Daniel Woodrell – In Almas Augen

Erinnerungssplitter

Er ist einer der großen Unbekannten der amerikanischen Literatur, die in Deutschland meiner Meinung nach sträflich vernachlässigt werden – die Rede ist von Daniel Woodrell. Daniel Wer? In Deutschland wird dieser Autor erst langsam bekannter, obwohl er schon einige formidable Erfolge vorweisen kann. Am bekanntesten dürfte wahrscheinlich sein Buch Winters Knochen sein, das unter dem Originaltitel Winter’s Bone mit Jennifer Lawrence verfilmt wurde. Ein wüster und dreckiger Neo-Country noir, der ins Hinterland von Amerika führt.

Nach einigen Veröffentlichungen liegt nun sein neuestes Werk im Taschenbuch vor, das den Titel In Almas Augen trägt. Dieses Buch hat es bis auf Platz 1 der KrimiZEIT-Bestenliste geschafft, ein beachtlicher Erfolg für den Autor, dem der große Durchbruch noch immer nicht beschieden ist.

In Almas Augen erzählt geschickt montiert die Geschichte eines großen Unglücks, das 1929 eine Kleinstadt in Missouri heimsuchte. Bei einer Ballveranstaltung flog das gesamte Gebäude in die Luft, Augenzeugen berichteten von 30 bis 90 Meter hohen Lohen, die in den Nachthimmel aufstiegen. Zahlreiche Tote waren das Ergebnis des Unglücks – die Erinnerung an die Geschehnisse von damals ist noch höchst lebendig. Doch handelte es sich wirklich um ein Unglück – oder was ist damals wirklich passiert?

40 Jahre nach der Explosion meldet sich die Erinnerung und das Gewissen von Alma, einer alten Haushälterin die damals schon im Ort wohnte, zu Wort. In kleinen Splittern setzt sich langsam ein Bild der damaligen Ereignisse zusammen. In den Erzählungen von Alma bildet sich sukzezzisve ein Mikrokosmos des damaligen Leben, bestehend aus Korruption, Wegschauen und Begehren. Immer wieder werden kleine Miniaturen der Ballbesucher in den Text geschnitten und man betrachtet das Alltagsleben durch die Augen Almas und sieht, wer wen betrog und welche Geheimnisse die Bürger hüteten.

Erst auf den letzten Seiten löst Woodrell die Hintergründe zu der Explosion auf und zeigt dem Leser durch Almas Augen, wie es zu dem Ereignis kam. Bis dahin wurde man mit einer klug gestrickten Erzählung bestens unterhalten. Wem In Almas Augen gefallen hat, der sollte dann auch mal einen Blick zum weiteren Schaffen Woodrells wagen – ich empfehle neben dem eingangs schon erwähnten Winters Knochen auch Der Tod von Sweet Mister, einem eindringlichen Porträt eines Jungen, die wider Willen in kriminelle Umtriebe hineingezogen wird.

Diesen Beitrag teilen

Stuart MacBride – Das Knochenband

Nach all den ernsten und literarisch eher anspruchsvollen Titel in letzter Zeit komme ich heute mal wieder mit einem Buchtipp daher, der allen Spannungsfans gute und simple Unterhaltung bietet (dies im Sinne dass der Krimi nicht viel mehr will als gut unterhalten – keine Nabelschau der Probleme der Welt, etc.): Das Knochenband des schottischen Autors Stuart MacBride ist der achte Band der Reihe um den Dective Inspector Logan MacRae.

Die Flipperkugel von Aberdeen

Man möchte wirklich nicht in Logan MacRaes Haut stecken. Als Interims-DI darf er sich mit den gehobenen Problemen der schottischen Bürokratie herumärgern und nebenbei an diversen Fronten kämpfen. Einige Obdachlose sind verschwunden, asiatischen Migranten werden die Knie zertrümmert – über die Identität ihrer Peiniger schweigen sie sich jedoch aus, und ein Teenagerpärchen wird vermisst. Darüberhinaus wurde ein anonymes Opfer auf einem abgelegenen Parkplatz per Necklacing getötet, erwürgt und erstochen. Viel zu tun also für Logan MacRae, der von seiner Vorgesetzten DI Steel permanent unter Druck gesetzt und herumgescheucht wird.
Neben diesen ganzen Problemen erleichtert es MacRae nicht gerade, dass die Aberdeener Unterweltgröße Wee Hamish Mowat per Testament Logan zu seinem Nachfolger auserkoren hat.
Und woher kommen die Knochenbündel, die sich immer wieder an Logans Wohnungstür finden?
Logan MacRae ist wirklich die Flipperkugel von Aberdeen. An zahlreichen Fronten muss er kämpfen, seine Vorgesetzte DI Steel, die Interne Dienstaufsicht, die Unterwelt und auch ehemalige Vorgesetzte – alle wollen etwas von Logan. Dieser muss sich meist beide Beine ausreißen, um irgendetwas gebacken zu bekommen.
Das große übergeordnete Thema dieses Buchs ist die Verfilmung des Buchs Witchfire, das Harry-Potter-ähnliche Erfolge nach Aberdeen bringen soll. Die meisten der Verbrechen, die dem Leser in Das Knochenband begegnen drehen sich um die Dreharbeitenvon Witchfire, wenngleich Stuart MacBride erst im letzten Viertel des Buchs die wahren Beweggründe für einige Verbrechen offenbart.

Krimi und Komik

Bis dahin ist man mit Logan MacRae durch ein kaltes Aberdeen gehetzt und wurde köstlich unterhalten. MacBride ist nämlich einer der wenigen Autoren, dem eine passable Mischung aus düsterem und harten Thriller mit jeder Menge Komik gelingt. Die Figuren, die seine Bücher bevölkern, sind oftmals bewusst wandelnde Klischees und ihre Dialoge und Aktionen kann man manchmal wirklich nicht ernst nehmen. Dennoch gelingt es dem Schotten, die Balance zwischen seinem Krimi und dem Spaß im Buch zu bewahren.
Auch wenn sich nicht alles komplett logisch auflöst und ein, zwei Logiklöcher den Plot durchziehen ist das Buch doch eine prima Unterhaltung für alle Krimifreunde, die auch zwischen den Seiten einmal lachen können oder wollen.

Schwankendes Veröffentlichungsformat

Schade nur das schon wieder geänderte Design der Buchreihe, die auch in ihren Veröffentlichungsformaten zwischen Hardcover, Paperback und Taschenbuch springt. Hier würde ich mir einmal mehr Kontinuität wünschen, dies bleibt wohl aber nur Wunschdenken.
Diesen Beitrag teilen

Karl-Ove Knausgård – Sterben

Die Kämpfe eines Lebens

Also die Existenz dieses Blogger-Portals von Random House ist schon etwas sehr Feines: man wünscht sich einfach Titel und bekommt sie meistens rasch zugesandt, um dann nach der Lektüre Besprechungen zu erstellen. So bin ich schon auf einige Titel gestoßen, die mir sonst nicht so schnell vor die Flinte gelaufen wären. Ein weiterer dieser Glücksgriffe ist nun mein Buch, das heute besprochen werden soll: Karl-Ove Knausgårds Bestseller Sterben:

Dieses Buch ist das erste eines sechsbändigen autobiographischen Romanzyklus, der im Schwedischen unter dem Titel Min Kamp, also Mein Kampf publiziert wurde. Für die deutsche Klientel hat man auf diese historisch schwierige Bezeichnung verzichtet und stattdessen sprechende Titel gewählt, die die Bücher gut subsumieren. Nach Sterben folgt Lieben, Spielen, Leben und bald auf Deutsch Träumen. Der finale Band steht auf Deutsch noch aus.

Alle Bände (insgesamt knapp 3600 Seiten) kreisen um Karl-Ove Knausgård und seine Kämpfe mit dem täglichen Leben. Im ersten Band nimmt er uns mit in seine norwegische Kindheit und den Abschied von seinem Vater. Dieser stirbt einsam als Trinker im Haus seiner Großmutter – und an Karl-Ove und seinem Bruder Yngve liegt es nun, die Beerdigung und den Nachlass zu regeln. Dabei müssen sie das völlig heruntergewohnte Haus ihrer Großmutter mitsamt seiner Bewohnerin wieder auf Vordermann bringen und kommen sich dabei auch als Brüder wieder näher. In Exkursen erzählt Knausgard von Erlebnissen als Musiker und als Journalist und seinem neuen Leben als Vater.

Sterben ist ein pralles Buch bei dem man das Gefühl hat, einem echten Menschen über die Schulter zu sehen.
Knausgård lässt keine Rückschläge und Niederlagen aus. Wo andere eine sauber ausgeleuchtete und behutsam inszenierte Biographie vorlegen, geht Knausgård dahin, wo es wehtut. Er zeigt dass Niederlagen ebenso essenziell für ein Leben sind wie Glück und Triumphe.

Diese schonungslose Ehrlichkeit und sein schriftstellerisches Talent machen aus dem Auftaktband seiner Memoiren einen Amuse-Gueule, das mehr als Appetit für die kommenden Bände macht. Ich werde mich ihrer in den kommenden Monaten annehmen!

Diesen Beitrag teilen

Ralf Rothmann – Im Frühling sterben

Die Grausamkeiten des Kriegs

Es gibt Bücher, die saugen den Leser schon mit den ersten Sätzen in die Geschichte hinein – Im Frühling sterben von Ralf Rothmann ist ein solches Buch:

Das Schweigen, das tiefe Verschweigen, besonders wenn es Tote meint, ist letztlich ein Vakuum, das das Leben irgendwann von selbst mit Wahrheit füllt. – Sprach ich meinen Vater früher auf sein starkes Haar an, sagte er, das komme vom Krieg. Man habe sich täglich frischen Birkensaft in die Kopfhaut gerieben, es gebe nichts Besseres; er half zwar nicht gegen die Läuse, roch aber gut. Und auch wenn Birkensaft und Krieg für ein Kind kaum zusammenzubringen sind – ich fragte nicht weiter nach, hätte wohl auch wie so oft, ging es um die Zeit, keine genauere Antwort bekommen. Die stellte sich erst ein, als ich Jahrzehnte später Fotos von Soldatengräber in der Hand hielt und sah, dass viele, wenn nicht die meisten Kreuze hinter der Front aus jungen Birkenstämmen gemacht waren.“

Ralf Rothmann, Im Frühling sterben, S. 7

Mit dieser eindrücklichen Impression beginnt Rothmann das Verschweigen seines Vaters mit Worten zu füllen. Die Geschichte, die er in Im Frühling sterben schildert, ist von existenzialistischer Wucht und Eindringlichkeit.

Rothmanns Vater Walter ist ein gelernter Melker von gerade einmal 17 Jahren, als der Krieg in den letzten Zügen liegt. Die Russen und Amerikaner drängen das von zwei Seiten auf Deutschland ein, da werden die Maßnahmen verzweifelter. Walter muss sich mit seinem besten Freund Fiete zwangsrekrutieren, obwohl er sich eigentlich als sicher vor dem Krieg fühlte. Nun wird er nach einer Expressschulung an die Front in Ungarn versetzt und muss dort die Stellung halten. Diese grausame Zeit wird noch grausamer, als Fiete fahnenflüchtig und verhaftet wird. Walter muss große Schuld auf sich laden, als sein bester Freund für eine standesrechtliche Erschießung freigeben wird.

Schönheit und Leid

Ralf Rothmann gelingt es in seinem neuen Buch, die unmenschliche und schreckliche Welt des Kriegs auf eine unerhört poetische und eindringliche Weise zu schildern. Die Welt des Tötens, für die weder Fiete noch Walter gemacht sind, offenbart sich dem Leser in ihrer ganzen Brutalität und Irrationionalität. Auch wenn der Vergleich von Werken mit Remarques Im Westen nichts Neues natürlich oft gezogen wird – im vorliegenden Fall ist dieser nicht zu hoch gegriffen.

Mit einigen wenigen Sätzen skizziert Rothmann Figuren, die klar machen wie das Dritte Reich und der Krieg funktionierte. Diese eindrücklichen Szenen bleiben haften – lange bis die letzten Sätze dieses 233 Seiten starken Buches verklungen sind. Wie Rothmann Figuren wie den Sturmbannführer Domberg zeichnet, der zwischen Grausamkeit und der Bedacht auf korrekte Grammatik schwankt, dies ist wirklich große Schriftstellerkunst.

Ein Buch, dessen minimalistisches Design genauso besticht wie der Inhalt. Parallelen sehe ich auch zum nicht minder eindringlichen und empfehlenswerten Titel Alles Licht, das wir nicht sehen von Anthony Doerr. Hier wie da geht es um zwei Jugendliche, die durch den Zweiten Weltkrieg in Lagen manövriert werden, in der sich kein Mensch wiederfinden sollte.

Wo Doerrs Buch durch die Fiktion und Dramatisierung Wucht gewinnt, ist dies bei Rothmann durch die unmittelbare Nähe zum ungefilterten Kriegsgeschehen der Fall. So oder so sind beide Titel mehr als lesepflichtig und sollten in diesem Jahr nicht zuletzt auch als Warnung und Mahnung gelesen werden.

Eine Vater-Buch, eine kraftvolle Schilderung des Kriegs-Wahnsinns und nicht zuletzt ein Mahnmal, dafür, den Frieden zu bewahren und erhalten. Außerordentlich!

Diesen Beitrag teilen

Michael Robotham – Um Leben und Tod

Auf der Flucht

Audie Palmer muss verrückt sein. So ist jedenfalls die landläufige Meinung der Offiziellen, als der Fall des geflüchteten Verbrechers publik wird: Einen Tag vor seiner Entlassung bricht dieser aus dem Gefängnis aus und macht sich daran einen Plan zu verfolgen, von dem niemand weiß, was Audie damit bezweckt. Allerdings lässt die Flucht des Mannes bei einigen Offiziellen im Macht- und Polizeiapparat die Alarmglocken schrillen und so beginnen diverse Parteien eine Jagd auf den Flüchtigen.

Schließlich geht auch das Gerücht um, Audie wüsste über den Verbleib von 7 Millionen Dollar Bescheid. Diese waren nämlich der Grund weshalb er damals verurteilt wurde. Zusammen mit seinem Bruder soll er einen Geldtransporter überfallen haben und dabei reiche Beute gemacht haben. Bis heute fehlt vom Geld allerdings jede Spur.

Ist Audie auf der Suche nach dem Geld? Oder geht es ihm um etwas ganz Anderes? Rennt er vor Schwierigkeiten weg oder geradewegs auf sie zu?

Um Leben und Tod ist ein besonderes Buch im Schaffen von Michael Robotham, funktioniert es doch ohne die aus den bisherigen Büchern bekannten Protagonisten Vincent Ruiz und Joe O’Loughlin und spielt diesmal durchgängig in Amerika statt in England.

20 Jahre lang trug Robotham die Idee zu diesem Buch mit sich herum, ehe er nun Life or Death schrieb. Obwohl ich die bisherigen Bücher Robothams über alles schätze (z. B. Dein Wille geschehe oder Erlöse mich) muss ich nach der Lektüre des neuesten Buches sagen, dass ich seine beiden Hauptprotagonisten kaum vermisst habe. Mit Audie Palmer hat er einen ebenso rührenden Charakter ersonnen, der dem Leser schnell ans Herz wächst – eine Mischung etwa aus Gandalf und Yoda, wie es sein Ex-Mithäftling einmal bemerkt.

Um Leben und Tod bietet nicht unbedingt viel Neues, dafür weiß Michael Robotham aber, wie man eine Geschichte erzählt. Zahlreiche Wendungen, Kniffe und Erzählstränge sorgen dafür, dass es während der 470 Seiten niemals langweilig wird. Die Hatz auf Audie verschneidet der Australier mit zahlreichen Rückblenden auf das Leben Audies und den Ereignissen des Überfalls und langsam zeigt das Mosaik ein stringentes und plausibles Bild.

Warum floh Audie einen Tag vor seiner Entlassung? Wo sind die sieben Millionen Dollar abgeblieben? Und warum wird der Ex-Häftling gleich von mehreren Parteien so unbarmherzig durch Texas gejagt? Nach den schnellen 470 Seiten ist man schlauer und wurde von Michael Robotham bestens unterhalten.

Jeder, der dieses Jahr in den Sommerurlaub fährt und spannende Bücher zu schätzen weiß, sollte diesen Titel in seinen Koffer packen – man wird es kaum bereuen!

Diesen Beitrag teilen