Tag Archives: Amerika

Joël Dicker – Die Geschichte der Baltimores

Die Baltimores und die Montclairs

Den Schriftsteller Marcus Goldman dürften sehr viele Leser aus dem Debüt von Joël Dicker kennen. Er fand im ersten Buch des Schweizer Autors Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert heraus (und war damit völlig zurecht wochenlang an der Spitze der Spiegel-Bestsellerlisten zu finden). Nun ist er zurück und gräbt diesmal in seiner eigenen Familiengeschichte, statt in der seines schriftstellerischen Mentors Harry Quebert. Wie er dies tut, beziehungsweise wie das von Joël Dicker arrangiert wird, ist eine Freude zu lesen.

Dicker

Das Buch dreht sich um die Familiengeschichte der Goldman-Familie, von der es Ableger in den Städten Baltimore und Montclair gibt. Während die Montclairs (zu denen auch Marcus gehört) vor sich hin wursteln und ein Leben abseits von Glanz, Glamour und Geld führen, sind die Baltimores der komplette Gegenentwurf zu diesem bürgerlichen Leben. Die Familie um den Anwalt Saul Goldman hat keine materielle Sorgen, wird von Marcus‘ Großeltern bevorzugt und scheint bei der Verteilung des Glücks das große Los gezogen zu haben.

Der Zusammenhalt zwischen den Familien bildet die unverbrüchliche Goldman-Gang, bestehend aus Hillel, Woody und Marcus Goldman. Die Goldman-Cousins halten zusammen wie Pech und Schwefel und verbringen die Ferien stets miteinander. Gemeinsam werden die Jungs aus der Goldman-Gang älter, kommen in die Schule, verlieben sich und beginnen ihre eigenen Leben, wobei die Verbindung nie ganz abreißt. Doch dann droht eine Katastrophe, die Baltimores und die Montclairs auf ewig auseinander zu reißen …

Joël Dickers zweiter Streich

Konnte es Joël Dicker gelingen, das zu wiederholen, was er bei Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert schon einmal geschafft hatte – nämlich mich in seine amerikanische Vorstadtwelt hineinzusaugen und erst hunderte Seiten später freizugeben? Nach dem Ende des zweiten Streichs kann ich konstatieren: Ja!

Auch wenn ich das Wort süffig im Zusammenhang mit Büchern eigentlich vermeide, hier würde ich eine Ausnahme machen. Gelungen schafft es Dicker, den Leser schon mit den ersten Seiten abzuholen und ihn neugierig zu machen auf die Geheimnisse der Montclairs und Baltimores. Dieser liebevoll gestaltete Band weist schon durch das erneut an Edward Hopper erinnernde Titelbild auf das amerikanische Setting hin, das im Buch herrschen wird. Es gelingt dem Schweizer, eine amerikanische Welt im Kopf entstehen zu lassen, die auch eine wenig an die Welt von Franzen, Roth oder Begley erinnert, sich dabei aber auch eine gewisse Leichtigkeit bewahrt.

Es ist schon verrückt: Da braucht es einen französischsprachigen jungen Schweizer, der eigentlich Banker ist, um den überzeugendsten amerikanischen Familienroman der letzten Zeit vorzulegen. Wer seine Freude an Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert hatte, der sollte auch diesem Buch eine Chance geben. Man wird es kaum bereuen!

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Donna Tartt – Der Distelfink

Die Kunst eines Lebens

Was für ein Buch. Über 1000 Seiten, ein Leben voller Kunst, Gefahr, ein Porträt Amerikas, eine Einführung in die Kunst des Goldenen Zeitalters der Niederlande, und nicht zuletzt die sogvolle Schilderung eines kriminellen Lebens und einer Spirale, der sich niemand entziehen kann.

Kurzum: ein Roman, der seinesgleichen sucht.
Geschrieben hat ihn Donna Tartt, die sich für ihre Bücher in der Regel ein Jahrzehnt Zeit lässt. Ohne Druck entstehen dabei Epen, die im Literaturbetrieb etwas ganz besonderes sind. 1992 debütierte sie mit dem Roman Die geheime Geschichte, 2002 ließ sie Der kleine Freund folgen, ehe nun 2013 Der Distelfink erschien.

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Eudora Welty – Der Räuberbräutigam

Ein Südstaaten-Märchen

Eine Sensation: Die Gebrüder Grimm sind gar nicht gestorben, sondern sind aus Kassel nach New Orleans emigriert und haben unter dem Pseudonym Eudora Welty einen Roman verfasst. Das könnte man zumindest annehmen, wenn man Der Räuberbräutigam liest.

Dieser Roman erschien im Original bereits 1942 und wurde nun über siebzig Jahre später von Hans J. Schütz ins Deutsche übertragen. Tatsächlich herrscht im ganzen 155-Seiten-dünnen Roman ein solcher Tonfall und eine solche Magie, dass man hier nur von einem Märchen, und zwar einem Südstaaten-Märchen sprechen kann.

Eudora Welty  Der Räuberbräutigam (Cover)

Das Buch dreht sich um den Räuber Jamie Lockhart, der im finsteren Tann des Missisippi-Deltas sein Unwesen treibt, und der jungen und unschuldigen Rosamond, die von ihrer fiesen Stiefmutter Salome geknechtet wird. Eines Tages https://www.klett-cotta.de/buch/Weitere_Autoren/Der_Raeuberbraeutigam/61792entführt ein Räuber diese, als sie gerade Kräuter sammeln ist. Doch Rosamonds Vater fällt eine Lösung für dieses Problem ein, schließlich hat er die Bekanntschaft mit Jamie Lockhart gemacht – der quasi zugleich Entführer und Retter seiner Tochter werden wird. Doch damit beginnt die Volten-schlagende Handlung eigentlich erst so richtig. Es treten auf: fiese Stiefmütter, dunkle Wälder, Räuberbanden, kluge und gewitzte Charaktere sowie nicht so helle Gestalten – willkommen in einem Südstaaten-Amerika, das man so noch nicht gelesen hat.

Der Räuberbräutigam ist wahrlich aus der Zeit gefallen. Hätten Joe R. Lansdale, die Gebrüder Grimm, William Faulkner und E. T. A. Hoffmann zusammengesessen, dieses Stück Literatur wäre wohl so ähnlich herausgekommen.

Das Buch ist ein Fest der Magie, der Sprache und des schon längst vergangen geglaubten Gefühls, das Märchen in einem Menschen auslösen können. Stark erinnert das Märchen auch an dadaistische Erzählungen – Lewis Carrolls Alice im Wunderland könnte für diese Erzählung auch Pate gestanden haben. Genau das richtige für Leser, für die die Geschichten auch mal etwas fantastischer und abgedrehter sein dürfen!

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Adam Johnson – Nirvana

Neue und neueste Geschichten

Nach dem großen Wurf Das geraubte Leben des Waisen Jun Do, für das Johnson nicht nur viel Lob sondern auch den Pulitzerpreis zugesprochen bekam, gibt es nun Nachschub.

Abermals übersetzt von Anke Caroline Burger bietet Nirvana sechs Kurzgeschichten auf insgesamt 265 Seiten. Der geneigte Statistiker kommt hier auf eine Länge von durchschnittlich rund 45 Seiten pro Kurzgeschichte. Tatsächlich differieren die Geschichten beträchtlich, von 60 Seiten bis hin zu 30 Seiten reichen die Stories, die Johnson in seinem Band präsentiert.

Seine Geschichten sind doppelbödig – mal verweist eine Geschichte mit ein paar Worten auf eine andere Erzählung, mal wechselt er die Perspektive und schreibt aus der Sicht seiner Frau über deren Brustkrebserkrankung.

Ob als UPS-Auslieferer in einem von Hurrikanen völlig zerstörten New Orleans oder als uneinsichtiger ehemaliger Aufseher eines Berliner Stasi-Gefängnisses – stets findet Johnson ein originelles Setting und eine nicht minder passende Sprache. Seine Geschichten vermögen durch ihre Figuren und Lokalitäten überzeugen. Sogar nach Korea, wenn auch diesmal Südkorea, kehrt Johnson für eine Erzählung zurück.

Großartig erzählte Kurzgeschichten

Oftmals drängt sich bei mir beim Lesen von Kurzgeschichten bekannter Autoren der Eindruck auf, noch ein paar Restematerialen von Recherchen oder Romanentwürfen zu lesen. Mit dem Namen des prominenten Autors sollen Leser (und damit natürlich auch Käufer) angelockt werden, doch das Endprodukt vermag nicht zu überzeugen. Ganz anders nun Nirvana. Den Ton, den Johnson in seinen Kurzgeschichten anschlägt ist präsent, das Setting seiner Erzählung sehr originell und anders als bei mittelmäßigen Kurzgeschichten bleiben diese auch nach der Lektüre im Gedächtnis des Lesers (allen voran wohl Interessant!). Keine der sechs Geschichten ist schlecht und noch dazu gibt es obendrein eines der für meinen Geschmack ästhetisch ansprechendsten Buchcover des Jahres 2015.

Fazit: Eine der besten Story-Sammlungen, die ich in meinem Bücherregal aufbewahren darf!

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Dennis Lehane – Shutter Island

Die Insel des Wahnsinns

Inseln haben schon immer die Fantasie von (Krimi-)Autoren beflügelt – abgeschieden, keine Fluchtmöglichkeiten und viel Verwirrung und Ablenkung. Prototyp des Insel-Krimis ist wohl Agatha Christie mit ihrem Klassiker Zehn kleine Negerlein (bzw. nun dem politisch korrekten Titel Und dann gabs keines mehr), aber auch ansonsten haben Autoren das Setting der Insel schon häufig verwendet.

Keine Ausnahme davon stellt Dennis Lehanes Krimi Shutter Island dar. Er hat für diesen Roman eine mehr als gruselig zu nennende Insel ersonnen, die vor der Küste Bostons ein zweites Alcatraz beheimatet.

Gefangene sind auf dieser Insel zahlreich vorhanden, jedoch ist Shutter Island eine Psychatrieanstalt für die gefährlichsten aller Straftäter.

Auf diese Insel verschlägt es nun Edward „Teddy“ Daniels zusammen mit seinem Partner Chuck. Als U.S.-Marshalls sollen sie das mysteriöse Verschwinden einer Patienten aus einer abgeschlossenen Zelle aufklären. Doch je länger sich die beiden auf Shutter Island aufhalten, umso verworrener wird der Fall.

Unermüdlich geht Teddy den Spuren nach, um Licht ins Dunkel zu bringen. Stimmen die Zahlen über die Straftäter in der Anstalt wirklich? Was geht im mysteriösen Leuchtturm vor sich? Mehr als einer der Insassen und Aufpasser auf der Insel spielt wohl ein doppeltes Spiel mit Teddy …

Perfekte Konstruktion mit Schlusspointe

Shutter Island ist ein perfekt konstruierter Thriller, der den Leser ab der ersten Seite immer tiefer in seine Welt hineinzieht und versinken lässt.

Die Konstruktion des Plots und die Schlusspointe sind mehr als meisterlich geraten. Shutter Island wartet nämlich mit einem mehr als ungewöhnlichen Kniff auf, an dem man sich (sofern man den Film noch nicht gesehen hat) lange zurückerinnern wird. Die erste Lektüre des Buchs lag bei mir noch vor der Scorsese’schen Verfilmung und  bis heute erinnere ich mich eher an den Twist im Buch und meine Überraschung denn die Verfilmung.

Wie es Lehane schafft, den Leser und Teddy immer stärker an dem zweifeln zu lassen, was eigentlich auf der Hand liegt, das ist stark gemacht. Das große Finale lässt dann noch einmal alles in einem anderen Licht erscheinen und man möchte die Lektüre noch einmal von vorne beginnen.

Alleine schon diese Schlusspointe macht das Buch zu einer Pflichtlektüre jedes Fans von guter und spannender Literatur.

Der Vorteil dieses Buchs liegt zweifelsohne in der Popularität des Kinofilms, der ja von der Größe Martin Scorsese mit Stars wie Leonardo DiCaprio und Ben Kingsley verfilmt wurde. Vielleicht greift der ein oder andere Cineast nun neugierig geworden noch zu diesem Titel und entdeckt so einen der besten amerikanischen Krimiautoren der heutigen Zeit für sich. Dennis Lehane ist es auf jeden Fall zu wünschen!


Gute Neuigkeiten für 2016

Eine gute Nachricht gibt es nun nach der Neuübersetzung dieses Klassikers durch Steffen Jacobs auch noch. Die teilweise verfilmte Reihe um das Privatdetektivpärchen Kenzie und Gennaro (siehe auch den Film Gone, Baby gone) kommt nun im Diogenes-Verlag im Lauf der nächsten Jahre wieder auf den Markt. Der erste Titel Streng vertraulich ist für Juli 2016 geplant. Bei mir herrscht auf jeden Fall schon Vorfreude!

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