Mario Desiati – Spatriati

Rastlos bezüglich der eigenen Identität, rastlos bezüglich des Lebensziels, rastlos bezüglich der Bindung, rastlos bezüglich des Lebensortes und des eigenen Platzes im Leben. In seinem preisgekrönten Roman Spatriati zeigt Mario Desiati die Rastlosigkeit eines jungen Mannes, der in seinen Jugendtagen in Claudia eine Freundin findet, deren Beziehung zueinander aber auch eines bleibt – rastlos.


Es ist ein Wort, das sich kaum übersetzen lässt: Spatriati. Die Rastlosigkeit, die Unruhe und Bindungslosigkeit schwingt in diesem Wort mit, wie Mario Desiati bei der Vorstellung seines Buchs im Rahmen der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Herbst erklärte. Die Ruhelosen, die Außenseiter, die Spinner und nicht ganz in die Norm passenden Menschen werden im apulischen Dialekt so bezeichnet. In Desiatis Roman erklärt es der Erzähler wie folgt.

„Zurückgekehrt, aber immer noch spatriato“, sagen sie, eine Anspielung darauf, dass ich keine Frau, keine Kinder und auch keinen festen Job habe, dass ich immer auf gepackten Koffern sitze. Ich bin ein Verlorener. Ein Unbehauster, zumindest in ihrem Weltbild. Einer meiner wenigen Freunde ist etwas umsichtiger und bezeichnet mich als scapulèta, was ein bisschen besser ist als spatrièta, man verwendet den Ausdruck für Rinder, die sich von ihrem Joch befreien.

Mario Desiati – Spatriati, S. 240

Dass der Erzähler sonderlich sesshaft wäre, sowohl in Bezug auf seinen Platz im Leben als auch seinen Platz in einem sozialen Gefüge, man könnte es wirklich nicht behaupten. Denn dieser Francesco „Frank“ Veleno, der im kleinen Ort Martina Franca im Südosten Italiens aufwächst, bekommt das Unvollständige, das Unperfekte schon qua Familienstatus mit auf den Lebensweg gegeben.

Aus Apulien nach Berlin

Ich heiße Francesco Veleno, ich bin das einzige Kind von Elisa Fortuna und Vincenzo Veleno, zweier ehemaliger Amateursportler, die sich bei einer Folge von Spiel ohne Grenzen ineinander verliebt und mich in der Hoffnung großgezogen hatten, ich würde sie eines Tages aus dem rätselhaften Unglück erlösen, mich in die Welt gesetzt zu haben.

Noch war ich weit entfernt von der Erkenntnis, dass viele Beziehungen lediglich „aus Gründen der Staatsräson“ aufrechterhalten werden, wie Claudia es einmal ausdrücken sollte. Und dank ich würde ich zudem begreifen, dass es keine noch so zwingende Staatsräson gab, die drei derart unterschiedliche Menschen dazu verpflichtete, zusammenzuleben, es sei denn, es ginge darum, eine Strafe abzusitzen.

Mario Desiati – Spatriati, S. 7

Die Tradition der unorthodoxen und dysfunktionalen Beziehung überträgt sich bei ihm auch auf sein Leben, wie Desiatis Roman zeigt. Doch Halt verheißt dem durchs Leben Taumelnden die Freundschaft mit Claudia, die schon in Schulzeiten ihr Außenseitertum verbindet. Doch könnte da noch mehr sein zwischen den beiden – oder fühlt er sich doch zu Männern hingezogen, wie es eine erste Begegnung in der Sakristei der örtlichen Kirche verheißt? Alles ist spatriati – unscharf, quecksilbrig, fluide.

Dynamische Beziehungen und unklare Verhältnisse

Anziehung und Eifersucht, Distanz und Nähe, über die ganzen Jahre seit dem ersten Kontakt, es verbindet die beiden Menschen – und auch ihre Eltern. Denn Francescos Mutter pflegt eine Affäre mit Claudias Vater, eine weitere Verbindung in dem Netz, in dem sich die beiden jungen Italiener*innen befinden.

Auch ein Wegzug Claudias aus Apulien nach Mailand, während Francesco gleichzeitig vor Ort in Apulien verharrt, löst die Bindung nicht, im Gegenteil. Später werden beide nach Berlin und durch die Nachtclubs wie das Berghain oder den KitKat-Club ziehen. Affären mit Männern und Frauen, ein mehr als nur chaotisch zu nennendes und von Mario Desiati explizit geschildertes Liebesleben, doch keine Klarheit, wie man zueinander eigentlich wirklich stehen will. Es ist alles reichlich dynamisch in ihren Leben.

Ähnlich wie Vincenzo Latronico in seinem (jüngst mit einer Nominierung beim International Booker Prize geehrten) Roman Die Perfektionen spürt auch Desiati hier in großen Passagen der Rastlosigkeit italienischer Expats in der deutschen Hauptstadt nach. Auch wenn Claudia und Francesco weit entfernt von der oberflächlichen Perfektion und Sorglosigkeit von Latronicos Figuren Anna und Tom sind, so verbindet das Dasein als Spatriati sie alle doch auch irgendwie.

Neben der Rastlosigkeit und Ratlosigkeit über die Macht der Anziehung ist Spatriati auch ein Buch, das von Literatur gesättigt ist. Besonders Claudia ist eine leidenschaftliche Leserin, die in Zitaten von Alba de Céspedes bis zu den Werken von Maria Marcone, Naomi Klein, Italo Calvino oder Banana Yashimoto viel Identifikationsräume für sich ausmacht – und Mario Desiati lässt die Leser*innen in vollen Zügen daran teilhaben.

Fazit

Spatriati erkundet eingehend das Lebensgefühl der Orientierungslosigkeit, sowohl im zwischenmenschlichen, als auch auf ganze Leben bezogen. Die sexuelle Identität ist hier genauso unscharf auszumachen wie das Verhältnis, in dem die Figuren zueinander stehen.

Übersetzt durch Martin Hallmannsecker ist Mario Desiatis Roman in Italien bereits mit dem Premio Strega ausgezeichnet worden und lässt sich nun auch im Deutschen dank der vorzüglichen italophilen Arbeit des Wagenbach-Verlags entdecken.


  • Mario Desiati – Spatriati
  • Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker
  • ISBN 978-3-8031-3368-7 (Wagenbach)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €

Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit

Um die Wahrheit ist es nicht bestellt in diesen Tagen. Fake News, alternative Fakten und eine Flut von KI generiertem Müll bedrohen die Wahrheit und machen die Verständigung auf eine gemeinsame Realität immer schwerer. In Raphaela Edelbauers Roman Die echtere Wirklichkeit probt eine Gruppe namens Aletheia den Widerstand dagegen. Wie dieser Kampf aussieht, davon erzählt die österreichische Autorin in ihrem Buch und zielt dabei mitten hinein in unsere Gegenwart.


Wir wollen keine konkreten Reformen vorschlagen, wofür wir andere, mit uns kooperierende Gruppen als zuständig erachten. Wir sind philosophische Revolutionäre, deren sogenannter Terror gewissen Denkbewegungen die Waffe an die Schläfe drückt

Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit, S. 376

So formuliert es die Vereinigung namens Aletheia in ihrem thesenstarken Manifest, das die in Wien beheimatete Gruppe gemeinsam erarbeitet hat. Mit einer gehörigen Portion Revoluzzer-Nostalgie angefertigt in einer besetzten Wohnung per Matrizendruck sind es 71 Thesen, die für die Gruppe entscheidende Bedeutung besitzen.
Man liest Heidegger, nur ist es diesmal die Musik von Depeche Mode anstelle von Ton, Steine, Scherben, die aus den Lautsprechern dröhnt, während man diskutiert und streitet. Aber nur bei Diskursgewittern soll es nicht bleiben – denn Aletheia ist mehr als ein philosophischer Lesekreis und steht damit in der Tradition des Terrors einer RAF: mithilfe eines Anschlags will mit einem sprichwörtlichen Knall auf die eigenen Thesen hinweisen und die eigene Mission zum Erfolg zu führen.

Terror und Philosophie

Raphaela Edelbauer - Die echtere Wirklichkeit (Cover)

Doch wie kam es so weit, das inmitten Wiens der bewaffnete Aufstand und Terror geprobt wird? Und was will die Gruppe eigentlich? Das erzählt nicht nur das immer wieder aufgegriffene thesenreiche Manifest, das den Leser*innen von Raphaela Edelbauers neuem Roman gleich als Einstieg um die Ohren gehauen wird. Auch die im Rollstuhl sitzende Romy alias Byproxy nimmt uns zurück an die Anfänge, als das mit Aletheia begann – beziehungsweise, als sie zur Gruppe stieß. Denn Byproxy ist der jüngste Neuzugang der Gruppe, die sich aus Paul, Bernward, Brigitte und der Chirurgin konstituiert.

Nachdem sie aus ihrer Wohngruppe hinausgeflogen ist, stößt Romy in den kalten Straßen Wiens auf die Spur der Revolutionäre – und findet Anschluss bei denen in einer besetzten Wohnung beheimateten Gruppe. Als Einstieg in die Welt der Wahrheitsverfechter muss sie durch die ganz große Denkschule durchfräsen und die Lektüre von Parmenides, Husserl oder Hegel nebst Hausarbeit erledigen, um bei Aletheia Aufnahme und Anerkennung zu finden.

Mithilfe des philosophischen Rüstzeugs soll die gehbehinderte Byproxy die Gruppe in ihrem großen Kampf unterstützen. Diesen führt die nach der griechischen Göttin für die Wahrheit benannte Gruppe für die Wahrheit. Denn die Wahrheit, sie gerät seit dem Erfolg des Poststrukturalismus zunehmend in Gefahr – und das von höchster Stelle.

Längst schon arbeiten Kräfte auf dem ganzen Kontinent gegen die Wahrheit an. Man erfindet Begriffe wie alternative Fakten und hat gar kein Interesse mehr, sich zu verständigen und eine gemeinsame Verständnisbasis auszumitteln. Die Verbindlichkeit dieser gemeinsamen, verbindenden Wahrheit ist in Gefahr – doch Aletheia will sie verteidigen.

Der Kampf für die Wahrheit

Es ist ein Kampf, der mehr mit Worten und Gedanken als mit echten Taten geführt wird. Zwar besuchen Paul und Byproxy eine Wahlveranstaltung der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs oder planen einen Anschlag auf die Kronenzeitung, die in den Augen der Gruppe eine Schleuder für Fake News darstellt (und die in der Alpenrepublik trotz ihres boulevardesken und unterkomplexen bis rassistischen Charakters eine Zielgruppe von über drei Millionen Menschen erreicht) – das Ergebnis dieser Anstrengungen bleibt aber kärglich. Eine schlampig gemauerten Mauer vor dem Universitätsbüro von Wahrheitsfeinden, sie ist alles, was bleibt. Dass dieses Bauwerk dann fast von alleine kollabiert ist sinnbildlich zu sehen.

Vieles bei Aletheia bleibt allein beim Wollen, ehe der Roman auf den letzten Seiten doch noch seinen explosiven Charakter entfaltet.

Und dann erlöste Brigitte uns aus dieser Totenstille: „Ich glaube, Byproxy hat recht. Moment mal, lasst uns nachdenken, vielleicht hat sie wirklich recht.“
„Seid ihr beide wahnsinnig geworden?“, fragte Bernward.
„Eine Geiselnahme? Glaubt ihr, wir wollen RAF spielen? Wir sind eine philosophische Gruppe.“
„Eine philosophische Terrorgruppe.“
„Eine philosophisch-aktionistische Gruppe!“, schrie Bernward.

Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit, S. 213

Theorie und Diskussion

Über weite Strecken erschöpft sich die Gruppe in der Planung und Diskussion ihrer Aktionen – und steht damit stellvertretend für die Leistungsschwäche der Linken angesichts eines globalen Rechtsrucks und der Tendenz hin zu Autoritärem. Die Protagonisten dieses Rechtsrucks von der medialen Öffentlichkeit (Kronenzeitung) über akademischen Betrieb bis hin zu den politischen Mitspielern (FPÖ) beleuchtet Edelbauer immer wieder als einen großen Komplex, gegen den Aletheia gar nicht ankommen will und kann.

Verlockender scheinen die Dialoge über Wahrheit und der Blick der Philosophen auf den kaum zu greifenden Komplex. Was ist Wahrheit, auf welche Wahrnehmung der Wahrheit kann man sich verständigen? Die echtere Wirklichkeit geizt dabei nicht mit Thesen und Denkern. Immer wieder verliert sich die Gruppe in Diskussionen zwischen Poststrukturalismus und Pläneschmieden und strapaziert damit auch die Geduld der Leser*innen. Edelbauers Faible für Philosophie und die Widersprüche des Denkens scheinen in diesem Roman wohl so deutlich auf wie nie.

Das macht ihren Roman bisweilen zu einer zähen Lektüre, die mit den 71 Thesen, Theorietexten und Dauerstreitereien Hingabe der Konsument*innen erfordert. Dafür belohnt der Roman auch etwa mit der großartigen Bierzelt-Szene, die die Agitation rechter Kräfte ohne Fakten aber mit ganz viel Gefühl dokumentiert. Auch ist ihr Roman wieder ein großes Sprachfest, da Byproxy eine sprachstarke Erzählerin mit gewähltem Vokabular ist. Man verabsentiert sich, ist spornstreichs unterwegs oder befleißigt sich verschiedenster Dinge. Auch geizt die Autorin nicht mit hinreißenden Austriazismen der Marke Spom­pa­na­deln oder Gleich spielt’s Granada.

Fazit

So ist Die echtere Wirklichkeit ein wilder philosophischer wie sprachliche Tanz, der sich auf dem schwindenden Grund einer gemeinsamen Realität unserer Gesellschaft vollzieht. Edelbauers Buch zielt mitten hinein in die Gegenwart und das brüchig gewordene Vertrauen in Staat – und die Erzählerin.
Trotz eines klaren Österreich-Fokus ist das Buch damit doch auch universell übertragbar. Wackere Leser*innen, die sich nicht von vielen Thesen und Denkgirlanden und Diskussionsdauerfeuern abschrecken lassen, die finden in Raphaela Edelbauers Buch höchst gegenwärtige Lektüre zwischen Philosophie und Bombenanschlag.


  • Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit
  • ISBN 978-3-608-96630-5 (Klett-Cotta)
  • 448 Seiten. Preis: 28,00 €

Louise Doughty – Deckname Bird

Bis nach Island schickt die Autorin Louise Doughty ihre Heldin Heather Berriman, die als Spionin für den Britischen Sicherheitsdienst unter dem Deckname Bird tätig ist. Brisante Erkenntnisse sorgen dafür, dass sie untertauchen muss. Dafür muss sie vom Radar ihrer Arbeitgeber verschwinden – und vor allem überleben.


Heather Berriman ist eine unauffällige Frau. Anfang fünfzig versieht sie ihren Dienst im Verbindungsbüro 2.6 des britischen Geheimdienstes. Zusammen mit ihrem Vorgesetzten Kieron und den Kolleg*innen ist sie mit internen Ermittlungen befasst und soll die Verlässlichkeit der Geheimdienstmitarbeitenden überprüfen. Doch schon auf den ersten Seiten tritt Heather eine schnelle, aber keineswegs kopflose Flucht an. Sie begibt sich aus dem Verbindungsbüro in Birmingham und tritt eine Flucht an, die sie über Schottland und Norwegen bis nach Island führen soll. Doch was die Hintergründe für ihre plötzliche Flucht sind, das zeigt sich erst deutlich später in Louise Doughtys Text.

Mit Deckname Bird hat die Britin einen geradezu klassischen Spionageroman geschrieben, der die Welt der Geheimdienste und vor allem die Welt des Untertauchens und spurlosen Gangs durch die Welt zelebriert. Sonderlich innovativ ist der Stoff der Agentin auf der Flucht dabei natürlich nicht.

Eine Agentin auf der Flucht

Louise Doughty - Deckname Bird (Cover)

Dass Geheimdienstmitarbeiter untertauchen müssen und sich gegen ihre früheren Arbeitgeber und deren Überwachungsapparat zur Wehr setzen müssen, ist ja essenzielles Handwerk von Agenten und wird dementsprechend immer wieder in Romanen aufgegriffen. Drehbuchautor Anthony McCarten strickte aus der Idee des Untertauchens gar einen ganzen temporeichen Thriller, in dem er die Möglichkeiten heutiger Überwachungstechnik auslotete und damit nicht gerade dazu beitrug, die Skepsis angesichts dieser Technik zu verringern. Ganz so temporeich ist Doughtys Thriller nicht, der sich lieber auf andere Aspekte des Untertauchens konzentriert.

Bei ihr hat besitzt das Untertauchen nämlich keinerlei Glamour und Nervenkitzel, sondern ist harte Arbeit. Der Weg nach Schottland ist von Entbehrungen gekennzeichnet und bringt Doughtys Agentin in Kontakt mit Obdachlosen oder übergriffigen Männern. Stets mit der Angst nach Überwachern in ihrem Nacken treibt es die Frau von Versteck zu Versteck, wobei ganz basale Probleme wie Hunger oder die Probleme bei der Toilettenbenutzung verhandelt werden. Da geraten selbst toll eingefangene Schauplätze wie ein Cottage in Schottland, die Berge in Norwegen oder die überwältigende Schönheit der Natur Islands ins Hintertreffen.

Rauer und realitätsnäher als ihre Kollegen

Wer sich Hochglanz-Action und reinen Thrill mit Finten und ausgeklügelten Manövern erhofft, der ist bei Deckname Bird fehl am Platz. Das Untertauchen hier bedeutet Angst, Einsamkeit, Unsicherheit und Entbehrung, vor allem aber immer Arbeit. Damit ist Louise Doughtys Thriller deutlich rauer und realitätsnäher als die Thrillerprodukte eines John Le Carré oder Robert Ludlum.

Die Spannung ihres Romans zieht sich aus der Frage des Überlebens einer Heldin, die als Frau mittleren Alters zudem deutlich abweicht vom üblichen Casting solcher Spionageromane. Damit gelingt Louise Doughty ein Roman, der dann eben doch herausstechen kann aus dem Vielerlei anderer Bücher mit ähnlichem Plot.

Schade ist allein die an manchen Stellen recht nachlässige Übersetzung des Buchs. So gibt es „Nordlichter“ anstelle von Polarlichtern zu bestaunen, den Finger schmückt ein „Hochzeitsring“ anstelle eines Eherings oder jemand kennt die „Raffiniertheit“ von Heathers Vater anstelle von dessen Raffinesse (obgleich beide Formulierungen im Deutschen zulässig sind, sich letztere aber zumindest für mich idiomatischer und runder liest als die etwas gequält klingende Nominalisierung, die im Buch Anwendung gefunden hat).

Fazit

Das anstrengende und entbehrungsreiche Versteckspiel einer Frau vor ihrem ehemaligen Arbeitgeber wird bei Louise Doughty zu einer spannenden Angelegenheit. die durch ihre Realitätsnähe und die für derartige Thriller ungewöhnliche Heldin besteht. Diese Heather Berriman ist eben kein James Bond und kein George Smiley, die locker flanierend durch die Handlung des Buchs schreitet. Diese Heldin kämpft, zittert, leidet. In Sachen Ungebügeltheit in puncto Plot und Personal ist das eher an Mick Herrons Slow Horses dran als an weltläufigem Agentenkitzel.

Das macht aus Deckname Bird einen zeitgenössischen und realistischen Agententhriller, der eine eigene Note in das weite Feld dieser Art von Spannungsliteratur einbringt – und der mit einer sorgfältigeren Übersetzung vielleicht noch etwas mehr geglänzt hätte.


  • Louise Doughty – Deckname Bird
  • Aus dem Englischen von Astrid Arz
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47494-5 (Suhrkamp)
  • 390 Seiten. Preis: 18,00 €

Percival Everett – Dr. No

Fort Knox, dieser Name besitzt Klang – auch Dank der Verfilmung von Ian Flemings James Bond-Roman Goldfinger. Nach Auric Goldfinger ist es in Percival Everetts Roman Dr. No nun ein absurd reicher Tech-Milliardär, der auf den Spuren von Flemings Schurke wandeln will und sich dafür der Hilfe des Mathematikers Dr. Wala Kuti versichert. Denn dieser soll ihm beim Eindringen in die nationale Schatzkammer helfen, um das Objekt der Begierde zu stehlen: das Nichts.


Inmitten von Fort Knox, abgesichert mit Technik und Bewachern, lagern die nationalen Goldreserven der USA. Diese sind es aber weniger, die den Milliardär John Sill interessieren. Vielmehr will er ran an das große – Nichts:

Meine Expertise in nichts – nichts absolut nichts, sondern eindeutig nichts – führte dazu, dass ich mit einem oder vielmehr für einen gewissen John Milton Bradley Sill arbeitete, einen Selfmade-Milliardär mit einem einzigen Ziel, einem Ziel, das manchen faszinierend, den meisten verwirrend und schräg und allen idiotisch erscheinen mochte, sich aber zumindest leicht in Worte fassen ließ. John Milton Bradley Sill strebte danach, ein Bond-Schurke zu werden, und zwar ungeachtet der Fiktionalität von James Bond. Er formulierte es folgendermaßen: „Ich möchte ein Bond-Schurke sein.“ Ganz einfach

Percival Everett – Dr. No, S. 13

Und so möchte er wie einst Auric Goldfinger hinein ins Fort Knox, wobei ihm Wala Kintu als Mathematikprofessor helfen soll. Dessen Kollegin Eigen spannt Sill ebenfalls ein und beginnt auch noch gleich eine Affäre mit ihr. Jede Menge Bond-Reminszenzen gibt es, von der Schurkenkonferenz, auf der sich Sill eines Mitarbeiters per Haifischtank erledigt bis hin zu namentlichen Anspielungen, etwa beim Charakter Auric Takitall.

Der Milliardär und das Nichts

Gewürzt wird der durchgeknallte und alles andere als stringente Plot der Handlung mit vielen Bemerkungen und Einwürfen Wala Kintus, der als Erzähler auf dem Autismus-Spektrum wandelt und als mathematisch geschulter Denker zu umständlichen Ansichten wie Verhaltensweisen und Dialogen neigt. Dabei lässt er beständig Satzbrocken wie den folgenden fallen:

Die Lüge ist das arithmetische Axion, demzufolge x für jedes x auf der Welt gleich x ist. Nur der Glaube lässt dies als unwiderlegbare Wahrheit zu. Selbst wenn ich x als das Ding definiere, das zu einer bestimmten Position in der Zeit eine bestimmte Position im Raum einnimmt. Ich war mir ziemlich sicher, dass der Mann, der vor dem Gebäude, in dem sich mein Büro befindet, eine bestimmte Position im Raum einnahm, John Sill war, und deshalb sprach ich ihn als solchen an.

Percival Everett – Dr. No, S. 52

Geheimdienstler, verschwindende Städte, ein einbeiniger Hund namens Trigo, viel Chaos und Diskussionen, das macht Dr. No aus. Trotz dem mathematischen Sachverstand Wala Kitus ist ein logischer Fortgang der Geschichte nicht immer gegeben, stattdessen beobachtet Percival Everett mit großer Freude, wie Sill seinem Vorbild der Bond-Schurken nacheifert und damit alles in Chaos stürzt. Egal ob im superschnellen U-Boot auf Wettfahrt mit den Behörden oder im Schurkenquartier, das durch eine exzellente Buchauswahl glänzt. Irgendwo zwischen Gru und Ian Fleming oszilliert dieses Buch mit Mut zum Knallchargentum.

Rassismus als werkimmanentes Thema Percival Everetts

Percival Everett - Dr. No (Cover)

Auch umkreist Dr. No wieder, wie schon seine letzten Romane Die Bäume und James das Thema des Rassismus. Großartig etwa die Szene, als Kitu bei einer Polizeikontrolle in seinem Auto angehalten wird und keine Fahrerlaubnis vorweisen kann. Aufgrund der omnipotenten Verfügungsgewalt von Sill über sämtliche Sicherheitsbehörden ist das auch eigentlich kein Problem und Kitu drohen keine Konsequenzen.

Viel interessanter dabei ist aber der Rassismus des anhaltenden Polizeibeamten, der sich immer mehr herausschält. Je verzweifelter der Mann seine behördliche Ohnmacht feststellen muss, umso hilfloser werden seine Versuche, Wala Kitu doch noch festzuhalten, bis zuletzt der einzige und stärkste Grund für die gewollte Festnahme in seinem Sprechen offenbar wird: Wala Kitu ist schwarz und als solcher per se verdächtig.

Hier scheint Everetts Talent zu Komik und gleichzeitiger Gesellschaftsanalyse voll durch. Ingesamt aber ist Dr. No ein Buch, das mit seinem anstrengenden Erzähler und der immanenten Überdrehtheit herausfordert. Natürlich fängt Percival Everett die infolge der Autismus-Diagnose leicht verschobene Wirklichkeitswahrnehmung Wala Kitus bravourös ein und mit dem ins Absurde übersteigerten Techmilliardär auf Schurkenmission knüpft Dr. No auch an die Allmachtsfantasien der im Silicon Valley beheimateten Tech-Bro-Elite an.
Tatsächlich lädt das Buch in seiner ganzen Durchgeknalltheit wunderbar dazu ein, viele Interpretationen zu bemühen und eigene Lesarten anzustrengen. Die Literaturkritik wird dies wieder mit Vergnügen tun – aber dennoch bin ich deutlich weniger begeistert.

Fazit

Für mich ist dieses Buch wieder einmal etwas zu viel des Guten. Allmählich kristallisiert sich im Oeuvre Percival Everetts ein regelmäßiger Amplitudenschlag heraus. Auf ein grandioses Buch folgt immer wieder eine zu überdrehte Satire, die mich nicht überzeugen kann. Das war mit Die Bäume so, das auf das hervorragende Erschütterung folgte – und das ist jetzt mit Dr. No so, das zumindest hierzulande auf das völlig zurecht mit dem Pulitzer-Preis gekrönte Rassismusdrama James folgte (im Original erschien Dr. No bereits 2022, also vor James).

Insofern für mich eher ein No für diesen Tech-Milliardär und seinen mathematischen Adlatus.


  • Percival Everett – Dr. No
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-28417-3 (Hanser)
  • 319 Seiten. Preis: 26,00 €

Gabrielle Filteau-Chiba – Die Ungezähmten

Was ist die schönste Natur wert, wenn doch der Mensch in ihr umhergeht und die Grundlagen der Natur und ihre Intaktheit bedroht? Das beschäftigt die kanadische Autorin Gabrielle Filteau-Chiba in ihrem Roman Die Ungezähmten, der nun in der Übersetzung von Katrin Segerer auf Deutsch erstmals vorliegt. Darin erzählt sie von einer Wildhüterin, die das Raubtier Mensch auf ganz eigene Art bekämpft.


Kamouraska, eine in der Provinz Québec gelegene Gemeinde. Hier versieht die Wildhüterin Raphaëlle Robichaud ihren Dienst in den Wäldern zwischen Flüssen, tiefen Wäldern und Ahornplantagen. Einsam lebt sie in einem Trailer und verzweifelt an der Aufgabe, der sie sich gegenübersieht.

Wie soll man die Wälder und die Natur beschützen, wenn doch Wilderer nahezu ungestört die Tierpopulation dezimieren, Konzerne Raubbau an der Natur betreiben und die Politik sich nicht wirklich für die Fragilität der Natur interessiert und lieber eine Chimäre der Wildnis Kanadas feiert? Raphaëlle zweifelt so manches Mal an der Sinnhaftigkeit ihres Tuns, sieht sie sich doch einer Übermacht feindlicher Kräfte gegenüber. Als dann auch noch ihre frisch bei ihr im Trailer eingezogene Hündin Coyote fast in einer der Fallen eines besonders brutalen Wilderers landet, ist für die Wildhüterin endgültig das Maß voll.

Wer sind wir, wenn sich uns angesichts der alltäglichen Grausamkeiten nicht das Fell sträubt? Nichts weiter als selbst nur Tiere, Bestien ohne Herz und Verstand.

Und ich, die Wildhüterin, muss mit meinem orwellschen Titel leben und die Jagd. und Fallenindustrie behüten, muss maßlose Mörder laufen lassen, die unsere Wälder entvölkern. Als hätten die Pelzraubtiere nicht ihren Platz in der Nahrungskette. Heute Abend werde ich viel Wasser in meinen Wein gießen müssen.

Gabrielle Filteau-Chiba – Die Ungezähmten, S. 86

Sie bläst zum Kampf gegen die Wilderer – und bekommt Unterstützung von ungeahnter Seite. Bei ihren Recherchen zur Identität des gesuchten Wilderers stößt sie per Zufall auf das Tagebuch einer anderen Frau, in der Raphaëlle eine Seelenverwandte erkennt. So sucht sie nun nicht nur nach dem Wilderer, sondern auch jener Anouk, die in dem Tagebuch ihre Seele offenbarte und die auf Raphaëlle eine große Anziehung ausübt.

Reich an Themen

Gabrielle Filteau-Chiba - Die Ungezähmten (Cover)

Die Ungezähmten von Gabrielle Filteau-Chiba vereint einige Themen. Zuvorderst ist das Buch eine Hymne an die Schönheit der Natur dort im Grenzland zwischen Kanada und den USA. Ähnlich wie Tammy Armstrong zuletzt gelingt auch der französischsprachigen Autorin in ihrem Buch eine kraftvolle Hommage an Wald und Wild dort in Nordamerika – und eine Beschreibung der immensen Zerbrechlichkeit, die der Natur trotz ihrer scheinbaren Robustheit innewohnt.

Dann ist ihr Buch auch eine Rachegeschichte, die Erzählung einer Frau, die gegen männliche Dominanz, Selbstherrlichkeit und Brutalität aufbegehrt. Nicht umsonst lauten Titelüberschrift schon einmal „Privatjagd“, „Vendetta“ oder „Zahn um Zahn“. Die schon fast archaische Rache am Wilderer, der in Raphaëlles privateste Bereiche eingedrungen ist, kontrastiert Gabrielle Filteau-Chiba mit einer sanften queeren Liebesgeschichte, die sich zwischen der Wildhüterin und der Tagebuchschreiberin Anouk anbahnt und die damit einen Gegenentwurf zur männlichen Welt voller Gewalt darstellt.

Ergänzt wird das Ganze durch Illustrationen der Autorin, die sich immer wieder im Text finden, neben Tagebucheinträge und dem Aufglimmen von Poesie, die manchmal sogar an der Konkreten Poesie geschult ist.

Eine stilistische Mischung mit mangelhaft motivierter Erzählperspektive

Das ist eine reizvolle Mischung, bei der nur die Wahl der Perspektive nicht ganz aufgeht. So ist Gabrielle Filteau-Chiba mit der Erzähltechnik der Ich-Erzählerin ganz nah dran an ihrer Figur Raphaëlle – will dann neben der Einführung Anouks mithilfe deren Tagebuchs auch noch vom Wilderer erzählen, obwohl ja eigentlich Raphaëlles Blick auf die Welt der zentrale und bestimmende ist.

Das klappt nicht so ganz, da Filteau-Chiba diese Perspektive durch eine Mischung aus realistisch geschilderten Traumpassagen und der konkreten Erzählung des Schicksal des Wilderers in den Erzählfluss holen will. Dabei blieben zumindest bei mir Fragen ob der Verlässlichkeit dieser Perspektive.
Woher hat die Wildhüterin ihr Wissen über das Schicksal des Wilderers, wenn sie doch zugleich weit weg von diesem flieht? Was ist Vorstellung, was Traum, was Realität? Dieses Schwanken der Verlässlichkeit mag trotz aller erzählerischer Tricks wie etwa der klassischen Mauerschau in Form eines Briefs schlussendlich nicht so ganz funktionieren und hätte vielleicht noch einer anderen erzählerischen Lösung als der hier angebotenen bedurft.

Fazit

Von solchen Einwänden abgesehen ist Die Ungezähmten ein krafttvolles Buch, das Natur und das Eintreten für deren Schutz feiert. Mit der Wildhüterin Raphaëlle Robichaud gelingt Gabrielle Filteau-Chiba ein widerständiger und eigensinniger Charakter, dem man durch die Wälder und Pfade der kanadischen Natur gerne folgt und mit der man mitbangt, mag man diese Art von Rache im Roman auch nicht gutheißen. Unterhaltsam und mitreißend ist dieser Natur Noir-Roman aber auf alle Fälle.


  • Gabrielle Filteau-Chiba – Die Ungezähmten
  • Aus dem Französischen von Katrin Segerer
  • ISBN 978-3-423-28515-5 (dtv)
  • 336 Seiten. Preis: 24,00 €