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Gian Marco Griffi – Die Eisenbahnen Mexikos

Es ist ein Plan, der an Absurdität kaum zu überbieten ist. Der junge Francesco „Cesco“ Magetti soll im beschaulichen Asti nichts weniger als eine Karte zeichnen, die Die Eisenbahnen Mexikos verzeichnet – auf Befehl von ganz oben. Und so macht sich der junge Mann darin, inmitten der Wirren des Zweiten Weltkriegs eine solche gewünschte Karte zu zeichnen, ohne jemals in Mexiko gewesen zu sein. Gian Marco Griffi macht aus dieser Ausgangslage einen Roman, der das Absurde, aber auch das Brutale und Gewalttätige in Zeiten des Faschismus grell ausleuchtet.


Asti ist eine Stadt im Norden Italiens, die man hierzulande sicherlich am ehesten für ihren Rot- und vor allem für ihren Schaumwein kennt. Im Piemont gelegen ist die Stadt nicht nur der Wohnort von Gian Marco Griffi – auch seinen Roman Die Eisenbahnen Mexikos siedelt er in dieser Stadt an.

Man tritt Asti nicht zu nahe, wenn man die Stadt nicht unbedingt als den Nabel der Welt bezeichnet. Regional gewiss von Bedeutung, weltpolitisch aber eher zu vernachlässigen ist die Stadt, die heute gut 73.000 Einwohner zählt. Bei Gian Marco Griffi konzentriert sich das ganze Schicksal allerdings auf jenen Ort, an dem der junge Cesco Magetti im Jahr 1944 beim Kommando der Republikanischen Nationalgarde der Eisenbahnen seinen Dienst tut.

Zahnweh und Zweiter Weltkrieg

Die Republik liegt in Schutt und Asche, die Nazis haben das Land besetzt, die Männer wurden zum Militärdienst eingezogen und um Cesco herum lösen sich alle Gewissheiten auf. Das ist für den jungen Mann dabei noch nicht einmal das Schlimmste. Denn zu allem Überfluss peinigt ihn Zahnweh, das ihn den Großteil des Romans über beschäftigen wird.

Es war eine üble Zeit. Ennio war desertiert, Luigi Bocca hatten sie versehentlich ins Ohrläppchen geschossen, Lehrer Pozzi hatte drei Finger seiner rechten Hand verloren und fluchte jedes Mal, wenn er zum Schreiben mit der linken herumfuhrwerken musste. Der König hatte Reißaus genommen, in den Zügen kamen Fahrgäste abhanden, der Barbier Gianni hatte ebenfalls Reißaus genommen, war auf irgendeinen Hügel gestiegen, um die Republik zu bekriegen, und im Viertel liefen alle mit ungemachtem Bart herum. Auch Pietro war desertiert, das Kino Gran Cinema Vittoria war geschlossen worden, mein Zahnarzt Grandi saß wegen Verrats im Gefängnis Le Nuove in Turin, und ich hatte seit drei Tagen Zahnweh.

Gian Marco Griffi – Die Eisenbahnen Mexikos, S. 9

Eigentlich aber sind die Zahnschmerzen das kleinste Problem des Nationalgardisten. Denn der bedauernswerte Magetti ist das Ende einer Befehlskette, die ihren Anfang in den obersten Kreisen der nationalsozialistischen Führung nahm. Schwer in die Defensive geraten meinen die Nazis nun aufgrund einer der vielen kuriosen und absurden Unwahrscheinlichkeiten in diesem Buch, das ausgerechnet im von Italien maximalweit entfernten Mexiko eine Wunderwaffe liegen soll. Ein geheimnisvoller Ort birgt sie, auf Karten findet er sich nicht. Ein Problem, das Cesco Magetti für die Machthaber lösen soll.

Eine Karte für die Eisenbahnen Mexikos

Gian Marco Griffi - Die Eisenbahnen Mexikos (Cover)

Die Anfertigung einer Karte, die diesen Ort ebenso wie die Eisenbahnen Mexikos beschreibt, endet bei ihm in so unmexikanischen Städtchen Asti. Als letzter Empfehlsempfänger in der Delegationskette macht er sich nun daran. die gewünschte Karte zu zeichnen. Über die Stadtgrenzen von Asti ist er allerdings nie wirklich hinausgekommen. Südamerikanischen Boden hat er erst recht nie betreten. Und so versucht er nun händeringend in der Provinz das zu beschaffen, was seine Vorgesetzten von ihm erwarten. Die Jagd nach hilfreichen Hinweisen gerät dabei aber zu einer Verkettung von Unwahrscheinlichkeiten und Absurditäten, die ihn zu Eisenbahndepots, Buchsammlern, in die Bibliothek und auf den Friedhof von San Rocco führt.

Dies bleibt beileibe nicht die einzige Verkettung von Ungemach und Schicksal. Die Eisenbahnen Mexikos ist voll von derlei wechselweise komischen und tragischen Verstrickungen, die die Figuren umfangen. Egal ob die Hintergründe für den absurden Plan der mexikanischen Eisenbahnkarte, die Jagd nach einem hilfreichen Buch oder die Befehlsketten der Nationalsozialisten – Gian Marco Griffi spürt mit viel Platz, Zeit und Detailfreude diesen Ketten nach.

Ausführlich erzählt er vom Wahnsinn, der mit dem Krieg einhergeht. Neben Himmelfahrtskommandos wie Cesco Auftrag als Kartograph sind es auch die Nazis, deren Gebaren der Roman auf komische, aber keineswegs lustige Art und Weise beschreibt, Immer schimmert durch alle Absurditäten, Fantastik und komische Momente auch die Brutalität des Kriegs durch. Egal ob in einer besondere Nazi-Entwicklungsabteilung in einer abgelegenen Villa im Elbtal oder dem Disput zweier golfspielender Soldaten auf dem Golfplatz.

Eine Mischung aus Absurdität, Verzweiflung, Komik, Gewalt und Slapstick

Es ist diese eigenwillige Mischung aus Absurdität, Komik, Verzweiflung, Gewalt und Slapstick, die Die Eisenbahnen Mexikos kennzeichnet. Immer wieder nimmt der Roman neue erzählerische Anläufe, nimmt unterschiedliche Perspektiven ein und lässt Originale wie einen Kornett spielenden Totengräber ihren Auftritt.

Ein stringentes und glaubwürdiges Leseerlebnis ist dieser 2023 für den Premio Strega nominierter Roman nicht immer. Vielmehr sind es die Grenzbereiche von Absurditäten und Wahnsinn, die Gian Marco Griffi hier in seinem fast barocken und sprachlich höchst vielfältigen (und von Verena von Koskull hervorragend aus dem Italienischen übersetzten) Roman ausführlich erkundet. Halb Odysseus, halb Sisyphos schickt er seinen zahnschmerzgeplagten Helden Cesco Magetti auf eine Reise, die man so schnell nicht vergisst.


  • Francesco Marco Griffi – Die Eisenbahnen Mexikos
  • Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
  • ISBN 978-3-546-10084-7 (Claassen)
  • 800 Seiten. Preis: 36,00 €
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Colson Whitehead – Underground Railroad

Bitte Einsteigen zu einer literarischen Tour der besonderen Art. Colson Whitehead lädt ein zu einer Fahrt mit der Underground Railroad zu den Wurzeln des Rassismus und ethnischen Konflikten. Doch Achtung – es wird keine gefällige Fahrt werden – Ruckeln und Bremsungen inklusive!

Sein literarischer Zug besteht aus verschiedenen Charakteren und Stationen. Die Hauptstrecke wird von Cora, einer jungen Sklavin mit unbändigem Freiheitsdrang, bestritten. Diese beschließt es ihrer Mutter nachzutun und von der Baumwollplantage in den Norden zu fliehen. Helfen soll ihr dabei die Underground Railroad, die Colson Whitehead als besonderer Kniff seines Romans einfach wörtlich genommen hat. Die Fluchtroute für die Sklaven in den Norden ist bei ihm nämlich nicht nur eine einfache Schmuggelroute, sondern tatsächlich ein unter der Erde Amerikas existierenden Eisenbahnnetz. Dieses gut geschützte Geheimnis wird von verschiedenen Stationsvorstehern bewacht. Für Cora stellt es die Lösung dar, um ihrer Baumwollplantage und ihrem Schicksal zu entkommen und nach North Carolina zu fliehen.

Dort herrscht eine mildere Form der Rassentrennung; Abolitionismus und Anerkennung von entlaufenen Sklaven kennzeichnen diesen Staat. Dass gut gemeint auch immer noch bestürzend fatal sein kann, zeigt Colson ins Szenen und Dialogen, die heute nur noch den Kopf schütteln lassen. Wie etwa denen, in denen es um Vergewaltigung und Zwangssterilisation geht:

„Die Entscheidung liegt natürlich bei dir“ sagte der Arzt. „Seit dieser Woche ist die Operation für einige im Staat zwingend vorgeschrieben. Für farbige Frauen, die schon mehr als zwei Kinder geboren habe, im Sinne der Bevölkerungskontrolle. Für Schwachsinnige und anderweitig geistig Ungeeignete, aus naheliegenden Gründen. Für Gewohnheitsverbrecher. Aber für dich gilt das nicht, Bessie.“ (Whitehead, Colson: Underground Railroad, S. 134)

Gerade in diesen Szenen und Beschreibungen gelingt es dem amerikanischen Autor, ein vielgestaltiges und nuanciertes Bild der Sklaverei- und Rassismusproblematik zu zeichnen. In diesen Szenen ist das Buch besonders stark und berührt und verstört durch die ungefilterte Darstellung der Leiden Coras, die stellvertretend für Millionen Schicksale steht.

Immer wieder wechselt Whitehead seine erzählerischen Abteile, springt von Cora zum Kopfgeldjäger Ridgeway, der die Verfolgung der jungen Sklavin aufgenommen hat. Er bremst die Erzählung manchmal auf ein gemächliches Tempo herunter, dann beschleunigt er und rafft die Handlung, sodass der Leser sich manchmal anstrengen muss, um an Bord zu bleiben. Durch verschiedene Staaten geht es, verschiedene Menschen erzählen (Deutsche Übersetzung durch Nikolaus Stingl).

Mit der ganzen Fülle der Details gelingt ihm ein umfassendes Porträt des zentralen (amerikanischen) Problems, das bis heute in die Gesellschaft fortwirkt. Erschütternd zu sehen, welchem Leid und welcher Verfolgung die farbige Bevölkerung ausgesetzt war – und noch erschütternder zu sehen, dass auch heute noch genau die gleichen Probleme existent sind. Ein amerikanischer Präsident, der das Wirken des KuKluxKlans nicht verurteilen mag, White Supremacists und die Black Lives Matter Bewegung – all das sind nur einige Schlagworte, die zeigen, wie immanent wichtig Whiteheads Buch ist, um die amerikanische Gesellschaft in Ansätzen verstehen zu wollen. Deshalb ist das Buch für mich auch ein Schlüsselroman Amerikas und unbedingt zu empfehlen

Ein sperriges Buch, eine fantasievoller Roman – oder um mit den Worten Colson Whiteheads zu schließen:

Wenn man sehen will was es mit diesem Land auf sich hat, dann muss man auf die Schiene. Schaut hinaus, während ihr hindurch rast und ihr werdet das wahre Gesicht Amerikas sehen (Whitehead, Colson: Underground Railroad, S. 301).

 

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Richard Flanagan – Der schmale Pfad durchs Hinterland

Krieg und Poesie

Spätestens nach diesem Buch des tasmanischen Autors Richard Flanagan kann ich konstatieren, dass ich einen neuen Lieblingsschriftsteller gefunden habe. Riss mich bereits das im Original 2002 erschienene Buch Goulds Buch der Fische mit seiner barocken Sprachgewalt und Konstruktion mit, so hat es Flanagan nun abermals geschafft, mich zu fesseln und in die von ihm geschilderte Welt hineinzuziehen.

Richard Flanagan - Der schmale Pfad durchs HinterlandHintergrund für Der schmale Pfad durchs Hinterland ist Flanagans eigene Familiengeschichte, um die herum er diese mit dem Man-Booker-Prize ausgezeichnete Erzählung baut. Sein eigener Vater war damals im Zweiten Weltkrieg Kriegsgefangener und musste beim Bau der Thailand-Burma-Eisenbahnstrecke mithelfen. In diesem Buch trägt der Held nun den Namen Dorrigo Evans und ist ebenfalls japanischer Kriegsgefangener, obwohl ihm eigentlich eine Karriere als vielversprechender Chirurg in Aussicht stand. Unter der Extrembelastung eines unmenschlichen Arbeitslagers wächst jener allerdings über sich hinaus und bewährt sich als Vorsteher der Kriegsgefangen. Diese sollen nämlich in einer Art Sisyphosarbeit einen Eisenbahnlinie durchs japanische Hinterland bauen, und das in einem Rekordtempo. Als Puffer zwischen den japanischen Offizieren und seinen von Hunger, Krankheit und Elend zersetzen Mitgefangenen versucht Dorrigo dabei den Spagat und verzweifelt bei seinem Kampf, möglichst viele seiner Männer am Leben zu erhalten. Kraft schöpft er aus einer vor dem Krieg erlebten Affäre, die ihm inmitten der tiefsten Stunden voll Leid noch Hoffnung und Zuversicht spendet.

Eine gewagte Mischung

Der schmale Pfad durchs Hinterland ist eine gewagte Mischung aus Kriegsbericht, Liebesgeschichte und Poesie. In den Händen von Richard Flanagan wird daraus eine herausragende Erzählung, die die Balance zwischen Leid und Liebe, zwischen brutalem Grauen und Poesie schafft. Seine Helden sind keine strahlenden Gewinner, die Lageraufseher keine rein bösen Gestalten. Immer wieder flicht er in die Beschreibungen des Vegetierens und des Leids im Lager auch Haikus und poetische Gedanken ein – und schafft so eine ausgewogene Balance zwischen den unterschiedlichen Polen.

Diese Mischung geht auch deswegen vollkommen auf, da sich Flanagan hier einmal mehr als Meister der Konstruktion entpuppt. In verschiedene Teile aufgebaut erzählt er von Dorrigos Leben, wobei er gleich auf den ersten Dutzend Seiten die gesamte Biografie anreißt und dann im Folgenden diese Skizze mit Farbe und Leben füllt. Seine Erzählung zehrt auch wieder von einer präzisen Sprache (Übersetzung durch Eva Bonné) und der Fähigkeit von Flanagan, Szenen auf den Punkt zu verdichten. Ihm gelingen Beschreibungen, die auch über das Buchende hinaus im Kopf bleiben und nachhallen (wie etwa die Notoperation eines Kameraden inmitten von Chaos und Leid).

Zudem macht für mich dieses Buch besonders, dass es mich in ein Kapitel der Geschichte mitnahm, das ich so nicht kannte. Die Betrachtung des Zweiten Weltkriegs aus australisch/tasmanischer Perspektive war neu für mich und auch das Thema der australischen Strafgefangenen, die in Lagern in Japan leiden musste, kam mir so noch nicht unter.

Hier kommen somit zwei Dinge zusammen: ein unbekanntes Kapitel der Geschichte, das mit einer makellosen Prosa verschmilzt und so unterhält, Einblick verschafft und neue Horizonte eröffnet. Das muss besondere Literatur leisten und Der schmale Pfad durchs Hinterland tut genau das. Zurecht mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet!

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