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Mary Shelley – Frankenstein

Ein Sommer ohne Sonne im Jahr 1816, eine Fünferbande in einer Villa am Genfer See – und ein Dichterwettstreit, aus dem einer der wirkmächtigsten Schauer- oder besser Science Fiction-Romane aller Zeiten hervorgeht. Das ist Frankenstein von Mary Shelley, der literarische Urvater aller mahnenden Technikgläubigkeit – und zudem ein grandioser Roman über die Einsamkeit.


Es war ein Sommer, wie ihn sich sicherlich keiner der fünf Anwesenden in der Villa Diodati vorgestellt hatte. Denn statt Baden und Ausflügen am nahegelegenen Genfer See musste man den Großteil der Zeit im Anwesen selbst verbringen. Schuld war ein Vulkan namens Tambora, der ein Jahr zuvor auf der indonesischen Insel Sumbawa ausgebrochen war – mit Auswirkungen, die auf der ganzen Welt zu spüren waren. Ernten verdorrten, Kälte und Schnee dominierten, Menschen machten sich auf die Flucht vor dem Wetter und das sogenannte „Auswandererfieber“ befiel Menschen rund um den Globus.

Viele Ereignisse, die uns heute als Ergebnis der Klimakatastrophe begleiten, zeigten sich auch in diesem Sommer. Durch einige Stadtteile von Genf konnte man sich nur noch per Boot bewegen. In England sorgten Proteste ob der hohen Getreide- und folglich auch Brotpreise für ein neues Klassenbewusstsein und die Ausbildung der Arbeiterschicht. Und Goethe klagte ob des Wetters, das ihm in einem Gedicht vom 6. Juni 1816 zur Chiffre wurde, um den Tod zu seiner Frau Christiane zu verarbeiten. Dort heißt es: „Du versuchst, o Sonne, vergebens, / Durch die düstren Wolken zu scheinen! / Der ganze Gewinn meines Lebens / ist, ihren Verlust zu beweinen.“

Extremwetter am Genfer See 1816

Auch Mary Shelley, damals noch Mary Godwin, beobachtete das extreme Wetter und hielt in ihrem Tagebuch folgende Notizen fest:

Unglücklicherweise können wir uns nicht an jenem strahlenden Himmel erfreuen, der uns bei unserem ersten Besuch dieses Landes so freudig begrüßte. Beinahe unablässiger Regen bringt uns dazu, hauptsächlich zu Hause zu bleiben […]. Die Gewitterstürme, die uns heimsuchen, sind grandioser und furchterregender, als ich es je erlebt habe. Wir sehen, wie sie von der anderen Seite des Sees herannahen, beobachten die Blitze, die in verschiedenen Himmelsregionen zwischen den Wolken tanzen und in den zerklüfteten Formationen auf bewaldeten Anhöhen des Jura einschlagen, verdunkelt von drohenden schwebenden Wolken […].

Zitiert nach: Wolfgang Behringer: Tambora und das Jahr ohne Sommer, C. H. Beck 2018

Die Zeit vertrieben sich die Gäste der Villa Diodati, darunter neben Mary Shelley auch der berühmte Dichter Lord Byron und Percy Bysshe Shelley, der spätere Ehemann Marys, mit der Erzählung von Schauermärchen. Ein Dichterwettstreit, den die junge Mary gewinnen sollte, die im Alter von gerade einmal 19 Jahren jenes Werk namens Frankenstein schaffen sollte, das bis heute die Zeit überdauert, vielfach verfilmt und in unserer Zeit des technischen Fortschritts in seiner prophetischen Prägnanz geradezu bestechend.

Schauergeschichten unter Freunden

Liest man die Zeilen aus dem Tagebuch Mary Shelleys, dann fällt die hohe Kongruenz mit Stimmung und Motiven auf, die auch ihr 1818 zunächst anonym publiziertes Werk durchdringen.

Mary Shelley - Frankenstein (Cover)

Vor allem der Blitz ist es, der immer wieder auftaucht und dem jungen Victor Frankenstein in Form eines zerstörten Baumes erstmals eine Ahnung davon gibt, welche Macht in der Elektrizität steckt. Denn zuvor war der Blitz in den Baum in den Schweizer Alpen eingeschlagen – für den jungen nach Forschung dürstenden Mann eine erste Ahnung davon, welche Kraft in der Natur steckt, wenn sie entfesselt wird.

Später wird er in Ingolstadt an der Universität so vom wissensdurstigen Leser der Schriften von Albertus Magnus und anderer alter Denker zum Praktiker. Aus Leichenteilen wird er das Monster schaffen, das er einem Golem gleich zum Leben erweckt, dann aber im Moment des Erkennens vor seinem eigenen Werk flieht.

Dieser bekannte Kern der Erzählung wird aber von einem ebenso komplexen wie durchdachten Romangerüst ummantelt. Denn Shelleys Roman setzt an einem unerwarteten Ort ein, nämlich an Bord eines Expeditionsschiffs, das unterwegs ins ewige Eis ist. Von dort berichtet ein Polarforscher in Briefen von seiner Einsamkeit, die durch die Begegnung mit einem übergroßen Wesen im Eis und wenig später der Begegnung mit einem erschöpften Mann im ewigen Eis einsetzt. Dieser entpuppt sich als Viktor Frankenstein, der dann zur Erzählung seiner Lebensgeschichte anhebt, die von dessen Aufwachsen in der Schweiz, seinem Erkenntnisdurst, dem Studium in Ingolstadt und den Folgen seiner Tat erzählt, die ihn nun an diesen Ort im Eis geführt haben.

Ein Roman mit Matroschka-Struktur

Als letzte Schicht dieser Roman-Matroschka ist es das von Frankenstein erschaffene Monster, das in Frankensteins Erzählung wiederum von seinem Leben nach seiner Erweckung erzählt. Es beschreibt seine sich ausprägenden Sinne, sein Wahrnehmen und wird schließlich auch zur Offenbarung seines größten Leids, nämlich seiner Einsamkeit, der der Wunsch erwächst, Frankenstein möge ihm eine Partnerin schaffen, auf dass er sich mit dieser der Welt entziehen möge.

Immer wieder taucht in den drei miteinander verbundenen Erzählungen die Einsamkeit auf, die von menschenleeren Schauplätzen wie den Schweizer Alpen oder dem ewigen Eis bis hin zur Erkenntnis der Figuren selbst reicht, die sich nach Gefährt*innen und Partnerinnen verzehren. Eindrücklich versteht es Mary Shelley, in ihrem Roman diese große Unbehaustheit und die Sehnsucht nach Austausch und Begegnung zu schildern.

Klug montiert fügen sich die Bilder ineinander und verweisen immer aufeinander. Für eine neunzehnjährige Frau zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine bewundernswerte Leistung – die sich allerdings auch durch einen Blick in die Vita von Mary Shelley alias Mary Godwin plausibilisieren lässt. Denn obschon sehr jung, hatte sie im Jahr zuvor ein Kind geboren, das allerdings kurz nach der Geburt starb. Diese Verzweiflung und der unbedingte Wunsch, die Kräfte der Natur zu beeinflussen, findet sich auf allen Seiten dieses Romans.

Ein zusammengestückeltes Monster – und zusammengestückelte Motive

Wie die im Roman beschriebene Figur des zusammengestückelten Monsters ist auch dieser Roman dabei selbst Amalgam. Die biblische Schöpfungsgeschichte um Adam und Eva, die Sage des Golem, griechische Mythenwelt und Goethes Faust sind Motive, sie sich allesamt in Shelleys Roman wiederfinden. Und ebenso wie das aus seinen unterschiedlichen Teilen erschaffene Monster lebendig wird und ein Bewusstsein entwickelt, so gilt das auch für Shelleys Text, der aus Vorhandenem etwas ganz Neues schafft, das in seiner Beschreibungskraft und diagnostischen Schärfe bis heute seine Wirkung entfaltet.

Denn der Versuch des Menschen, mithilfe von Technik die Natur zu überwinden und Neues zu schaffen, das sich dann allerdings nicht mehr kontrollieren lässt, ist seit der industriellen Revolution ein Zeichen der Moderne. Egal ob Atombombe, Gentechnik oder nun die KI – stets ist der Mensch bestrebt, einen Schritt weiterzugehen, alles Menschenmögliche zu versuchen und wird – noch einmal mit Goethe gesprochen – die Geister, die er rief, nicht mehr los.

Dies macht aus Frankenstein eine Lektüre, die sowohl thematisch als auch literarische immer noch ihren Reiz entfaltet und der das Kunststück gelingt, trotz des Alters von 200 Jahren, scheinbar nicht zu altern, sondern immer aktueller und relevanter zu werden. Das alles macht diesen Roman zu einem Klassiker, dem auch heute noch möglichst viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind.


  • Mary Shelley – Frankenstein oder Der moderne Prometheus
  • Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe
  • Mit einem Nachwort von Christian Grawe
  • ISBN 978-3-15-020516-7 (Reclam)
  • 344 Seiten. Preis: 10,00 €
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Ángel Santiesteban – Stadt aus Sand

Kuba, das ist dieses pittoresk verfallene Eiland, auf dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Liebevoll handgedrehte Zigarren, Zuckerrohr, Caipirinha und Sonnenschein den ganzen Tag und dazu die Musik des Buena Vista Social Club. So kuschelig kann man es sich in seinen Klischees über die sozialistisch regierte Insel eingerichtet haben. Wie grundfalsch diese Bilder allerdings sind, das beweisen die stilistisch vielfältigen Erzählungen von Ángel Santiesteban, die es nun unter dem Titel Stadt aus Sand in der Reihe Weltempfänger der Büchergilde Gutenberg zu entdecken gibt.


Bei den vorliegenden Erzählungen kann man wirklich von einer Entdeckung sprechen, denn auf dem deutschen Buchmarkt ist Ángel Santiesteban so gut wie unbekannt. Zwar erschien im Jahr 2017 eine Sammlung von sechzehn Kurzgeschichten unter dem Titel Wölfe in der Nacht, die in den Medien auch etwas Widerhall fand. Davon abgesehen aber ist der Name Ángel Santiesteban wohl nur großen Kennern der kubanischen Literatur ein Begriff. Das gilt aber auch für Kuba selbst, wo der 1966 geborene Schriftsteller mit einem Publikationsverbot belegt ist und sogar schon einmal im Gefängnis saß, woraus er erst auf öffentlichen Druck wieder freikam.

Dass die Prosa Santiestebans den Machthabern in Kuba nicht recht sein kann, das zeigt sich schon nach kurzer Zeit, beginnt man in den Erzählungen des Kubaners zu lesen. Denn das Bild, das seine Geschichten von der Insel zeichnen, ist wenig schmeichelhaft. Und erst recht hat es nichts mit den eingangs genannten Klischees zu tun, die Santiesteban hier kraftvoll zerschlägt.

Politischer Druck, Überwachung und Unterdrückung

Er erzählt von politischem Druck, bei dem Menschen schon einmal im Gefängnis landen, nur weil sie in der Nähe des Ortes aufgegriffen wurden, wo sich der Comandante kurzfristig erleichtern musste. Ein doppeldeutiges Verhör genügt, um einen unbescholtenen Köhler hierbei ohne Prozess ins Gefängnis zu bringen (Selbstmordwalzer).

Ángel Santiesteban - Stadt aus Sand (Cover)

Er zeichnet das Bild eines Systems, in dem Menschen verzweifelt aufsteigen möchten und sich durch einen unbewussten Griff an die Nase selbst in die Psychiatrie bringen (Der bedeutendste Popel der Geschichte), in der ein zufälliger Kontakt mit einem Jugendfreund einen zum Verdächtigen macht, dem Misshandlungen wiederfahren (Richelieus Männer) oder in dem man die eigene innerfamiliäre konfessionelle Prägung nicht einmal geschützt innerhalb der eigenen vier Wänden ausleben kann und so ganz eigene Wege finden muss, um sich dem Überwachungssystem wenigstens etwas zu entziehen (Der Äquilibrist).

Überhaupt, die Überwachung und Unterdrückung, sie ist in vielen von Santiestebans Geschichten höchst anschaulich beschrieben. Die Paranoia, die dieses System erzeugt, in dem Menschen von einem auf den anderen Tag verschwinden (Auf der Suche nach Benny) und in dem man nicht einmal im Ausland vor den Behörden und Zensoren geschützt ist (Dolce Vita), sie wird nachvollziehbar und setzt sich dann in jenen Geschichten fort, die den feinen Grat erkunden, der zwischen Normalität und dem allzu schnellen Abgleiten in die Kriminalität oder psychiatrischen Anstalten des Inselstaates verläuft.

So ist es in der Geschichte Das Skelett des Herrn Morales das verzweifelte Streben eines Büroangestellten, der vor der Überführung der sterblichen Überreste seines Vaters diese wieder vervollständigen möchte oder in der schon erwähnten Erzählung Der bedeutendste Popel der Geschichte der Wunsch nach Aufstieg im politischen System, der für Santiestebans Protagonisten geradewegs in die Psychiatrie führen, obschon sie auf dem Grat zwischen Normalität und Kriminalität nur einmal kurz gestrauchelt sind.

Die Unbarmherzigkeit des politischen und gesellschaftlichen System Kubas, sie werden in diesen Geschichten in ihrer ganzen Abgründigkeit offenbar.

Unterschiedliche Erzählungen

Wenn diese Geschichten etwas eint, dann ist es ihre Einheit in Sachen Unterschiedlichkeit. Denn es ein stilistischer und thematischer Strauß an Stilen und Umfang, den die dreizehn von Thomas Brovot ins Deutsche übertragenen Erzählungen kennzeichnen.

So gibt es die gnadenlose Selbsterklärung einer Schwarzen, die sich selbst verleugnet und dem Rassismus zuneigt. Ein Mann in einer parabelhaften Geschichte, der in der sandigen Wüste eine Stadt errichtet, um dort am Steg der Ankunft eines Schiffes zu harren oder die Erzählung einer Mietergemeinschaft in einem dystopischen Setting, das die Leiche einer Verstorbenen im Wettlauf gegen das Unwetter, das gegen ihr Haus anbrandet, in Sicherheit bringen wollen. Aber auch für Spielereien mit der Metaebene von Texten bleibt bei Ángel Santiesteban noch Platz.

Und obschon diese Erzählungen wirklich divers und nicht wirklich einordenbar sind, so gibt es doch ein entscheidendes verbindendes Element. Das ist die Hoffnungslosigkeit, die fast allen Erzählungen innewohnt. Die Träume, die politischen Karrieren, die Hoffnungen, sie alle sind in diesen Geschichten auf Sand gebaut. Zwar kann man sich in Tagträume flüchten, wie dies die Prostituierten in der titelgebenden Eingangsgeschichte Stadt aus Sand tun. Viel bringen wird es allerdings nicht. Das ist die bittere Erkenntnis, die diesen Erzählungen innewohnt.

Ein willensstarker Autor

Schön, dass es die Büchergilde im Rahmen des Weltempfängers möglich gemacht hat, sechs Jahre nach dem ersten Erzählungsband auf Deutsch nun auch diese dreizehn Geschichten aus Kuba erlesbar zu machen. So bekommt man den Eindruck eines Staates, der auf Unterdrückung und Strafe setzt, um seine System am Laufen zu erhalten. Ein System, dem der oder die normale Kuba-Besucher*in nicht ansichtig werden dürfte, und das deshalb umso spannender zu lesen ist, setzt der Kubaner mit seinen Geschichten doch nicht bloß auf Agitation, sondern weiß auch literarisch durch Varianz zu überzeugen.

Und nicht zuletzt rückt diese Veröffentlichung mit Ángel Santiesteban einen unerbittlichen Schreiber ins öffentliche Interesse, der radikal für seine Prosa einsteht und dafür auch Gefängnis in Kauf nimmt. Oder um es mit den Worten von Paul Ingeenday zu sagen, der das Nachwort zu Stadt aus Sand liefert:

In den Jahre zuvor hatte ich einige Autoren und Autorinnen des Inselstaates kennengelernt, hier Kompromissler, dort Protestnaturen, aber so radikal wie Santiesteban war niemand von ihnen aufgetreten; manche waren entnervt ins Exil gegangen wie so viele vor ihnen, um ihr Glück in der wachsenden kubanischen Diaspora von Miami, Madrid, Paris oder Berlin zu versuchen.

Und nun dieser: ein sanfter Trotzkopf, der vor innerer Energie zu bersten schien. Der geschworen hatte, sich aus seiner Heimat nie vertreiben zu lassen und – das Undenkbare – die Castros zu überleben, Gefängnis hin oder her. Der sagte, es sei ihm egal, ob seine Literatur überhaupt erscheinen dürfe, er schreibe sie so oder so, mit Geld, ohne Geld, oft übrigens in der Nacht. Seine Geschichten drängten aufs Papier, damit sie ihn im Innersten nicht verbrannten. „Das ist der einzige Sinn, den ich in meinem Leben entdecken kann“, sagte er mir. „Dafür bin ich auf der Welt. Um zu schreiben“.

Paul Ingeenday in seinem Nachwort zu Ángel Santiesteban – Stadt aus Sand, S. 248

Schön, dass der Weltempfänger diese vielseitige und so willensstarke Stimme für uns europäische Leser*innen einfängt!


  • Ángel Santiesteban – Stadt aus Sand
  • Aus dem Spanischen von Thomas Brovot
  • Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay
  • Büchergilde Gutenberg, Artikelnummer 173670
  • 256 Seiten. Preis: 22,00 €
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Simone Lappert – Wurfschatten

Simone Lappert sollte eigentlich schon im letzten Jahr hier auf dem Blog einen Platz bekommen. Damals las ich ihren Roman Der Sprung, der als Spitzentitel im Diogenes Verlag erschien. Doch zu einer Rezension kam es nicht, da mir ein Ansatzpunkt für die Besprechung fehlte. Schnell gelesen und relativ schnell wieder vergessen, in diese Kategorie fiel für mich das Buch. Nette Lektüre, ganz gut gemachte Unterhaltung mit einem kleinen Schwachpunkt, nicht mehr und nicht weniger.

Simone Lappert - Der Sprung (Cover)

Ein Buch, das sich im Buchhandel gut verkaufte, viele wohlmeinende Leser*innen und Buchhändler*innen für sich einnahm und als Empfehlungstitel zu einem veritablen Erfolg gelangen sollte. Nur in meinen Augen nichts, das einer vertieften Analyse hier auf dem Blog bedurfte.

An meinen Kritikpunkt an Lapperts Buch fand ich mich nun erinnert, als ich im letzten Supplement der Zeit zur ausgefallenen Leipziger Buchmesse blätterte. Jens Jessen schrieb darin über den neuen Roman von Pascal Merciers namens Das Gewicht der Worte folgende Zeilen:

Glücklicherweise sind [die Figuren] allesamt polyglott und wechseln mühelos zwischen dem Italienischen, Französischen und Englischen (…). Das Einzige, was die Übersetzer, die Autoren und Verleger einschließlich ihrer wenigen branchenfremden Freunde niemals wechseln, ist der Modus ihrer Rede. Alle diese wunderbaren Menschen sind auf wunderbare Weise immer der gleichen Meinung. Sie benutzen auch die gleichen Wörter, um diese Meinung zu formulieren, sie haben die gleichen Empfindungen und das Entzücken, das die eine Figur angesichts einer bestimmten Durchsage in der Londoner U-Bahn fühlt, kann leicht viele Hundert Seiten später von einer anderen Figur genauso artikuliert werden. Das „Gewicht der Worte“ mag erheblich sein, ist aber jedenfalls nichts Individuelles.

Jessen, Jens: „Monumentale Biederkeit“ in Zeit Literatur No 12, März 2020

Vom Fehlen der Individualität

Dieses Fehlen von Individualität war es, das mich tatsächlich auch in Der Sprung störte. Darin erzählt Lappert aus der Sicht einer Vielzahl von Figuren von einer Frau, die auf dem Dachfirst eines Hauses steht und kurz vor dem Sprung zu stehen scheint. Dieses außergewöhnliche Ereignis beeinflusst das Leben aller Figuren, von denen Simone Lappert erzählt. Nur – all diese Figuren reden und denken gleich. Wie auch bei Mercier fehlt ihnen literarische Eigenständigkeit. Das Unterhaltungspotenzial dieses Romans wird dadurch kaum geschmälert, ich hätte mir hier allerdings mehr Ausgestaltung durch literarische Tiefe gewünscht.

Simone Lappert - Wurfschatten (Cover)

Nun liegt im Diogenes Wurfschatten vor. Es handelt sich hierbei allerdings um kein neues Buch der Schweizer Autorin. Vielmehr ist Wurfschatten das Debüt Lapperts, das vor sechs Jahren im Metrolit-Verlag erschien. Doch der Verlag ging insolvent und so schnappte sich Diogenes die Recht, um das Buch nun als Taschenbuch auf den Markt zu bringen.

In diesem Buch konzentriert sich Simone Lappert auf eine Figur, in deren Leben wir zu Gast sind. Es handelt sich um Adamine, genannt Ada. Als Schauspielerin schlägt sie sich mit einem Engagement bei einer Krimidinner-Revue namens Mord an Bord durch. Durch die Veruntreuung ihres Vermögens durch einen Regisseur befindet sich ihr Konto schwer in den Miesen. Auch ihr Mietverhältnis ist ebenso prekär, ständig ist sie mit der Zahlung für ihre Wohnung im Verzug, die sie mit zahlreichen Fischen bewohnt.

Die Fische vermitteln Ada Ruhe und spenden ihrer Seele Trost. Denn die Schauspielerin leidet unter diversen Angsstörungen und Panikattacken.

Ada hob ihren Arm unter der Decke hervor und zeigte auf ihre Tätowierung, (…) sie erzählte, dass sie Angst vor ihrem eigenen Körper hatte, Angst vor Erdbeben, vorm Ersticken, vorm Erschlagenwerden, Angst vor einer Herzattacke, Amokläufen, Spülmittelrest, vor Lebensmittelvergiftungen, Lungenkrebs, Autobahnen, vorm Fliegen, vor dem eigenen Gasherd, dem eigenen Föhn.

„Und wenn sie da ist, die Angst“ sagte sie, „dann zittert alles was ichsehe, alles verwackelt, es ist ein Selbstauslöser, den ich nicht steuern kann, ich weiß nicht einmal, wann das ales angefangen hat. Es ist, als hätte ich schon immer einen Wackelkontakt zur Welt“

Lappert, Simone: Wurfschatten, S. 231

Katastrophe oder Therapie, das ist hier die Frage

Da ihr Mietverhältnis ebenso prekär wie die Lage ihres Kontos ist, greift ihr Vermieter kurzerhand zu radikalen Mitteln. Er setzt ihr Juri vor die Nase. Dieser Juri ist der Enkel ihres Vermieters und soll sich nun die Wohnung mit ihr teilen. Ein Konzept, das ebenso scheitern wie heilsam für Ada sein könnte. Denn Juri ist ganz anders als Ada, deren Routine von ihren Ängsten diktiert wird.

Wie in einem Experiment beobachtet Simone Lappert und damit auch wir als Leser die Situation, die sie geschaffen hat. Wie reagieren die beidene Charaktere miteinander? Anziehung oder Abstoßung? Katastrophe oder Therapie? Das ist in Wurfschatten die Frage.

Ihre Figuren erobern sich immer wieder neue Räume, besetzen diese oder lernen mit Verlusten zu leben. Da werden Fische in Badewannen gesetzt, Kresse in sämtlichen Räumen der Wohnung gesät, Umzugskisten mit altem Plunder auf die Straße gestellt. Immer ist etwas in Bewegung, statisch wie Schatten sind hier weder Räume noch Beziehungen.

Ihre Erzählung kleidet Simone Lappert in eine Sprache, die zwar nicht durch Innovation oder herausragende Kreativität aufzufallen vermag. Für ihr Thema ist ihre Sprache allerdings angemessen, manchmal gelingen ihr innovative Vergleiche oder gut formulierte Beobachtungen, die dieses Debüt adeln.

Fazit

Wurfschatten ist ein Buch über Ängste und Möglichkeiten, diesen zu begegnen. Trotz des schweren Themas ist Wurfschatten nicht beschwerend, sondern durchaus auch heiter und schwebend erzählt. Sprachlich leicht überdurchschnittlich und mit einigen schlau gewählten Motiven erzählt das Buch von Ängsten und dem Bereitmachen für Neues. Ein gutes Debüt einer jungen Schweizer Stimme.

  • Simone Lappert – Wurfschatten
  • 240 Seiten, ISBN 978-3-257-24525-7
  • Preis: 12,00 € (D)
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Sandrone Dazieri – In der Finsternis

Dunkle Geheimnisse

Der italienische Drehbuchautor Sandrone Dazieri entführt die Leser seines ersten Romans gleich einmal in klaustrophobische Gefilde. Das gelungen gestaltete Cover führt den Leser tatsächlich in Finsternis, so auch der Titel des Thrillers.

Auf den Spuren des Vaters

Inhaltlich dreht sich der Roman um den Profiler Dante Torre, der als Kind ein grausiges Schicksal erleiden musste. Von Peinigern in ein dunkles Verlies gesperrt, musste er dem sogenannten „Vater“ zu Diensten sein, ein sadistischer Quäler, der jegliches Fehlverhalten bestrafte. Ihm gelang die Flucht, die seelischen Narben hat Torre jedoch behalten. Er kann kaum seine eigenen vier Wände verlassen – ein großes Problem als er nun von der Ermittlerin Colomba Caselli aufgesucht wird. Denn entgegen der offiziellen Version, dass der „Vater“ nach Torres Flucht Selbstmord begangen hat, scheint der „Vater“ weiterhin aktiv zu sein. Gegen alle Widerstände beschließen Caselli, von Torre liebevoll CC genannt, und Torre die Ermittlungen fortzuführen.

Sie stoßen auf ein geheimes Programm und Spuren, die ins Militär und den Machtapparat führen. Doch schon bald werden aus den Jägern Gejagte und Torre und Caselli müssen vor den Behörden fliehen, um den klandestinen Spuren zu folgen.

 Ein talentierter Autor

(c) Mario Tirelli

Sandrone Dazieris Hintergrund als Drehbuchautor merkt man „In der Finsternis“ auf jeden Fall an. Filmreif weiß er seinen Plot zu inszenieren, stets schlägt die Handlung wieder einen Haken oder springt zum nächsten Erzählstrang. Inspiriert von Fällen wie dem aufsehenerregenden Kampusch-Fall aus Österreich und ähnlichen Begebenheiten vermittelt der italienische Autor dem Leser glaubhaft ein Gefühl, was es heißt in der Finsternis gefangen zu sein.

Auch wenn Torres Martyrium und seine Fähigkeit, seine Gegenüber zu lesen, einen kleineren Teil einnimmt, als die Inhaltsbeschreibung vermuten lässt, ist das Buch insgesamt ein spannender Thriller geworden, der seine Protagonisten unerbittlich durch Italien jagt. Auch wenn der Leser die ganze Zeit über miträtselt, was die Identität des „Vaters“ angeht, so wurde zumindest ich am Ende des Romans noch einmal überrascht. Dies spricht sehr für das Talent Dazieris, den Leser an der Nase herumzuführen, und lässt mich auf weitere Titel des Schreibers warten. „In der Finsternis“ ist eine Empfehlung für alles Leser von temporeichen und eindrücklichen Thrillern, die eine dunkle Seite Italiens fernab von Dolce Vita kennen lernen wollen!

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