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Percival Everett – Erschütterung

Was macht es mit einem, wenn dem eigenen Kind die Diagnose einer tödlichen Krankheit gestellt wird? Percival Everett hat darüber in Erschütterung geschrieben – und ein echtes Highlight in diesem jungen Bücherjahr geschaffen.


Im Mittelpunkt seines Romans steht der Geologieprofessor Zach Wells. Dieser arbeitet am Lehrstuhl seiner Universität und hat sich dem Spezialgebiet der Geologie-Paläobiologie verschrieben. So hält er (nach eigener Einschätzung) im wahrsten Sinne des Wortes knochentrockene Vorlesungen über Sedimentablaberungen und Funde von ausgestorbenen Lebewesen und unternimmt Exkursionen mit seinen Studierenden.

Ich wusste wahnsinnig viel über eine spezielle Höhle namens Naught’s Cave im Grand Canyon und die Vogelwelt, die darin heimisch war. Wie obskur ist das? Nun ja, ich wusste mehr als die meisten Leute. Der Vollständigkeit halber sollte ich darauf hinweisen, dass die meisten Leute über fast alle anderen Dinge mehr wussten als ich.

Percival Everett – Erschütterung, S. 10

Eine Erschütterung des eigenen Lebens

Percival Everett - Erschütterung (Cover)

Privat ist es vordergründig eine Bilderbuchexistenz, die Zach Wells führt. Mit seiner Frau Meg und Tochter Sarah lebt er in Altadena ind Kalifornien, hat sein gesichertes Auskommen und eigentlich keine größeren Sorgen. Zwar ist die Liebe zu seiner Frau längst einer tolerierenden Ko-Existenz gewichen und der große Sinn im Leben fehlt, doch wirkliche Probleme fühlen sich anders an.

Wie, das muss Wells nach einigen beunruhigenden Zwischenfällen erfahren. So übersieht seine junge Tochter im gemeinsamen Schachspiel eine Figur, die deutlich vor ihr steht. Gravierendere Ereignisse folgen. Die Tochter wirkt wie abwesend und hat zwischendurch Anfälle, die sich weder Zach noch seine Frau erklären können. Eine Konsultation bei Ärzten bringt die niederschmetternde Erkenntnis, dass ihre Tochter am Batten-Syndrom leidet. Hierbei handelt es sich um eine unheilbare Krankheit, die mit Erblindung, Verlust von intellektuellen und motorischen Fähigkeiten und Krampfanfällen einhergeht.

Der Verlust von Sicherheit

Die Diagnose erschüttert die zuvor so sicher geglaubte Lebenswelt des Professors und löst ebenjene titelgebende Erschütterung seiner Existenz aus. So überlegt er während einer gemeinsamen Wanderung in den den nahen Bergen:

Wie schon zuvor betrachtete ich meine Tochter von hinten, studierte ihre schreckliche Schönheit, widmete mich meiner schrecklichen Liebe. (…) Ich erinnerte mich an den Augenblick, in dem das geschehen war. Sarah war drei Monate alt, und obwohl ich bei allen mit dem Vatersein verbundenen Ängsten glücklich war, war mir meine Liebe zu meiner Tochter bis zu diesem Tag abstrakt, amorph, distanziert vorgekommen. Ich wischte mir gerade ihren sauren Speichel vom Hemd, als ich in ihr ziemlich ausdrucksloses kleines Gesicht sah, und es war um mich geschehen. Restlos. Vollständig. Unverzeihlich.

Und nun war ich hier auf diesem öden Berg, in diesen Wäldern,und ging ihr hinterher. Falls ein Bär oder ein Puma aus dem Unterholz käme, würde ich ihn mit bloßen Händen töten, um sie zu beschützen. Meine einzige Aufgabe im Leben bestand darin, dieses kleine Tier am Leben zu halten, und das konnte ich nicht. Hinter ihr auf diesem Pfad überlegte ich nicht, dass ich ein guter Vater, ein liebevoller Vater sein, sondern, dass ich weiterhin Vater bleiben wollte.

Percival Everett – Erschütterung, S. 128

Die Rettung in Form einer Jacke

Inmitten dieser Grenzerfahrung findet Zach Wells eher zufällig Ablenkung und neuen Sinn. In einer auf Ebay bestellten Secondhand-Jacke versteckt sich ein kleiner Zettel mit einem spanischsprachigen Hilferuf. Dieser setzt ihn auf die Fährte amerikanischer Nazis, die auf ihren Anteil am Verschwinden junger Frauen im kalifornisch-mexikanischen Grenzland haben. In diesem Hilferuf findet Wells Sinn und Ablenkung und erfährt damit auch einen neuen Weg aus seiner in Routine und Angst erstarrten Welt.

Erschütterung ist das Psychogramm eines mittelalten Akademikers, dessen sicher geglaubte Existenz gehörig ins Wanken gerät. Und während Richard Russo aus dieser Ausgangslage jüngst ein ironisch-heiteres Porträt zauberte, ist die Registerwahl von Percial Everett eine ganz andere.

Eindringlich und literarisch überzeugend

Zwar kann man Erschütterung auch als Campusroman lesen – es sind alle Zutaten vorhanden, inklusive Unibesetzung mitsamt aktueller Rassismus-Debatte. Aber es ist das Privatleben und die Bindung zu seiner Tochter, die in diesem Roman den größten Raum einnimmt. Everett konzentriert sich ganz unmittelbar auf Zach Wells, der als Ich-Erzähler aus seiner kleinen, abgeschlossenen Welt erzählt. Und dennoch findet sich hier bei allem Kokettieren mit der eigenen Belanglosigkeit Tiefe und Wucht, da es Everett hervorragend gelingt, die seelischen Erschütterungen seines Protagonisten zu vermitteln und fühlbar zu machen. Das Ringen mit den eigenen Gefühlen, Tochterliebe, eheliche Erstarrung – all das schildert Percival eindringlich und literarisch überzeugend.

Immer wieder zerteilen kleine Schnipsel wie etwa Schachstellungen oder wissenschaftliche Kurzbeschreibungen die Gedanken und Schilderungen von Zach Wells. Er erzählt von seinem universitären Alltag, den Verlockungen und der Suche nach der Wahrheit hinter dem Hilferuf. All das ist bestechend komponiert und entwickelt wirklich einen Sog, der erst mit der letzten Seite abreißt. Hier ist nichts zuviel, keine Belanglosigkeit oder Geschwätzigkeit. Erschütterung ist das Proträt eines Mannes, der sämtliche Gewissheiten verliert und der dennoch das Richtige tun will. Everett vermisst die Seele seines Helden, die Landschaft im amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet und erzählt daneben auch en passant einen Krimi, der neben der Vielzahl von anderen Romanen mit gleichem Schauplatz bestehen kann.

Fazit

Erschütterung ist ein starker Roman, der von Nikolaus Stingl übersetzt nun bei Hanser erschienen ist. Percival Everett gelingt das eindringliche Bild eines Akademikers, dem seine Gewissheit abhandenkommt und der sich mit einem drohenden Verlust abfinden muss, obwohl er sich doch so bequem in seinem Leben eingerichtet hat. Bestechend erzählt und schon jetzt einer dieser Frühjahrstitel, die man unbedingt auf dem Schirm haben sollte.

Und nicht zuletzt ist dieses Buch auch der rare Fall eines Romans, dessen deutscher Titel deutlich treffender als das amerikanische Original namens Telephone ist.

  • Percival Everett – Erschütterung
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-27266-8 (Hanser)
  • 288 Seiten. Preis: 23,00 €
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Sh*t oder große Show?

Richard Russo – Sh*tshow

Richard Russo ist einer der großten Analytiker der amerikanischen Seele. Seine Romane sind immer zugleich Vermessungen Amerikas und dessen Befindlichkeiten. Mithilfe seiner Durchschnitts-Protagonisten gelingt ihm ein genauer Blick auf Milieus und deren Themen. Nun erscheint nur wenigen Monate nach seinem Roman Jenseits der Erwartungen gleich noch ein Buch. Es trägt den schönen Titel Sh*tshow und ist der Gattung Kurzgeschichte zuzuschlagen. Auf knapp 70 großzügig gesetzten Seiten (übersetzt von Monika Köpfer) erzählt Russo darin von einem Akademikerpärchen, bei dem nicht nur der häusliche Frieden in Schieflage gerät. Es bleibt die Frage: Sh*t oder große Show?

Enttäuschte Akademiker*innen und ein Shitstorm

Alles beginnt mit einem Abendessen. Drei Paare befreundeter Akademiker*innen wollen sich nach dem Wahlsiegs des „orangefarbenen“ Präsidenten Donald Trumps zum geselligen Austausch treffen.

Da wir, noch immer fassungslos, das Bedürfnis nach tröstender Gesellschaft hatten, luden Ellie und ich am Morgen nach den Wahlen die Schuulmans und die Millers zum Abendessen ein.

Russo, Richard: Sh*tshow, S. 7

Doch bei aller Verbundenheit müssen die drei Paare feststellen, dass sie sich über die Jahre doch etwas auseinandergelebt haben. Man versteht sich noch, die Sympathien für die vermeintlich gute und anständige Seite ist aber nicht mehr bei allen Freund*innen ungeteilt da. Am selben Abend macht dann Ich-Erzähler David, der uns die kurze Geschichte erzählt, eine äußerst unappetitliche Entdeckung. Im hauseigenen Pool schwimmen menschliche Ausscheidungen. Und bei der einen Attacke bleibt es nicht. Aus unerfindlichen Gründen finden sich David und seine Frau Ellie im Zentrum eines wirklichen Shitstorms wieder, der sich nicht nur auf ihren Pool beschränkt. Ihr Privatleben und die Balance zwischen ihnen beiden gerät zunehmend in Schieflage.

Auch Richard Russo schreibt sich den Frust von der Seele

Es ist eine hochinteressante Entwicklung, die sich auf dem Buchmarkt seit einiger Zeit beobachten lässt. Es scheint, als hätten die zumeist männlichen Autoren meinen vor einiger Zeit hier publizierten Aufruf, mehr Politik zu wagen, zu Herzen genommen. So schreiben sie sich ihren Frust über gesellschaftlichen Entwicklungen und Trends zumeist in satirischer Form von der Seele. Ian McEwan tat dies zuletzt betreffend den Brexit (und scheiterte auf ganzer Linie), Howard Jacobson nahm sich in Form einer Satire Donald Trump zur Brust. Auch in Richard Russo muss es gegärt haben, weshalb er 2019 diesen Text publizierte.

Richard Russo - Sh*tshow (Cover)

Allerdings scheitert auch Russo an der monströsen Realität und an einem Präsidenten, der Politik konsequent in eine Art TV-Show der Absurditäten überführt hat. Was angesichts der Laufzeit der knapp 70 Seiten zu befürchten war, bewahrheitet sich im Lauf der Geschichte. Russo schafft es in Sh*tshow nicht, einen neuen Blick auf den Komplex Donald Trump und die amerikanische Gesellschaft anzubieten. Die (von mir) erhoffte Analyse der Gesellschaft bleibt aus.

Dass Trump auch aus akademischen Milieus Unterstützung erfuhr oder dass Hillary Clinton eher als kleineres Problem denn wirkliche demokratische Wunschkandidatin angesehen wurde, das sind doch inzwischen eher Gemeinplätze. Auch Russos Stärke der Auslotung von Milieus und Gesellschaftsschichten greift hier nicht wirklich. Seinen Charakteren fehlt die Plastizität, die seine Roman sonst so besonders macht. Das verwundert nicht, umfassen seine Bücher doch ansonsten auch schon gerne einmal deutlich über 700 Seiten. Ein bisschen enttäuscht hat es mich aber dann doch. Auch die Auflösung des Geheimnisses hinter dem Shitstorm bleibt für mich hinter den Erwartungen zurück.

Diese Sh*tshow bleibt hinter den Erwartungen zurück

Richard Russo hat es sicher gut gemeint mit seiner Kurzgeschichte. Hier wird aber lediglich eine etwas banale Story, die ansonsten in einem Kurzgeschichtenband erschienen wäre, auch durch das Marketing mit einer Bedeutung aufgeladen, die sie nicht hat. Es wäre spannend zu lesen gewesen, was etwa Yasmina Reza oder Jonathan Coe aus dieser Ausgangslage gemacht hätten. Diese Sh*tshow bleibt hinter den Erwartungen zurück. Und so liegt die Antwort auf die eingangs gestellte Frage einmal mehr dazwischen: Kein Shit, aber leider auch keine große Show.


  • Richard Russo – Sh*tshow
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN 978-3-8321-8144-4 (Dumont)
  • 80 Seiten, 10,00 €
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