Mit Spanien als Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse gibt es ein literarisch vielfältiges Land zu entdecken, dessen Autorinnen und Autoren in loser Folge hier im Mittelpunkt stehen sollen. Zwei Beiträge zu Spanien erlesen gab es bereits. Nun ist mit Elena Medel eine junge Stimme zu entdecken, der mit ihrem Prosa-Debüt Die Wunder laut Suhrkamp-Verlag ein literarischer Sensationserfolg gelang, oder wie es die Zeitung El País formulierte: „Die beste Lyrikerin dieses Landes hat sich mit nur einem Buch in die beste Romanschriftstellerin dieses Landes verwandelt.“
Nun habe ich natürlich nicht die gesamte spanische Literaturszene gelesen und für einen Abgleich parat. Aber auch mit den bislang hier auf dem Blog vorgestellten Werken als Referenzgröße würde ich diese etwas steile These doch bezweifeln.
Die Wunder erzählt von zwei Frauen, deren Leben abwechselnd in Schlaglichtern vorgestellt werden. Da ist María, die als Alleinerziehende ihre Tochter Carmen in der Obhut ihres Bruders lässt und die neben ihrem Brotjob auch am politischen Kampf Interesse gefunden hat. Sie motiviert ihre Bekannten zu Protest und versucht eine Verbesserung ihrer prekären Stellung als Frau in der Gesellschaft herbeizuführen.
Die andere Frau ist Alicia, die Enkelin von María. Sie laboriert am Schmerz des Verlusts ihres Vaters. Dieser, dem Anschein nach ein erfolgreicher Geschäftsmann und Gastronom, begann von Schulden bedroht, Selbstmord. Diese Erfahrung des Verlusts prägt Alicias Leben seit Kindertagen und setzt sich in der Schule mit Mobbing und Ausgrenzung fort. Beide Frauen kämpfen mit der von der Gesellschaft ihnen zugedachten Rollen, müssen um ihr finanzielles Auskommen kämpfen und werden sich erst sehr spät im Buch überhaupt einmal wirklich begegnen.
Die Stellung der Frau in der spanischen Gesellschaft
Die Wunder ist ein Buch, das seinen Finger in die Wunde legt und von der schwierigen Stellung der Frau in der spanischen Gesellschaft erzählt. Im Doppelporträt der beiden Frauen treten die Strukturen deutlich zutage, die zu prekären Lebensverhältnissen führen und ein Vorankommen der Frau verhindern, sei es Ende der 70er Jahre oder in der Gegenwart. Auch die Großstadt Madrid, in die beide Frauen unabhängig voneinander kommen, ist dabei nicht viel fortschrittlicher als die ländliche Umgebung, der sie eigentlich entfliehen wollen. Armut, Geldmangel und fatale Abhängigkeiten von Männern lauern überall.
Leider ist Die Wunder aber auch ein Buch, das sichtlich schwer am eigenen Gewicht und der Bedeutung trägt. Die Absätze stehen in monolithischen Blöcke, der Ernst und die Gravitas sind jeder Seite eingeschrieben. Dabei entwickeln die beiden Hauptfiguren zumindest für mein Empfinden auch kein wirklich spannendes Eigenleben, stattdessen blieb ich den Medels Frauen gegenüber merkwürdig distanziert und konnte keinerlei Bindung zu ihrer Lebenswelt und Problem aufbringen, auch wenn ich mich wirklich bemüht habe.
Die Sprache (Übersetzung aus dem Spanischen von Susanne Lange) ist recht uniform und austauschbar, die Dialoge oftmals von einem politischen Programm denn der glaubhaften Artikulation von Befindlichkeiten oder Eindrücken geprägt. Die schlaglichtartige Erzählweise, die sich auf Schlüsselmomente und -erlebnisse im Leben der Figuren konzentriert, konnte mich trotz einzelner starker Episoden (etwa die Verzweiflung Marias nach dem Auffinden der toten Seniorin, die ihr zur Pflege anvertraut war oder die Hängung Alicias durch eine Gruppe von Schüler*innen während der Schulzeit) über die ganze Länge des Buchs ebenfalls nicht wirklich mitreißen.
Fazit
In Bezug auf Elena Medels Buch lässt sich für mich einmal mehr die großartige Sentenz Goethes aus dem Schauspiel Torquato Tasso: Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Hier tritt mir auch das Anliegen der Autorin, vom Kampf zwei Frauen in zwei Generationen gegen die herrschenden patriarchal geprägten Gesellschaftsstrukturen etwas zu sehr in den Vordergrund und drängt Figuren, Prosa, Sprache und den Plot zu sehr in den Hintergrund, als dass sich für mich Lesefreude eingestellt hätte.
Von einem aktivistischen Standpunkt aus ist Die Wunder sicher spannend zu lesen, für mich als Roman ist das Ganze leider nicht wirklich überzeugend, auch wenn ich mit dieser Meinung sicherlich in der Minderheit bin, wenn ich die begeisterten Stimmen des Guardian, von Hilary Mantel bis zur Buchhändlerin Maria-Christina Piwowarski nachverfolge.
Auch die Bloggerinnen Petra Reich und Sandra Falke sind angetan, ich selbst stehe eher etwas ratlos wie die Rezensentin Sylvia Staude in Frankfurter Rundschau vor dem Buch. Aber so ist es manchmal im Leben, ich bleibe dann lieber bei Sara Mesa und Jose Ovejero und freue mich auf den nächsten Titel bei Spanien erlesen, der mir persönlich auch wieder mehr zusagt.
Mit ihren beiden bislang erschienen Romanen Altes Land und Mittagsstunde hat sich Dörte Hansen weit nach vorne in die Riege wichtiger deutscher Erzählerinnen katapultiert. Glänzend ihre Erzählweise zwischen Anspruch und Unterhaltung, mit der sie die Bestsellerlisten erklommen hat. Innerhalb kurzer Zeit wurden die beiden bislang erschienen Werke auch als Serie fürs Fernsehen (Altes Land) und als Verfilmung fürs Kino (Mittagsstunde) adaptiert. Nun liegt mit Zur See der dritte Roman der 1964 geborenen Autorin vor, der erwartungsgemäß aus dem Stand die Bestsellerlisten erklommen hat. Auch hier bleibt sie ihren Themen des norddeutschen Settings und der Beschreibung lebensnaher Charaktere treu. Und hat mich dennoch etwas enttäuscht.
Eine nicht näher benannte Nordseeinsel ist der Schauplatz von Dörte Hansens neuem Buch. Hier lebt die Familie Sander in dem wohl schönsten Haus der Insel, reetgedecktes Dach und Delfter Kacheln an den Wänden inklusive. Doch nicht nur der Knochenzaun, der das Haus umgibt, ist morsch. Auch die Familie im Inneren des Hauses leidet unter Auflösungserscheinungen.
So ist Jens Sander, der Ehemann von Hanne Sander und Vater der drei Kinder, schon vor längerem ausgezogen und lebt auf der kleinen Nordseeinsel Driftland als Vogelwart. Hanne hält derweil das Haus sauber und ist vor allem mit der Betreuung ihres Sohnes Ryckmer beschäftigt.
Dieser war einst Kapitän auf einem Nordseeschiff, doch seine Erfahrungen im Sturm haben ihn zum Alkoholiker gemacht, dem von seiner Mutter täglich sechs Flaschen Bier zugestanden werden, keine mehr und keine weniger. Nächtens erbricht er sich nach Exzessen schon einmal in die Rosen und unterhält an guten Tagen die Touristen, indem er die Rolle als Seemann gibt. Dabei hat er sein Kapitänspatent schon lange verloren.
Seine Schwester Eske pflegt im lokalen Altersheim die Senioren, Henrik ist als jünster ein arrivierter Künstler, der mit Treibgut Skulpturen formt, die sich die reichen Inseltouristen gerne in ihre luxuriösen Häuser stellen.
Während die Mitglieder der Familie Sander alle ihre Leben leben, kämpft der Inselpfarrer Matthias Lehmann derweil mit einer handfesten Glaubenskrise und seiner Beziehung zu seiner Frau und Töchter. Als dann ein Wal an den Strand der kleinen und so pittoresken Insel angespült wird, kommt einiges in Bewegung, auch bei Hanne und Jens.
Die Prägung der Heimat
Zur See ist ein Roman, der von der Prägung der Heimat erzählt, aber auch von den Gefahren, die ihr drohen. So ist Hansens nicht näher benanntes Eiland wohl auch mit einigen Parallelen zur Insel Sylt zu sehen, bei der die reichen Touristen und die dauerhafte touristische Ausbeutung längst alles Einheimische, Autochthone verdrängt hat und zur Kulisse werden hat lassen.
Dörte Hansen zeigt (ähnlich wie zuletzt auch Susanne Mathiessen) , wie die monetären Anreize durch die zahlungskräftigen Touristen langsam alles Einheimische Verdrängen, wie die Fischkutter und Kutschfahrten über die Insel längst zum Folklorekitsch geworden sind, die zwar ein einträgliches Auskommen bescheren, aber keinen Sinn. Sogar das letzte Inselwäldchen wurde hier verkauft – und beständig klopfen die Immobilienmakler an Hanne Sanders Tür und lassen ihren Briefkasten von Kaufangeboten überquellen.
Scharf auch ihre Blick auf die Rituale auf einer solchen Insel, etwa der Alkoholkonsum, der schon den jungen Konfirmanden eingeschrieben wird. Auch der Tourismus, der längst vom familiären Miteinander der Gästezimmer zu einer anonymen Beherbung anspruchsvoller Fremder geworden ist. Doch neben aller Kritik ist Zur See auch ein beobachtungsscharfes Buch, das dem Inselgeist nachspürt und dem, was im Verschwinden begriffen ist.
Die Kräfte der Insel
Es gibt auf einer Insel eigene Naturgesetze, eine andere Art der Schwerkraft und der Anziehung vielleicht. Gezeitenströme, die noch nicht verstanden werden. Einen unerforschten Sog, dem Heimweh ähnlicher, aber stärker.
Ein Mensch, der hier geboren ist, kehrt irgendwann zurück, lebendig oder tot, egal, wie weit er segelt und wie lange er verschwunden bleibt, so lautet ein Gesetz der Insel.
Und für die meisten gilt es noch. Nur wenn sie jung sind, wagen sie den Sprung aufs Festland. Manche bleiben dann und leben mit dem Heimweh wie mit einem Rheuma, das in Schüben kommt und geht.
Dörte Hansen – Zur See, S. 18 f.
Schade nur, dass Dörte Hansen allzu deutlich das Klischee der menschenscheuen und einsilbigen Norddeutschen auf die Spitze treiben muss. Jeder hier lebt für sich, stirbt für sich und lässt andere kaum in die Seele blicken. Die Nachbarin mit dem ausgestopften Dackel, die sich als ernährungstechnischer Messie entpuppt. Jens Sander auf seiner Vogelbeobachtungsstation. Eske Sander nacht allein im Altersheim. Hanne in ihrem viel zu großen Haus. Jens in seinem Atelier. Alle leben sie nebeneinander her, statt miteinander.
Dieser Roman kommt mir vor wie ein Schachbrett, auf dem Dörte Hansen filigran ihre Figuren aus einem Stück holz drechselt und die sorgsam ausgestalteten Figuren in Position stellt, aber nicht mit ihnen spielt, sondern sich in der Beobachtung des Spielbrett ergeht.
Die Figuren interargieren so rein gar nicht miteinander. Jeder lebt für sich, denkt und handelt alleine, niemand reagiert auf das Schicksal der anderen oder unternimmt einen Versuch der Gestaltung des eigenen oder fremden Schicksals. Das mag natürlich dem Klischee der Norddeutschen entsprechen, für einen gelungenen Roman war es mir aber deutlich zu wenig. Da kann selbst der angeschwemmte Wal nicht mehr für Abhilfe schaffen, der ebenso verloren am Strand liegt, wie es die übrigen Figuren in diesem Buch tun.
Fazit
Mit Zur See bleibt sich Dörte Hansen treu und erzählt abermals von einer Welt, die im Verschwinden inbegriffen ist. Statt auf dem norddeutschen Land ist es hier nun eben eine Insel, deren Rituale und Bewohner*innen sie höchst plastisch mit einem tollen Sprachzugriff schildert. Vom sich wandelnden Tourismus, der Kulisse und der Folklore, die man den Fremden vorgaukelt und von der Einsamkeit, die allen unglücklichen Familien auf ihre Art und Weise eingeschrieben ist, erzählt die Bestsellerautorin und wird damit viele Leser*innen wieder glücklich machen.
Und doch bleibt bei mir das Gefühl von verschenktem Potenzial, interagiert doch keine ihrer sorgsam entworfenen Figuren miteinander, leben alle für sich und und sind auf ihre Art und Weise unglücklich. Es ist ein Buch, das viel beschreibt und bei dem ich mir ein wenig mehr zwischenmenschliche Handlung gewünscht hätte, selbst wenn das dem Klischee der menschenscheuen und wortkargen Norddeutschen entsprechen mag.
In diesen Tagen, in denen die Buchmesse in Frankfurt wieder ihre Tore öffnet, ist es auf meinem Literaturblog soweit: mein 1000. Beitrag erscheint. Sagt zumindest meine Blogstatistik und die muss es wissen. Da ich in ein paar Monaten sowieso den zehnten Geburtstag dieses kleinen Blogs hier begehe, hielt ich es für angezeigt, nach all der Zeit doch einmal das bisher Erreichte zu reflektieren und ein paar Gedanken rund um mein Tun zu sammeln.
Begünstigt wurde dies durch eine Veranstaltung, zu der ich jüngst in München im Hause der Monacensia eingeladen war. Unter dem Titel „Feuilleton vs. Blog – Buchkritik im Wandel“ wollten wir über die mögliche Zukunft von Literaturkritik sprechen – und damit verbunden die Bedeutung von Blogs und die Motivation für die eigene Arbeit.
Grund genug, das Schreiben auf dem Blog zu beleuchten und zu hinterfragen – und damit auch die Kernfrage, warum ich überhaupt (noch) blogge, sodass 1000. Beiträge zusammengekommen sind.
Beginn während meines Studiums 2013
Ist das Lesen von Büchern schon eine einsame Angelegenheit, so ist es das Sprechen darüber noch viel mehr, besonders im ländlichen Raum Bayerns. Kaum jemand mit dem gleichen Lesegeschmack, Lesungen oder gar Literaturfestivals in der näheren Umgebung. Und dazu die eigene Hybris, selbst über Bücher sprechen und schreiben zu wollen, wie ich es mir vom Feuilleton abgeschaut zu haben meinte.
Als Ergebnis dieser Überlegungen startete ich bar nennenswerter Kenntnisse von Programmierung oder dem Literaturmarkt den Blog unter dem Namen Buch-Haltung, der sich seitdem immer weiterentwickelt hat. Früher noch mit einem verspielten Motiv auf einer einfachen Google-Anwendung namens Blogspot, wagte ich aus dem Bedürfnis nach einer professionelleren Gestaltung heraus vor einigen Jahren den Umstieg auf WordPress, das seitdem zum Zuhause geworden ist.
Screenshot des Blogs aus frühen Jahren
In dem Maße, in dem sich mein Lesehorizont erweiterte, wuchs auf der Umfang der Besprechungen, die heute zumeist über 600 Wörter umfassen. Die Optik und die Qualität der Texte verbesserten sich (zumindest nach meinem Dafürhalten) und die Referenzrahmen des Besprochenen wuchsen. Lese ich mir früher publizierte Besprechungen durch, so lassen mich viele davon heute manchmal doch arg die Stirn runzeln. Die Urteile in der Retrospektive nicht immer nachvollziehbar und die Sprache bisweilen recht rumpelig und unbeholfen, so mein Eindruck der eigenen Kritiken aus den Anfangsjahren.
Und dennoch haben sie nach wie vor ihre Daseinsberechtigung im Blog-Archiv, zeigen sie doch, wie sich meine Lesesozialisation seit damals gewandelt hat, als ich als Student Anfang 20 den Blog begann. Heute ist mein literarisches Durchhaltevermögen deutlich stärker, sodass ich inzwischen auch schon einmal zu einem tausendseitigen Klassiker von Thomas Manns greife oder aber ob der vielfachen Abgegriffenheit von Themen und Motiven weniger Krimis lese und bespreche als einst. All das sind spannende Entwicklungen, die der Blog abbildet und die nach wie vor sichtbar sein dürfen.
Bleibt nur die große Frage bestehen, warum das alles? Und damit sind wir bei der Kernfrage dieses Beitrags angekommen, der mich schon seit gewisser Zeit umtreibt. Denn die Arbeit, die hinter diesem Blog steckt, ist immens, versucht man all die Arbeit hinter den Kulissen einmal aufzulisten.
Viel Arbeit, wenig Ertrag
Programmvorschauen sichten, mit den Presseabteilungen kommunizieren, die Bücher einplanen, Beiträge schreiben, korrigieren, die Grafiken erstellen und einsetzen, die Beträge an die verschiedenen Social Media-Kanäle einbinden, dort noch einmal gesondert mit Posts auf die neuen Beiträge hinweisen, den Newsletter pflegen, die Domain hosten und bezahlen, Lesungen besuchen, auf eigene Kosten Buchmessen zu besuchen, an abendlichen Buchpräsentationen teilnehmen – und dann fehlt noch der zeitintensivste Posten, nämlich das Lesen und Überdenken der Bücher. Das alles passiert hier mit einer Frequenz von ungefähr zehn Besprechungen im Monat.
Keine Frage, all das macht viel Arbeit, die am Tag einige Stunden verschlingt, und die ich unbezahlt neben meinem Vollzeit-Job erbringe. Ertrag wirft der Blog trotz über 700 Abonnent*innen nicht ab, sodass sich wie bei so vielen anderen Bloggenden auch bei mir die frühere Hoffnung auf eine monetären Vergütung nicht erfüllte.
Reich wird man mit dem Blog schon einmal nicht – eher ist es ein deutliches Minusgeschäft mit vielen dutzenden Stunden an Arbeit im Monat. Bleibt noch der zweite Wunsch, den ich damals neben der Hoffnung auf Buchkritik als auskömmliches Hobby hegte. Es war der Wunsch nach Sichtbarkeit im literarischen Raum, nach potentiellen Lesungsmoderationen oder Jury-Tätigkeiten durch das Bloggen. Auch diese Hoffnungen blieben in den vergangenen Jahren so gut wie unerfüllt und kamen erst in jüngster Zeit etwas in Schwung.
Man mag ein solches Begehren angesichts eines einfachen Lesers vermessen finden, habe ich doch weder Germanistik noch Literaturwissenschaft studiert und mich ungefragt erdreistet, meine Privatmeinung zu Büchern zu publizieren. All das mag zutreffen. Aber die Zeit, in der die Wünsche entstanden, war die „goldene“ Zeit der Blogs, in der alles möglich schien und sich Blogs in der Wahrnehmung anschickten, dem Feuilleton fast ebenbürtig zu werden. Deshalb an dieser Stelle ein ganz kleiner Blick zurück.
Tempi passati
In dieser Blütezeit der Blogs war die Szene unglaublich vielfältig und bestach durch eine Diversität in Ton und Thematik, wie ich sie heute etwas vermisse. Tilmann Winterling schrieb ebenso witzige wie zugängliche Beiträge auf 54 Books, Birgit Böllinger widmete sich in Sätze und Schätze der Weimarer Republik und neuen Sachlichkeit, Jochen Kienbaum trug lange Beiträge zu Klassikern und anspruchsvollen Titeln bei und wollte Lust auf Lesen schüren, Tobias Nazemi schrieb von sich und seinen Lektüreeindrücken im Buchrevier. Sogar in die Jury des Deutschen Buchpreises schaffte es ein Blogger, nämlich Uwe Kalkowski, der Kaffeehaussitzer.
Und heute? Tempi passati. Immer wieder muss ich Blogs von meiner Blogroll nehmen, manche haben sich erheblich gewandelt, andere sind seit Jahren nicht mehr gepflegt oder ganz verstummt. Viele Bloggende haben den Absprung in die Buchbranche gewagt oder, das Schreiben über Bücher ganz aufgegeben. Oder sie sind zu anderen, einfacher zu bespielenden Medien wie etwa Instagram gewechselt.
So der subjektiver Eindruck meinerseits bislang, der nun durch die statistische Auswertung von Tobias Zeising untermauert wurde. Alleine in seinem Untersuchungszeitraum der letzten drei Jahre stellte er fest, dass fast die Hälfte der im Jahr 2019 aktiven Blogs und damit über 400 Stück verschwunden sind. Zwar herrscht immer noch Fluktuation, neue Blogs kommen hinzu, die an die Stelle von alten, verwaisten Blogs treten. Doch der Boom dieser Form der Auseinandersetzung mit Büchern ist allerdings schon lange vorbei, das zeigen die Zahlen sehr deutlich. Die Buchblogszene schrumpft.
Nur ein paar wackere Schreiber*innen aus den Anfangstagen wie Constanze Matthes, Julia Schmitz, Katharina Herrmann oder ebenjener schon erwähnte Uwe Kalkowski bloggen nach wie vor und bereichern die rückläufige Szene, aus der eben kein zweites Feuilleton im Internet geworden ist, auch wenn diese Fehlannahme viele der sich ewig perpetuierenden Debatten prägte.
Und dann sind da auch noch einige andere Erkenntnisse, die auch schon andere Bloggende artikuliert haben, und die sich auch mit meiner Wahrnehmung decken. Rezensionen auf dem Blog interessieren kaum. Vielmehr sind es alle anderen Beiträge von Verlagsvorschauen bis zu Buchpreis-Tipps, die nachgefragt sind. Kleine Verlage und unbekannte Namen ziehen nicht wirklich, vielmehr steigt das Interesse mit dem Grad der Popularität und der Bestseller-Nähe der jeweils besprochenen Titel. Das Versprechung auf Vernetzung der Blogs und der Literaturkritik untereinander ist ausgeblieben, vielmehr werkelt jeder vor sich hin, ohne dass sich nennenswerte Debatten im Umfeld von Blogs entspinnen.
Verpasste Chancen
Auch die Verlage selbst tragen in meinen Augen etwas zu dieser Entwicklung bei, gäbe es doch von Seiten der Bloggerinnen und Blogger viel qualitativ hochwertige Beiträge, die man bequem verlinken könnte oder mit wenig Aufwand sich gegenseitig zu viel Sichtbarkeit verhelfen könnte. Aber zumindest in meiner Wahrnehmung bleiben Beleglinks so gut wie unbeachtet, werden einzelne Kritik ab und an vielleicht noch unter der Rubrik der Pressestimmen abgelegt wenn eine Rückmeldung nicht komplett ausbleibt.
Gefühlt herrscht wenig Wertschätzung. Viele Verlage agieren im Netz noch immer, als sei es Neuland für sie. Blogger*innen sind in dieser Welt oft wenig mehr als ein verlängerter Arm des Marketings, die mit ihrer Reichweite zur Bewerbung des eigenen Verlagsprogramms gut sind, recht viel mehr aber nicht.
Natürlich gibt es Ausnahmen, leisten viele Mitarbeitende in den Verlagen tolle Arbeit und bemühen sich engagiert um Aktionen, Kontakt auf Augenhöhe und lassen sich spannende Aktionen zur Darstellung der eigenen Häuser einfallen. Die Presseabteilungen sind oftmals unterbesetzt, nicht gut bezahlt und die Interaktion mit digitalen Rezensent*innen macht durchaus Arbeit. Aber diese Arbeit würde sich wirklich lohnen, wird doch auf diesem Feld noch immer erstaunlich viel Potential verschenkt. Vielen Verlagen scheint es auch zu genügen, mit ein paar Bildkacheln das jeweilige Programm zu präsentieren um in den Netzwerken irgendwie präsent zu sein.
Aber ich möchte eine vielfältigere Welt, in der unterschiedliche Stimmen und Blicke zu Büchern, Programmen und Schreibenden ihren Platz in der digitalen Welt haben – und weit darüber hinaus. Eine Welt, in der Verlage mithilfe von Außenstehenden neue Blickwinkel auf Bücher ermöglichen und schreibende Stimmen aus der Blogwelt aufgreifen und als Chance begreifen. Souverän genug sein, Kritik an Büchern zuzulassen, Debatten ermöglichen, begleiten und Schreibende wertschätzen, das würde ich mir von den Verlagen wünschen, sind Blogger*innen doch gerade für Genretitel und kleinere Namen abseits der Bestsellerlisten ein wichtiger Faktor, da sie Büchern Sichtbarkeit verschaffen, die sonst vielleicht komplett untergingen.
Dass das Ganze nicht in Bauchpinselei enden sollte, versteht sich von selbst. Das Zusammenwirken von Autor*innen, Verlagen und Blogger*innen sollte zum gegenseitigen Ansporn für bessere und vielfältigere Arbeit werden. Wenn diese Arbeit herausfordert, allen Beteiligten neue Aspekte eröffnet und die ganze Breite der digitalen Beschäftigungsformen mit Literatur abbildet, dann wäre schon viel gewonnen. Das wäre mein hehrer, vielleicht auch naiver Wunsch zum Blogjubiläum.
Es geht weiter
Für das Durchhalten dieser möglicherweisen latent pessimistisch-larmoyanten Suada, und meinen potentiell völlig verzerrten Blick auf die kontemporäre Welt der Literaturblogs bis hierhin möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. So soll dieser Text auch nicht enden, denn es gibt es ja auch Gründe, warum ich diesen Blog weiterführe und trotz der enttäuschten Hoffnungen auch ins zehnte Jahre seines Bestehens gehe.
Denn ich glaube, dass Blogs nach wie vor eine große Bedeutung zukommt, gerade in diesen Zeiten. Nennenswerte Buchkritik im Fernsehen findet abseits von Nischen nicht statt, die Zeitungsauflagen und damit auch der Platz für das Feuilleton schrumpft. Im Formatradio hat abseits von Kulturformaten und-sendern das gedruckte Wort kaum Platz. So ist etwa der Kulturteil von Spiegel Online ein Schatten seiner selbst. Wenn dann hier alle paar Wochen einmal ein Buch besprochen wird, dann verwechselt der Autor auch noch den Buchautor mit dessen Bruder. Das Bild, dass die Literaturkritik in der aktuellen medialen Landschaft abgibt, es ist mehr als bedauerlich.
Dabei ist es wichtig, für das Lesen zu werben, indem man die Fahnen der literarischen Vielfalt hochhält und versucht, die Breite der Literaturproduktion abzubilden, auch wenn meine Mittel und Möglichkeiten natürlich bescheiden sind.
Nichts langweiliger als ein Feuilleton, das von der Zeit bis hin zur FAZ in den Anfangstagen dieses Jahres unisono die Romane von Hanya Yanagihara und Michel Houellebecq bespricht und damit den Begriff der Bibliodiversität ad absurdum führt. Solche besprechungsmäßigen Monokulturen versuche ich zu vermeiden. Nicht umsonst ist zu keinem der beiden Titeln auch noch an dieser Stelle eine Besprechung erfolgt. Generell gilt für mich nach wie vor das Credo, dass man Bestsellertitel hier eher selten findet (obgleich die kommende Besprechung hier eine Ausnahme macht).
Ich mag es, meinen Platz für neue Stimmen und unbekannten Titel zu nutzen und als Entdecker von Lesenswertem zu fungieren.
Austausch, der bereichert
Und nicht zuletzt sind es die vereinzelt eintreffenden Rückmeldungen zu vorgestellten Büchern oder Literaturempfehlungen, die mich weiterhin an mein eigenes Tun glauben lassen. Nette Mails, die sich für Leseanregungen bedanken oder die ganz gegensätzlicher Meinung zu Titeln mitteilen. Bilder aus Urlauben, bei denen es ein hier vorgestelltes Buch in den Urlaubskoffer geschafft hat, Gespräche auf Bühnen oder im Radio über besondere Bücher, all das lässt die viele Arbeit sinnvoll erscheinen und bestärkt mich in meinem Schreiben, das die gute Literatur in den Mittelpunkt rücken will.
Immer wieder ergeben sich inspirierende Begegnungen oder ein Austausch, der mich bereichert, meinen Blick auf die Welt der Literatur und damit auch meinen Blick auf die Welt selbst weitet. Das möchte ich keinesfalls missen.
Und deshalb wird die Arbeit hier definitiv weitergehen. Die Vielfalt der literarischen Szene verdient es. Ob es nun weitere zehn Jahre mit diesem zeitintensiven und aufwändigen Hobby werden, das wage ich zu bezweifeln. Aber was ich weiß, dass es nach diesem reichlich nostalgischen, möglicherweise arg larmoyanten und sehr persönlichen 1000. Beitrag hier auf dem Blog wieder in gewohnter Form mit Besprechungen von Neuem, Altem, Besonderen und Überraschenden weitergeht. On y va!
Wenn Geflüchtete vom Himmel fallen. Steffen Mensching dreht in seinem neuen Roman Hausers Ausflug an den Stellschrauben der Realität und zeigt eine beunruhigende Zukunftsvision, die ebenso erschreckend wie durchaus denkbar erscheint.
Wenn es um die Abgrenzung vor Geflüchteten geht, dann hat Europa bereits ein ganzes Arsenal von Abwehrmechanismen installiert. Das reicht von der Grenzschutzeinheit Frontex und deren illegalen Pushbacks bis hin zu Zäunen und Mauern, mit denen sich der Westen vor Geflüchteten abschirmt. Man spricht von Flüchtlingswellen, warnt, dass sich das Jahr 2015 mit seinem Zustrom an Geflüchteten nicht wiederholen dürfe und pflegt Ressentiments gegenüber den Fremden.
Steffen Mensching entwickelt nun die Idee von der Abwehr und Rückführung von Geflüchteten in ihre Heimatländer noch ein ganzes Stück weiter. Diese Idee erschließt sich dem Leser von Hausers Ausflug aber erst stückweise. Denn zum Beginn ist alles genesisgleich dunkel in Menschings Roman.
David Hauser kommt langsam zu sich und muss feststellen, dass er sich im Inneren einer Box befindet – und diese wiederum muss sich an Bord eines Flugzeugs befinden. Ihm fehlen zentrale Erinnerungen an den letzten Abend und daran, wie er in diese Box gekommen ist. Doch um welche Box es sich handeln muss – insbesondere da sie sich in der Luft befindet – das wird ihm schnell klar, und damit auch langsam den Leser*innen.
Abwurf über dem Herkunftsland
Denn Hauser ist der CEO der Firma AIRDROP. Diese hat ein ebenso perfides wie einträgliches Geschäftsmodell ersonnen, das sich in der Zukunft unter europäischen Staaten großer Beliebtheit erfreut. Hausers Firma kümmert sich um die „Rückführung“ von Geflüchteten, die von AIRDROP nicht mehr per aufwändigem Abschiebeflug durchgeführt wird, der oftmals an Bürokratie oder unkooperativen Heimatländern scheiterte. Stattdessen bedient sich die Firma der Logik von Amazon und Co und betrachtet die Geflüchteten nur noch als zu versendende Fracht .
Geflüchtete werden in Boxen gepackt und per Flugzeug über ihrem jeweiligen Herkunftsland abgeworfen. Ausgeklügelt konstruiert mit Fallschirm und Bienenwabentechnik im Inneren der Box sollen sie so in ihre Heimatländer zurückgeführt werden, auf dass sie das paradiesische Europa nicht mehr betreten.
Ein Geschäft, dass in Hausers Augen und denen seiner Auftraggeber bisher nahezu reibungslos funktioniert hat, ein paar bedauerliche Todesfälle einmal ausgenommen. Doch nun steckt eben Hauser selbst in einer Box und findet sich schon bald in einer unwirtlichen Bergregion wieder, ausgestattet mit fremden Klamotten, Zigaretten, Multivitaminriegel und einem Pass auf den Namen Walid Said.
Wer hat Hauser in die Box gesteckt? Wer hat es auf ihn abgesehen? Wo steckt er überhaupt? Und was soll das alles? Viele Fragen plagen den Manager, der nun aber in der kargen Umgebung erst einmal um sein Überleben kämpfen muss, ohne Orientierung und eine Idee, wie ihm geschieht.
Hausers Ausflug zeigt einen Mann in völliger Konfusion, der vom Abschieber zum Abgeschobenen wird. Lief sein Geschäftsmodell gerade durch die Anonymität der Abwürfe prächtig, so sieht er sich nun auf einmal auf der anderen Seite des Tischs beziehungsweise im Inneren der Box sitzend.
Ein Mann im Überlebenskampf
Langsam erschließt er sich seine Welt und trifft in seinem Überlebenskampf auf einen anderen Menschen dort in der steinigen Mondlandschaft. Und ebenso langsam entsteht ein Bild der Welt, in der AIRDROP so großen Erfolg hat, wenngleich die satirische Überzeichnung der Gegenwart mit ihrem Rechtsdrall nicht zu den stärksten Aspekten des Buchs zählt.
Auch ist die Auflösung des Ganzen nicht wirklich befriedigend, verzichtet Steffen Mensching doch auf Erklärungen und lässt auch sein Buch im Handlungsbogen dann am Ende abbrechen. Die äußeren Rahmenbedingungen im Roman werden allenfalls skizziert, sind des Öfteren nicht wirklich plausibel gestaltet und rumpeln etwas vor sich hin.
Ihn interessiert in meinen Augen eher das Geschäftsmodell des Geflüchtetenabwurfs und die Dilemmata, denen sich Hauser nach seinem Absturz in der Wüste gegenübersieht. Plötzlich muss Hauser selbst ums Überleben kämpfen, er der sich früher allenfalls in den Anfangstagen seiner Firma noch für Listen mit abgeworfenen Geflüchteten interessierte und nun eher das süße Leben mit seinen Annehmlichkeiten und gewebten Socken genießen möchte, denn sich mit den Auswirkungen seiner Geschäftspraxis zu beschäftigen. Wie nimmt er sein Schicksal an, wie kreisen seine Gedanken? Das untersucht Steffen Mensching hier einmal mehr, indem er einen Mann in die Extremsituation eines Überlebenskampfs wirft.
Fazit
Sobald sich Hausers Ausflug weg von seiner Figur bewegt, wackelt die Konstruktion. Da aber, wo Steffen Mensching ganz dicht dran bleibt an seinem CEO auf Abwegen, da ist das Buch stark und zeigt einen Menschen im Überlebenskampf und eine perfide Technik, deren Einsatz hoffentlich Fiktion bleiben möge, auf dass Humanismus und Mitmenschlichkeit gewinnen.
Das Landleben, es wirkt nicht nur auf deutsche Autor*innen anziehend, auch in Spanien gibt es das Phänomens des Dorfromans. Das beweist Eine Liebe, der neue Roman von Sara Mesa. Darin schickt sie eine Übersetzerin in eine kleines Dorf im spanischen Nirgendwo und konfrontiert sie mit sehr speziellen Männern und Tieren.
Das Dorf, in das es die Erzählerin Nat verschlägt, trägt den sprechenden Namen La Escapa. Es handelt sich dabei um einen winzigen Weiler, der umgeben von einer kargen Landschaft im Schatten des Glauco, eines massiven Bergs, seine Existenz fristet. Dort in diesen winzigen Weiler zieht sich die Übersetzerin zurück, um an einer Übertragung aus dem Französischen zu arbeiten. Doch auch das Erlebte aus der jüngeren Vergangenheit hat einen entscheidenden Einfluss auf den aktuellen Rückzug.
Das Haus, welches sie bezieht, ist nicht anders als eine Bruchbude zu bezeichnen. Der Wasserhahn leckt, die Bohlen sind von der Feuchtigkeit verzogen, das Dach undicht, der Garten verwildert und kaum fruchtbar. Und dennoch knüpft der unverschämte Vermieter Nat viel Geld für die Baracke ab, das sie ihm eingeschüchtert von seiner Präsenz monatlich aushändigt. Immer wieder taucht er unverhofft auf, bedrängt Nat und fällt mit einem übergriffen Verhalten auf, die sie ihm verängstigt und unterwürfig durchgehen lässt.
Ein unverschämter Vermieter
Unversehens taucht der Vermieter bei ihr auf – sie hatte ihn vollkommen vergessen. Wie gewohnt starrt er ihr ungeniert auf die Brüste, lässt dabei keinen Zweifel an an seiner Überlegenheit und Unverschämtheit. Nat hat das Geld nicht parat. Normalerweise hebt sie an einem Automaten in Petacas so viel ab, wie sie gerade braucht, aber als sie das letzte Mal dort war, hat sie nicht dran gedacht. Sie entschuldigt sich. Sagt, sie habe viel zu tun gehabt. Und ihn nicht schon wieder erwartet. Die Zeit vergehe einfach unglaublich schnell. Er blickt sie von der Seite an, presst die Lippen aufeinander, bis sie fast nicht mehr zu sehen sind. (…)
Wenn sie ihm das Geld überweisen könnte -die normalste Sache der Welt-, würde das alles nicht passieren. Oder wenn er wenigstens Bescheid geben würde, bevor er auftaucht, statt sich wie aus heiterem Himmel mit den Rechnungen in der Hand vor ihr aufzubauen, als hätte sie nichts anderes zu tun, als den ganzen Tag mit dem abgezählten Geld in einem Umschlag auf ihn zu warten. Diese Antworten kommen ihr aber erst im Nachhinein. Jetzt macht er es ihr durch sein Auftreten unmöglich, auch nur einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Seine immer schmaler werdenden Lippen. Der funkelnde Blick. Die großtuerisch vor der Brust verschränkten Arme.
Sara Mesa – Ein Liebe, S. 120
Beistand findet sie im alten Hippie Píter, der Nat seine Hilfe anträgt, aber auch durch eigenwilliges Verhalten und abrupte Stimmungswechsel überrascht. Mal drängt er ihr Hilfe auf, mal äußert er sich verächtlich über Nachbarn oder den Vermieter, dann sucht er wieder Nats Nähe. Ebenso widersprüchlich wie Píter ist auch das Verhalten von Sieso, einem wilden Hund, den Nat gerne zähmen möchte und ihn nachts in ihrem Garten anbindet.
Ein unmoralisches Angebot
Auch mit diesem Tier ist die Interaktion schwierig, fasst der Hund doch kaum Zutrauen, sucht mal das Weite, dann wieder Nats Nähe. Und auch bei Andreas, dem von anderen „Der Deutsche“ geheißenen Mann ist dieses Verhalten beobachtbar. Er wird im Dorf gemieden und argwöhnisch beäugt. Píter verachtet den Mann und bezeichnet ihn aufgrund dessen nicht vorhandenen sozialen Kompetenzen einen Autisten.
Mit ihm beginnt Nat eine Affäre, die unter denkbar eigenwilligen Voraussetzung mit einem unmoralischen Angebot ihren Ausgang nimmt. Denn nachdem sich das Dach von Nats Unterkunft als bei Regen sehr durchlässig erweist, weigert sich der Vermieter in irgendeiner Form den Mangel zu beheben. Andreas bietet ihr seine Hilfe bei der Reparatur an. Seine Forderung: Sex gegen Arbeit. Ein Agreement, auf das sich Nat nach einigem Nachdenken einlässt und aus dem sich eine im Dorf argwöhnisch beäugte Affäre entwickelt. Und dennoch kommt Nat diesem rätselhaften und widersprüchlichen Mann nicht wirklich näher.
Ein Buch voller widersprüchlicher Figuren
Eine Liebe ist eine Buch, das von der Widersprüchlichkeit handelt. Das beginnt bei der Tat, die Nat zu ihrem Zuzug nach La Escapa bewogen hat, setzt sich in ihrem eigenen Verhalten gegenüber dem unverschämten Vermieter oder Andreas fort und ist jeder Figur in diesem Buch eingeschrieben. Sei es Mensch oder auch Tier, viele Figuren in diesem Buch fassen einem Moment Zutrauen, dann aber zeigen sie sich wieder abweisend oder aggressiv beißen – im übetragenen Sinn und wörtlich.
Auch ist der Stil dieses Romans bemerkenswert. Figuren und Prosa sind hier ebenso karg wie die unwirtliche Landschaft, die La Escapa umgibt. Wirkliche Liebe, ein dörfliches Miteinander oder Harmonie sind hier kaum zu entdecken und höchstens in Ansätzen vorhanden. Stattdessen lebt in La Escapa jeder für sich, verachtet die Nachbarn, ist unfreundlich und macht des dem Dorfneuling Nat nicht wirklich einfach, die zudem auch mit ihrer Übersetzung kämpft.
Wenn der Klappentext des Buchs bemerkt, dass Sara Mesa auf den Luxus von Details verzichtet, dann ist das mehr als zutreffend, auch wenn ich persönlich Details nie als erzählerischen als Luxus sehen würde. Aber die Kargheit ist diesem Buch auf jeder Seite eingeschrieben (ins Deutsche übertragen durch Peter Kultzen). Auch das erratische und widersprüchliche Verhalten der Figuren wird letzten Endes auch nicht durch die Psychologie der Figuren erklärt, sondern steht einfach unaufgelöst für sich. Alles in Sara Mesas Buch ist staubig, schmutzig und wenig wohnlich eingerichtet.
Fazit
Mit La Escapa entwirft Sara Mesa ein Dorf, in das man nicht wirklich gerne ziehen möchte. Sie schreibt einen Dorfroman, der durch seine Unbehaustheit und seinen schonungslosen Blick auf das gesellschaftliche Miteinander oder eher Gegeneinander im spanischen Hinterland besticht.
Mit Eine Liebe gelingt es Sara Mesa, die Schroffheit der Umgebung und das karge Leben dort in Prosa zu überführen. Sie zeigt widersprüchliche Figuren und deren schwieriges Miteinander und liefert so einen Dorfroman, der frei von Klischees oder romantischer Verblendung ist. Eine Liebe fällt eher das Genre des Anti-Dorfromans. Denn wer dieses Buch gelesen hat, der überlegt sich den Umzug in ein Dorf vom Schlage La Escapa im spanischen Hinterland sicherlich noch einmal gut.