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José Falero – Supermarkt

Serien über Drogenhändler*innen gibt es wie Sand am Meer. Neben ehrfürchtigen Biopics über Größen wie Pablo Escobar oder Griselda Blanco sind solche Drogendealergeschichten auch oftmals welche, die die Wandlung von zumeist Jedermännern hin zu Dealergrößen nachzeichnen. Von How to sell drugs online fast bis hin zum wahrscheinlich bekanntesten Beispiel Breaking Bad, das den Weg vom krebskranken Chemielehrer Walter White hin zum gefürchteten Drogenbaron mit dem Pseudonym Heisenberg nachzeichnet. Nun hat der Brasilianer José Falero einen Roman geschrieben, der einmal mehr einen solchen Wandel von Zero to Hero nachzeichnet, diesmal in Brasilien, wo zwei Männer ausgehend von ihrem Job im Supermarkt zu Drogenhändlern werden.


José Falero siedelt seinen Roman im brasilianischen Porto Alegre an. Dort tun in einer Kette des Fênix-Supermarktes die beiden Angestellten Pedro und Marques ihren Dienst. Beiden gemein ist, dass sie aus armen Verhältnissen stammen und es trotz ihrer Arbeit bislang nicht viel weiter gebracht haben in ihren jeweiligen Leben. Kleine Diebstähle des supermarkteigenen Bestandes haben sie perfektioniert, aber eine wirkliche Verbesserung ihres gesellschaftlichen Status und ihrer finanziellen Lage ist nicht in Sicht.

Als Marques‘ Frau ihm eröffnet, dass sie erneut schwanger ist, tun sich die beiden Männer mit einem recht simplen Plan zusammen. Zwar ist die Gegend, in der sie leben, in puncto Drogen bereits sehr gut versorgt. Allerdings wird das Cannabis-Segment aus Gründen der Unrentabilität von keiner der rivalisierenden Banden in ihrem Viertel wirklich bedient. In diesem Marktlücke sehen die beiden Männer ihre Chance.

Joint Venture

José Falero - Supermarkt (Cover)

Und so klären sie mit den rivalisierenden Drogenbanden ab, dass sie ihnen mit ihrem Grasgeschäft nicht in die Quere kommen wollen, organisieren sich komfortabel per Bote geliefert die erste Ladung an Cannabis und beginnen ihr im wahrsten Sinne des Wortes Joint Venture

Bekannte werden zu Verteilern ihrer Drogen und insgesamt hat das Ganze den Charakter eines hemdsärmeligen Startups. Ihre Geschäftsbesprechungen halten sie im Schwimmbad ab, zur Tarnung arbeiten die beiden nach wie vor im Supermarkt und rekrutieren von dort auch ihr Personal. Doch wie das so ist im Drogengeschäft ist – wo der Erfolg ist, da lauert auch die Gefahr. Und schon bald müssen auch Pedro und Marques feststellen, dass das Drogengeschäft ein tödliches Business sein kann.

Aufstieg und Fall von Drogenhändlern

Supermarkt zeichnet recht geradlinig und wenig überraschend den Weg nach, den in der Popkultur die meisten Drogenbarone nehmen. Der Aufstieg aus einfachen Verhältnissen, die Skalierung ihres Drogenbusinesses bis hin zum brutalen Fall, das alles ist der schon fast archetypische Entwicklungsbogen, den auch José Falero hier bedient.

Die mäßige Originalität wird durch den Job der beiden Männer im Supermarkt und den Einblick in ihre Lebenswelt in Porto Alegre ein Stück weit wieder aufgefangen.

Was aber bei Supermarkt, der in Brasilien mit über 40.000 verkauften Exemplaren zum Überraschungerfolg avancierte, in meinen Augen wirklich nachteilig ins Gewicht fällt, ist das manchmal arg erdrückende Dozieren, in die vor allem Pedro immer wieder verfällt. Seine monologisierende Kapitalismuskritik, die er Marques seitenlang darlegt oder die akribische Darstellung des Geschäftsplans, wie man das Geschäft mit den Drogen immer größer aufziehen kann, sie wirken eher wie Exkurse aus einem Sachbuch denn ein schneller Roman über einen schnellen Aufstieg der beiden Amateuer-Escobars.

Fazit

Wer sich davon nicht schrecken lässt, der bekommt mit Supermarkt eine Erzählung zweier Nobodys im Drogenbusiness, das den Bildungsweg der Protagonisten von einfachen Supermarkmitarbeitern mit krimineller Energie hin zu erfolgreichen Dealern in Porto Alegre nachzeichnet. Zwar erfindet José Falero mit dieser Drogengeschichte das Rad nicht neu, liefert aber mit Abstrichenen einen soliden Roman ab, der sich von den vielen anderen Aufstiegserzählungen im Drogengeschäft zuvorderst durch seinen Handlungsort unterscheidet. Ansonsten klare Genreunterhaltung, die von Nicolai von Schweder-Schreiner aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt wurde.


  • José Falero – Supermarkt
  • Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner
  • ISBN 978-3-455-01662-8 (Hoffmann und Campe)
  • 320 Seiten. Preis: 25,00 €
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Samuel W. Gailey – Die Schuld

Wie lange geht das gut, vor einer Schuld davonzulaufen – oder geht das überhaupt? Die junge Alice O’Farrell probiert es in Samuel W. Gaileys Krimi Die Schuld, muss auf ihrem Weg von Pennsylvania nach Wilmington aber feststellen, dass man dem Schicksal nicht wirklich entkommen kann.


Einst war sie eine verheißungsvolle Schwimmerin und lebte zusammen mit ihrer Familie ein recht durchschnittliches, aber zufriedenstellendes Leben. Nun, sechs Jahre später muss die inzwischen 21-jährige Alice feststellen, dass all das Geschichte ist. Denn nachdem ihr kleiner Bruder trotz der ihr aufgetragenen Betreuung einen tragischen Tod fand, geriet Alice‘ Leben aus den Fugen.

Sie floh aus ihrem Zuhause, lebte auf der Straße und ist nun im Jahr 2011, in dem der Hauptteil von Gaileys Krimi spielt, vollkommen abgestürzt. Sie verdingt sich in einem heruntergekommenen Strip-Etablissement hinter dem Tresen, gibt sich dem Alkohol hin, wobei regelmäßig Abstürze und Blackouts an der Tagesordnung sind – sogar ein eigenes Bewertungssystem für die Heftigkeit der Abstürze hat sie bereits entwickelt.

Sie traf meist bemerkenswert schlechte Entscheidungen, wenn sie sich betrank, was oft der Fall war, also jeden Tag. Anders gesagt, sie konnte sich an keinen einzigen nüchternen Abend in den letzten Jahren erinnern. Es war ein Teil von ihre geworden. Nicht dass sie stolz drauf war, aber sie hatte sich damit abgefunden. Wer konnte schon aus seiner Haut?

Samuel W. Gailey – Die Schuld, S. 19

Nach einem solchen Absturz erwacht Alice zu Beginn des Buchs – nur um ihren Chef neben sich vorzufinden. Dieser befindet sich allerdings noch in einem erheblich prekäreren Zustand als Alice selbst – er ist nämlich tot.

Alice auf der Flucht

Neben seiner Leiche in seinem Zuhause findet sich eine Tasche mit tausenden von Dollars sowie jeder Menge Betäubungsmittel. Nachdem sie nach einem Zögern die Polizei über den Tod ihres Chefs informiert hat, tauchen schon nach kurzer Zeit zwei Gangster auf, die den Besitz des Verstorbenen an sich nehmen möchten. Nach einem Shootout mit der Polizei und vielen Toten beschließt Alice, die Tasche mit dem Geld an sich zu nehmen und zu fliehen. Ein folgenschwerer Fehler, denn nun haftet sich der kleingewachsene Sinclair in Begleitung des tumben Phillip an die Fersen der Flüchtigen, die sie zusammen auf ihrer Flucht verfolgen.

Samuel W. Gailey - Die Schuld (Cover)

Es ist ein recht klassischer Krimiplot, den Samuel W. Gailey in Die Schuld kredenzt. Da das gefallene Mädchen, das die Tasche mit Geld an sich nimmt und fliegt, da die Gangster, die sie verfolgen, um wieder in den Besitz des gestohlenen Geldes zu gelangen. Auch ist der Krimi in vielen Passagen oftmals eher ein solides B-Movie denn ein wirklich origineller Plot, etwa wenn die beiden Gangster den zitternden Motelverwalter „interviewen“, um an weiterer Infos über den Verbleib von Alice zu gelangen.

Hier hat man das Gefühl, ähnliches schon dutzendfach gelesen und gesehen zu haben. Dennoch aber gibt es auch Punkte, die Die Schuld über eine platte Wiedererzählung des Bekannten hinausheben.

Das ist die Frage des Umgangs mit eigener Schuld, die hier vielfach gespiegelt wird. So läuft Alice ja gleich vor einer zweifachen Schuld davon. Da ist natürlich die Tasche mit dem Geld, das ihr nicht gehört und das für viel Ärger sorgt. Genauso läuft Alice ja aber auch bereits seit ihren Teenagertagen vor dem Tod ihres Bruders davon, den sie hätte eigentlich beaufsichtigen sollen.

Ein Absturz und die Verdrängung von Schuld

Ihren Absturz, ihre Flucht und den Alkohol und die Menschlichkeit, die ihr während dieses Absturzes in Form des Kammerjägers Elton begegnet, das zählt zu den interessanten Aspekten dieses Krimis, der immer wieder zwischen den initialen Ereignissen im Jahr 2015 und der Gegenwart sowie zwischen der Perspektive der Jäger Sinclair und Phillip sowie der Gejagten auf ihrer Flucht durch die halbe USA hin und herwechselt.

Die Welt, in der der Samuel W. Gailey die Geschichte ansiedelt, ist dabei eine dunkle und vor allem dreckige Welt. Trailerparks, schäbige Motels ohne Zimmerservice, viel Düsternis und Schmutz wohnt diesem Erzählen inne. Zudem ist Die Schuld auch kein wirkliches Plädoyer für den amerikanischen Nah- und Fernverkehr, denn selbst das Reise mit der Bahn oder dem Bus ist hier schmutzig und wenig einladend.

In der Logik der Geschichte selbst ist das aber höchst stimmig und zeigt die ganze Tristesse, die Alice Lebensbahn seit dem Tod ihres kleinen Bruders genommen hat.

Nun bleibt nur noch die Frage bestehen, ob es gelingen kann, vor dem eigenen Schicksal und den unverarbeiteten Traumata zu fliehen oder diese zu verdrängen. Die Antwort darauf liefert Samuel W. Gailey auf eigene Art und Weise – lesen muss man sie allerdings schon selbst!


  • Samuel W. Gailey – Die Schuld
  • Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf
  • ISBN 978-3-948392-96-3 (Polar-Verlag)
  • 312 Seiten. Preis: 26,00 €
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James McBride – Der heilige King Kong

Ein heruntergekommener Treffpunkt im Brooklyn Ender der 60er Jahre. Jugendliche Drogendealer, ein Hehler mit italienischen Wurzeln namens Elefante, abgewirtschaftete Häuser, wenig Perspektive und mittendrin die Kirchengemeinde Five Ends. Das ist das Setting von James McBrides Roman Der heilige King Kong.


Eine schwer fassliche Tat wirbelt das Leben dort gehörig durcheinander. Denn eines Tages betritt der betagte Diakon Cuffy „Sportcoart“ Lambkin den Platz, an dem die Jugendlichen ihre Drogen hndeln. Er hält dem Anführer der Bande seinen alten Revolver ins Gesicht und drückt ab. Der Dealer überlebt verletzt die Tat und die Gemeinde ist aus dem Häuschen. Was hat den alten Diakon zu der Tat motiviert? Schließlich trainierte der alte Mann den Dealer einst als Kind, eine große Karriere als Quarterback hätte ihm in Aussicht gestanden. Nicht einfacher wird es, da Cuffy zu Hochprozentigem neigt und sich schon kurz nach der Tat nicht mehr an seinen verhängnisvollen Schuss erinnern kann.

King Kong im sozialen Brennpunkt

Wie bei einem Dominospiel löst der Schuss eine ganze Kette an Folgeereignissen aus. Drogendealer, Polizisten, die Mitglieder der Kirchengemeinde. Sie alle werden durch Sportcoats Tat beeinflusst. James McBride beobachtet und beschreibt all dies in der Folge, in dem er immer wieder den Blickwinkel wechselt. Dabei wählt er verschiedene Stilmittel zu Erzählung. Es gibt Passagen voller Slapstick, andere Passagen erinnern an eine Seifenoper, Thriller oder einschlägige Sozialreportagen.

„Nun wars ab, Mister. Ich werd dir ’n paar Sachen erzählen, die jeden zur Flasche greifen lassn. Und wenn ich fertig bin, ges du und tus, was immer du tun muss. Aber zuerst: Wo iss mein Käse?“

„Was?“

„Mein Käse.“

„Ich hab kein Käse.“

„Dann iss das das, was ich dir zuerst erzähle“, sagte sie, „Denn es iss alles miteinaner verbunden. Ich erzähls dies eine Mal. Aber komm nich noch mal durch meine Türe, wenn du mein Käse nich hass.“

James MacBride – Der heilige King Kong, S. 398

So entsteht ein literarisch diverses und umfassendes Bild des Lebens dort im Brooklyner Außenseiterbezirk. Gelungen schafft es McBride dabei, alle Fäden gemeinsam zu verknüpfen, sodass man am Ende sogar erfährt, woher der geheimnisvolle Edelkäse stammt, der sich wie durch ein Wunder jede Woche im Keller einer der Sozialwohnungen materialisiert.

Eine verbesserungswürdige Übersetzung

James McBride - Der heilige King Kong (Cover)

Ein wenig fraglich ist für mich nur die Übersetzung des Buchs durch Werner Löcher-Lawrence. So stolperte ich, auch eingedenk aktueller Übersetzungs- und Identitätsdebatten immer wieder über die N**** Worte, mit der sich die Protagonisten dort im Brennpunkt bedenken. Auch liest man immer wieder von „Farbigen“, einem Wort, das auf mich doch sehr überkommen wirkte. Lila, hellgrün oder sosa sind die Menschen ja kaum, es handelt sich um Latinos, Italiener und eben auch Schwarze. Ob es da die Vielzahl an N****-Worten gebraucht hätte, das frage ich mich wirklich. Auch befremdete mich das übersetzte Idiom der Bewohner dieses Fleckchens in Harlem. Alle Bewohner klingen durchweg ungebildet, simpel und fast etwas minderbemittelt. Allerdings lag mir das übersetzte Original nicht vor, sodass Werner Löcher-Lawrence‘ Übertragung auch eng am Original liegen mag. Im Deutschen liest es sich alles etwas ungelenk und naiv.

Immer wieder drängte sich mir während der Lektüre die Frage auf, ob es 2021 für ein solches Buch nicht eine zeitgemäßere und bessere Übersetzung für schwarzen Soziolekt und fragwürdige Termini gibt. Auch wenn ich selbst keine Patentlösung für das Poblem habe, zeigen doch etwa Miriam Mandelkow oder Uda Strätling in ihren präzisen Übersetzungen, wie moderne und nicht-rassistische Übersetzungsarbeit gehen kann. Schön wäre es, wenn man dieses Buch als Ausgangspunkt für eine Debatte nehmen könnte, wie modernes, inklusives und trotzdem originalgetreues Übersetzen solcher Texte aussehen könnte. In Zeiten zunehmender Sensibilisierung und breit geführter Debatten wäre so etwas auch für Übersetzungen in meinen Augen wünschenswert.

Einen ähnlichen Kritikpunkt äußert auch Sieglinde Geisel in ihrer Besprechung des Buchs für SRF Kultur 2. Auch Isabella Caldart schlägt auf ihrem Blog in diese Kerbe. Thomas Wörtche hingegen lobt den großen Wurf McBrides im Deutschlandfunk Kultur.


  • James McBride – Der heilige King Kong
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN: 978-3-442-75924-8 (btb)
  • 448 Seiten. Preis: 22,00 €
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Doug Johnstone – Der Bruch

Kaum ein literarisches Genre blickt so tief in die sozialen Abgründe der Gegenwart, wie es der Kriminalroman tut. Der schottische Autor Doug Johnstone bestätigt das einmal mehr und zeigt, wie gut es funktionieren kann, wenn Spannung auf harten Sozialrealismus trifft.


In seinem Buch Der Bruch beschreibt er die Welt von Tyler Wallace. Dieser lebt in einem heruntergekommenen Hochhaus am Rande Edinburghs. Seine Mutter ist schwerst drogenabhängig und fällt als Erziehungsberechtigte vollkommen aus. Und so obliegt es dem 17-jährigen Tyler, für seine kleine Schwester Bethany, genannt Bean, zu sorgen. Der Vater ist längst verstorben, nur seine Halbgeschwister Barry und Kelly sind Teil der Familie.

Dog Johnstone - Der Bruch (Cover)

Aufgrund seiner kleingewachsenen Statur ist Tyler für seinen Halbbruder Barry das ideale Mittel zum Zweck. Denn Barry finanziert sich sein Leben und den immensen Drogenkonsum durch Einbrüche. Und so schickt er Tyler stets vor, um Häuser auszukundschaften und sich über Oberlichter Zutritt zu den Wohnungen der Besserverdienern von Edinburgh zu verschaffen.

Das überschaubare Leben der Familie findet allerdings nach einem Einbruch ein schnelles Ende. Denn Barry sticht bei einem schiefgelaufenen Bruch eine Frau nieder. Bei dieser Frau handelt es sich allerdings um die Frau eines lokalen Gangsterbosses. Und der lässt diese Tat nicht ungesühnt. Er bläst zur Jagd auf die Einbrecher und setzt sogar ein Kopfgeld aus.

Anspielungsreich und mit Hoffnung versehen

Es sind verschiedene Gründe, die für die Qualität dieses Krimis entscheidend sind. Da ist zunächst die Spannung, die Doug Johnstone immer intensiver in seinen Roman einfließen lässt. Nimmt er sich zunächst Zeit für die Skizzierung des sozialen Milieus und dem familiären Gefüge, wird spätestens mit der Kurzschlussreaktion von Tylers Bruder die Spannungsschraube angezogen. Der Bruch ist ein kriminalliterarisches Crescendo, das vom Piano des Beginns hin zu einem im wahrsten Sinne ohrenbetäubenden Finale reicht.

Die Sprache, die Doug Johnstone hierfür wählt, ist in nuancenreich und spiegelt das deprivierte Handlungsumfeld wieder. Den teilweise derben und ungeschönten Sound sollte man allerdings nicht mit Kunstlosigkeit verwechseln. Denn Johnstone beherrscht sein Metier und paraphrasiert in Bezug auf seine Wallace sogar Tolstoi.

Er wandte sich Flick zu. „Meine Familie ist voll abgefuckt“.

„Alle Familien sind abgefuckt“.

„Nicht wie meine.“

„Jede ist auf ihre eigene Art abgefuckt.“

Doug Johnstone – Der Bruch, S. 192

Solche Bezüge und Zitate sind schlau eingebunden und passen sich in den Gesamtkontext des Romans sehr gut ein. Und ja – die Hoffnungslosigkeit, die psychische und physische Gewalt spielt in Der Bruch eine wichtige Rolle. Aber es gibt eben auch die Dur-Akkorde, die das Moll des Buchs kontrastieren.

Diesen Kontrast bringt Doug Johnstone durch die Liebe in das Buch ein. Wie Tyler auf einem seiner Einbrüche Flick begegnet, wie sich diese beiden Außenseiter anziehen, wie sie Hoffnung schöpfen, das ist doch ausnehmend verheißungsvoll geschildert. Ob die Liebe jedoch in Erfüllung geht, das muss an dieser Stelle offenbleiben.

Fazit

Der Bruch steht in der Tradition des Sozialrealismus. Doug Johnstone schafft es, dass man hier in ein Milieu blickt, das sonst nicht viel Aufmerksamkeit erhält.

Diese Familie, in der schwerer Drogenmissbrauch, Hoffnungslosigkeit, Inzest und immer wieder ausbrechende Gewalt vorherrschen, lebt ebenso am Rande der Gesellschaft, wie sie geographisch auch tatsächlich tut. Das Leben dort in den Hochhäusern am Rande Edinburghs hat wenig mit dem sonst gut verkäuflichen Schottenkrimi gemein, wie ihn Ian Rankin, Helen Fields oder Oscar de Muriel schreiben. Hier verleiht jemand denen einen Stimme, die sonst eher verdrängt und totgeschwiegen werden.

Und das ergibt in Verbindung mit der ansteigenden Spannungskurve und der doch auch vorhandenen Hoffnung im Buch ein packendes Leseerlebnis. Gerne mehr hiervon!


  • Doug Johnstone – Der Bruch
  • Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
  • ISBN: 978-3-948392-20-8 (Polar Verlag)
  • 308 Seiten. Preis: 20,00 €
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Ryan Gattis – Das System

Es ist wirklich zum Haareraufen. Der größte kriminalliterarische Schund verkauft sich wie geschnitten Brot, literarische Stümpereien wie die sadistischen bis gewaltpornographischen Werke Sebastian Fitzeks erklimmen Jahr um Jahr Spitzenpositionen auf dem Buchmarkt. Und die wirklichen Könner*innen dümpeln unter ferner liefen auf dem Buchmarkt dahin. So ergeht es beispielsweise Dennis Lehane (mehr zu ihm hier in einigen Tagen) oder Simone Buchholz, die auf derartigen Listen sträflich unterrepräsentiert sind. Dagegen feiert als das Abgenutzte, dutzendfach Erzählte Erfolge um Erfolge und klettert in den Bestsellerlisten weit nach oben.

Ryan Gattis - Das System (Cover)

Zwar mache ich mir über den Einfluss meines kleinen Blogs hier keine Illusionen, dennoch möchte ich einmal mehr die Chance nutzen. Die Chance, auf einen außergewöhnlichen Thriller hinzuweisen, einen, der verschiedene Themen, literarische Spielarten und gesellschaftliche Analysen in sich vereint. Ein Buch, das die Zustände des amerikanischen Justizwesens und Gefängnissystem beleuchtet, eine Inneneinsicht in Rechtssprechung und Bandenwesen liefert, eines, das keine einfachen Antworten gibt. Geschrieben hat jenes Buch der Amerikaner Ryan Gattis und es trägt den Titel Das System. Die Übersetzung ins Deutsche besorgten Ingo Herzke und Michael Kellner.

Ein außergewöhnlicher Erzähler

Mit Das System liegt das dritte auf Deutsch übersetzte Buch von Ryan Gattis vor. 2016 erschien zunächst das Aufstandspanorama In den Straßen die Wut. Darin erzählte Gattis von sechs Tagen Ausnahmezustand, die in Los Angeles 1992 in Folge der Rodney King-Aufstände herrschten. Er entwarf darin das Panorama ein Gesellschaft, deren Widersprüche, Falschheit und Ungerechtigkeit zu einer Eruption führten, die der der Black Lives Matter-Proteste dieser Tage glich.

In seinem zweiten Buch Safe erzählte er die Geschichte eines Safeknackers, der nichts mehr zu verlieren hat und so gegen das organisierte Verbrechen für eine letzte Mission antritt. Sprach Die Presse vom „wohl herzzerreißendste Krimi des Jahres“, so unterschrieb ich dieses Urteil nac der Lektüre sofort. Ein außergewöhnliches Buch, das leider in der öffentlichen Wahrnehmung etwas unterging.

Bereits mit diesen beiden Werken ist es Gattis gelungen, einen eigenen, unverkennbaren Stil zu kreieren. Einen Stil, der nun auch in Das System Anwendung findet und der entscheidend ist für die Qualität dieses Buchs. Denn statt das Geschehen aus nur einer oder zwei Perspektiven zu beleuchten, wählt Gattis auch hier wieder ein ganzes Dutzend an Personen, die mit eigener Perspektive das Geschehen in der Ich-Perspektive schildern.

So erzählt Gattis von einem Strafverteidigerin, einer Staatsanwältin, Gangmitgliedern, Ermittlern und Bewohnern der Stadt Lynwood im County Los Angeles. Den Mittelpunkt des Geschehens aber bilden der Gangster Omar Tavira alias „Wizard“ und der Samoaner Jacob Safulu alias „Dreamer“. Letzterer bekommt von einem rassistischen Bewährungshelfer die Waffe eines Mordanschlags untergeschoben. In der Folge kommt es zur Verhaftung der beiden Männer, die in einem Prozess mündet.

Der Prozess – und seine Folgen

Diesen exerziert Ryan Gattis durch alle Stufen der Entwicklung. Als Leser*innen sind wir Zeuge, wie das Komplott seinen Anfang nimmt und wie sich die Dynamiken entwickeln. Die Verhaftung und die Untersuchungshaft, die Suche nach der Wahrheit über das Geschehen in der Nacht des Mordanschlags, es dominiert die Handlung des Buchs. Gattis liefert dabei Inneneinsichten in die Welt der Clans und der Strafjustiz. Auch wenn das Geschehen in Das System im Jahr 1993 kurz nach den Rodney King-Unruhen angesiedelt ist – Berichte aus den USA zeigen, dass sich das Strafsystem seither nicht merklich gebessert hat – im Gegenteil.

Das System ist formal konsequent gestaltet, in seiner Vielstimmigkeit überzeugend und gerade in seinem Verzicht auf einfache Antworten wirklich stark. Auch gelingt es Gattis eindrucksvoll zu zeigen, dass das System nur Verlierer kennt. Wer einmal in die Räder des Systems geraten ist, der findet kaum mehr heraus. Man mag so viel ungeschönten Realismus schwierig zu ertragen finden – das Buch überzeugt aber gerade durch diesen realistischen Blick und seine Schonungslosigkeit. In Form eines Justiz- und Gefängnisdramas gelingt hier Ryan Gattis ein Buch, das zeigt, was gute Kriminalliteratur kann. Und das dadurch dem üblichen Bestseller-Krimischund um Welten voraus ist.


  • Ryan Gattis – Das System
  • Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Michael Kellner
  • ISBN 978-3-498-02538-0 (Rowohlt)
  • 544 Seiten. Preis: 22,00 €
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