenwart landet man dann wieder mit Dodgers von Bill Beverly. Dieser erzählt von vier jugendlichen aus den Ghettos von L.A., die sich auf einen Roadtrip durch die USA machen. Bevor die literarische Vorschau über den großen Teich geht, freue ich mich auf einen weiteren Titel aus den USA. Man sollte mit dem Wort Epos ja vorsichtig sein, gerade da es so inflationär in Vorschauen gebraucht wird. Nach allem, was man von Dark Town allerdings so liest, könnte dies hier tatsächlich zutreffen. Es geht um eine schwarze Polizeieinheit, die 1948 in Atlanta ihren Dienst versieht. Rassismus und Korruption dominieren die Stadt. Da finden zwei der Polizisten die Leiche einer Farbigen – deren Todesumstände niemanden außer die beiden Polizisten interessieren. Das klingt doch nach einer vielversprechenden Mischung aus James Ellroy und Dennis Lehane (von dem später auch noch die Rede sein wird.)

Nun aber wie angekündigt der Sprung über den Teich – zunächst nach England. Dort spielt der neue Roman von Michael Ondaatje (von ihm stammen unter anderem die Werke Der englische Patient und Katzentisch). Dieser erzählt vom jungen Nathaniel, der mitsamt seiner Schwester von seinen Eltern in London 1945 zurückgelassen wird. Erst spät beginnt Nathaniel die Hintergründe für diese Tat zu verstehen. Ebenfalls in England, genauer gesagt im verschlafenen Lynton spielt das neue Buch von Claire Fuller, die mit Eine englische Ehe eines meiner Lieblingsbücher 2016 geschrieben hat. Dort soll Frances ein Gutachten zur Renovierung eines Herrenhauses anfertigen. Sie quartiert sich kurzerhand in dem Haus ein und verbringt einen Sommer in der englischen Provinz.

 

 

Eine ganze Riege von Büchern mit bunten Covern und hoffentlich ebenfalls so bunten Inhalten: Wie man aus dieser Welt verschwindet erzählt von einer Spurensuche in Brasilien. Dort ist eine Autorin verschwunden und ihre Übersetzerin macht sich auf die Suche nach ihr, quer durch ganz Rio (leichte Anklänge an Die Morde von Pye Hall sind hier offenbar nicht ausgeschlossen). In die Schweiz entführt das neue Buch von Verena Roßbacher. In Ich war Diener der Familie Hobbs erinnert sich jener titelgebende Diener der Anwaltsfamilie Hobbs an ein Unglück, das sich in den besseren Kreisen der Zürcher Gesellschaft ereignete. Der KiWi-Verlag verspricht ein „literarisches Ereignis – voller psychologischer Brillanz, umwerfender Poesie und treffsicherem Humor“. Ich bin gespannt.

Ebenfalls im KiWi-Verlag erscheint der Debütroman von Philip Schwenke, der als Reporter für die Neon und Capital schreibt. In Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste widmet er sich Karl May. Dieser machte mit seinen Büchern die Leser Glauben, dass er den Wilden Westen mindestens ebenso gut kannte wie seine Figuren Old Shatterhand und Winnetou. Dabei hatte Sachsen nie verlassen. Doch dann bricht er im Alter von 60 Jahren zu einer Orientreise auf – und muss zahlreiche Enttäuschungen erleben.

Zurück nach Samthar geht es für die Ich-Erzählerin in Anna Katharina Fröhlichs Rückkehr nach Samthar. Dort in der indischen Provinz existierte einst ein Königreich – doch bei der Rückkehr muss die Errzählerin erfahren, das alles vergangen ist und vom einstigen Glanz kaum mehr etwas übriggeblieben ist. Mit Glanz und Verfall in Indien beschäftigt sich auch ein weiteres Buch in diesem literarischen Herbst, nämlich Ghachar Ghochar von Vivek Shanbag. Darin schildert er den Aufstieg und Verfall einer indischen Familie, die ins Gewürzgeschäft einsteigt. Das klingt für mich nach einer indischen Variante der Buddenbrooks. Ich bin auf alle Fälle gespannt!

 

 

Ein vielversprechendes deutsches Debüt kommt vom jungen Lukas Rietzschel, der in Mit der Faust in die Welt schlagen vom Aufwachsen zweier Brüder in der Provinz Sachsens erzählt. Weiter gehts in puncto verheißungsvoller Debüts aus Deutschland mit Das weiße Schloss, das Unterhaltung im Stile von Kazuo Ishiguros Alles, was wir geben mussten verspricht. Alles andere als ein Debütant ist der Österreicher Wolf Haas, der mit Junger Mann vier Jahre nach Brennerova wieder von sich hören lässt.

Den Wettbewerb in puncto schönstes Cover könnte in diesem Herbst Jess Kidd gewinnen, deren zweites Buch auf Deutsch im DuMont-Verlag erscheint. Es trägt den Titel Heilige und andere Tote und erzählt von einem geheimnisumwitterten Messie, der in einem herrschaftlichen Anwesen im Westen Londons residiert. Und auch ein alter Bekannter veröffentlicht zehn Erzählungen unter dem Titel Die Wahrheit über das Lügen – die Rede ist von Benedict Wells. Sein Roman Vom Ende der Einsamkeit hat sich zu einem richtigen Longseller entwickelt – nun also Prosa in Kurzform von Wells.

 

 

Neues von der Altmeisterin Jane Gardam gibt es ebenfalls in diesem Herbst zu entdecken. Beziehungsweise neues Altes. Weit weg von Verona ist das Debüt der inzwischen schon 90-jährigen Britin. Im Mittelpunkt des Buches ein junges Mädchen, das immer die Wahrheit sagt. Persönlich freue ich mich auch sehr auf Der Erzähler, der neue Roman von Richard Flanagan, einem meiner absoluten Lieblingsautoren. Der Plot seines neuen Buchs klingt spannend. Ein mittelloser Autor soll die Memoiren eines berühmten Kriminellen verfassen – und das bevor der Prozess beginnt. Unter Druck beginnt der Schriftsteller einfach seine eigene Version der Dinge zu erfinden (im Übrigen scheint das Thema Wahrheit und Lügen einer der großen literarischen Trends dieses Herbstes zu sein).

Auch etwas gehobener und gut gemachter Blödsinn, Absurdität und Tragikomik darf gerne einmal sein. Guten Morgen, Genosse Elefant könnte genau das bieten. Ab Herbst 2018 wissen wir mehr. Einen Generationenroman, der den Niedergang einer ganzen Familie zwischen Den Haag und Riga verspricht, das ist Der Stammhalter von Alexander Münninghoff. Das Buch erscheint im C.H.Beck-Verlag. Und einer der schönsten Titel der kommenden Saison stammt für mich schon jetzt von Thomas Klupp. Sein neues Buch trägt den Titel Wie ich fälschte, log und Gutes tat.

 

So viel zunächst zu den kommenden Büchern, die mein Interesse wecken konnten. Gibt es Titel, die bei euch absolute Muss-Titel im Herbst 2018 sind?

Brechtpreis für Nino Haratischwili

Gestern Abend war es im Goldenen Saal der Stadt Augsburg soweit – die gebürtige Georgierin Nino Haratischwili bekam den Brechtpreis zugesprochen. Erhalten hat sie diesen Preis sowohl für ihr dramatisches als auch ihr literarisches Schaffen. Die Jury (unter anderem mit Uwe Wittstock, Hubert Spiegel und Shermin Langhoff besetzt) erkannte ihr den Preis mit folgender Begründung zu: „Nino Haratischwilis Romane und Theaterstücke lassen sich mit den großen Exildramen Bertolt Brechts in Verbindung bringen. Ihre Begabung, komplizierte historische Prozesse, Revolutionen und Kriege ebenso wie menschliches Versagen, Opportunismus und Machtmissbrauch sowie individuelle Katastrophen in sinnliche Geschichte und großartige Frauenfiguren zu fassen, erinnert an Brechts „Mutter Courage“ und seinen Kaukasischen Kreidekreis

Andreas Platthaus bei seiner Laudatio

Die Verbindung zwischen Brechts in Georgien bzw. Grusinien spielendem Kaukasischen Kreidekreis und der dort geborenen Nino Haratischwili zog bereits in seinen Begrüßungsworten der Dritte Bürgermeister der Stadt Augsburg, Stefan Kiefer. Ihm folgte dann Andreas Platthaus, der eine elaborierte, verspielte und treffende Rede auf die Preisträgerin hielt. So attestierte Platthaus Haratischwili, dass wenn Brecht das epische Theater erfunden hätte, dann sei es die Preisträgerin, die die theatralische Epik erfunden hätte. In seiner Laudatio nahm der Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Komposition von Haratischwilis Opus Magnum Das achte Leben (für Brilka) auf und hielt eine Preisrede in mehreren Anfängen. Er näherte sich der Laureatin auf verschiedenen Wegen und schaffte es auch, die Verbindung von Brechts Schaffen und der Poetik Haratischwilis herauszustellen.

Eine Verbindung, die die Autorin nach der Übergabe der Urkunde und dem Eintrag ins Goldene Buch der Stadt dann selber auch bestätigte. Sie erzählte von den Anfängen ihres literarischen und dramatischen Schreibens und welche Einflüsse Brecht dabei gehabt hätte. Passenderweise sei es Der kaukasische Kreidekreis gewesen, der in ihr den Wunsch nach dem eigenen Schreiben und Inszenieren geweckt habe. Als 15-jährige habe sie einer Aufführungen jenes Stückes in Tiflis beigewohnt. Auch wenn der Strom nicht immer für ein ganzes Stück hielt und die Stromausfälle während der Aufführungen schon fast zu den Inszenierungen selbst gehörten, so habe sich eine Magie entfaltet, die ihren künftigen Lebensweg entscheidend geprägt habe.

In der Folge emigrierte Haratischwili aus ihrer georgischen Heimat in den Westen, genauer gesagt nach Hamburg. Sie fand Aufnahme an einer Theaterakademie, entwickelte sich beständig fort, schrieb über 20 Theaterstücke und drei Bücher (das vierte Buch erscheint im Herbst diesen Jahres) – und erhielt nun genau für dieses literarische Schaffen und ihr mit über 1200 Seiten starkes Mammutwerk Das achte Leben den mit 15.000 Euro dotierten Brechtpreis. Eine gute Wahl der Jury – mit dieser Auszeichnung reiht sich die bislang jüngste Preisträgerin ein in eine Schar großer Namen. Bisherige Brechtpreisträger sind unter anderem Robert Gernhardt, Albert Ostermaier, Dea Loher und zuletzt Silke Scheuermann.