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Kevin Barry – Dunkle Stadt Bohane

Die Stadt des Wahnsinns

Ein Buch, bei dem der Übersetzer im Nachwort seine Übertragung erklärt und dem Leser nahebringt, dass das Buch in der Übersetzung für den deutschen Leser leichter verständlich ist als für den Leser, der das englische Original vor sich hat – das gibt’s nicht? Doch das gibt’s. Das Buch heißt Dunkle Stadt Bohane und geschrieben hat es Kevin Barry

Die schmutzige Stadt

Worum geht es in „Dunkle Stadt Bohane“? Bei dem Versuch das 300 Seiten starke Buch zu subsumieren stößt man bereits auf erhebliche Schwierigkeiten – zu divers und vielfältig sind die Plots und Erzählstränge, die Kevin Barry in seinem Debütroman verwebt.
Das Grundkonstrukt allerdings macht jedem Western alle Ehre – ein Gangster namens Logan Hartnett herrscht im Jahre 2053 über Bohane, die auf einer Halbinsel gelegene zersiedelte Stadt, die dem Fluss Bohane ihren Namen verdankt. Die korrupte, schmutzige und zutiefst verkommene Stadt vegetiert vor sich hin, bis ein alter Bekannter – der Gant – wieder in seine Heimat zurückkehrt. Die Liebe zu Logans Gattin Macu und der Wunsch nach Rache treiben ihn zurück nach Bohane.
Derweil sinnen die verfeindeten Stadtteile Bohanes auf eine große Fehde, Verräter schleichen durch die Gassen, die Polizei schaut weg, wenn das organisierte Verbrechen zuschlägt und einige Protagonisten wollen aus dem Schlamassel ihren ganz eigenen Vorteil ziehen.

Eine einzigartige Sprache

Wenn man „Dunkle Stadt Bohane“ liest, dann scheint es, als hätte Kevin Barry diverse Dystopien, „West Side Story“, „Mad Max“, ein paar Western-Klassiker, Scorseses „The Departed“, die Bücher Mario Puzos und dergleichen mehr zusammen verquickt, durch den literarischen Fleischwolf gedreht und das Ergebnis im irischen Literaturinstitut unter Leitung von James Joye zum Redigieren abgegeben. Ein kaum in Worte zu fassendes (und manchmal auch arg anstrengendes) Konglomerat aus Bezügen, Anspielungen und Referenzen ist „Dunkle Stadt Bohane“ geworden.
Kevin Barry                                                        (c) The Guardian
Der mit reichlich Preisen ausgezeichnete Debütroman (unter anderem der IMPAC Dublin Literary Award, der Rooney Prize for Irish Literature, der Authors’ Club Best First Novel Award und der European Union Prize for Literature wurden dem Buch zugesprochen) zeichnet sich neben seiner inhaltlichen Fülle und Variation vor allem durch seine Sprache aus.

Die unterschiedlichen Bewohner der Stadtteile sprechen verschiedenste Slangs, von der Hochsprache bis hin zum Gossensprech ist alles mit dabei. Dies macht „Dunkle Stadt Bohane“ manchmal unglaublich schwer zu lesen, fasziniert muss man aber auch die Übersetzungsleistung von Bernhard Robben (er übertrug u.a. John Williams‘ Stoner und Ian McEwans Abbitte) anerkennen.

Er schafft es, im Deutschen die Dialekte und Sprachvariationen mit einer ganz eigenen Sprachenkreation zu würdigen.
Erhellend auch das Nachwort des Autoren und des Übersetzers, die dazu animieren, sich mit dem Gelesenen noch einmal zu beschäftigen, Bezüge und Referenzen zu suchen. Auch erklärt hier Bernhard Robben seine Schwierigkeiten bei der Übertragung der Sprache von Kevin Barry, da es für das vom Autoren verwendete Irisch kaum eine Möglichkeit gibt, mit der die Sprachfülle des Originals abgebildet werden kann. Somit verschlanken sich im Deutschen die Ausdrücke und die Sprachen, die die Protagonisten sprechen, was wiederum dazu führt, dass man das Buch in seiner  deutschen Übersetzung eher versteht. Kurios aber durchaus plausibel.
Wer Freude an experimenteller Literatur, besonderen Übersetzungen und Soziolekt hat, der sollte „Dunkle Stadt Bohane“ oben auf seine Leseliste packen. Alle anderen, die sich einen klar strukturierten Thriller erhoffen, der sie abschalten lässt, sollten lieber zu einem anderem Buch im Krimiregal greifen.
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Ian McEwan – Kindeswohl

Down by the salley gardens …

Der britische Schriftsteller Ian McEwan legt mit Kindeswohl ein Buch vor, das zwischen Juristerei, Liebe, Musik und Verantwortung oszilliert. Sein neuer Roman ist zwar äußerlich nicht umfangreich (gerade einmal 220 Seiten zählt das von Werner Schmitz übersetzte Buch), dafür aber sehr gehaltvoll. McEwan erzählt von Fiona Maye, einer circa 60-jährigen Richterin, die am High Court als Familienrichterin ihren Dienst mehr als korrekt versieht. Von Kollegen für ihr brillant formulierten Urteile geschätzt, hat sie nicht nur in ihrem Gerichtssaal alles unter Kontrolle, bis sie sich eines Tages auf das Minenfeld der Liebe begeben muss. Ihr Mann beklagt das eingeschlafene Eheleben des Paares, weshalb er von Fiona das Eingeständnis einfordert, sich eine Geliebte nehmen zu dürfen. Zudem ist Fiona beruflich auch noch mit einem hochdiffizilen Fall eines siebzehnjährigen Zeugen Jehovas konfrontiert, der eigentlich einer Bluttransfusion bedürfte, diese aus Glaubensgründen jedoch ablehnt. Die geordneten Verhältnisse Fionas geraten zunehmend außer Kontrolle …

Komplizierte Frauengestalten sind ja die Spezialität Ian McEwans – und in Kindeswohl zeigt er seine Meisterschaft im Entwerfen solcher Figuren erneut. Seine Richterin Fiona Maye ist eine ambivalente Figur, der man gerne durch die Gerichts- und Gedankengänge folgt und die auch nach der Lektüre noch im Gedächtnis des Lesers bleibt. Dem britischen Großautoren ist es auch hoch anzurechnen, dass in seinen fachkundigen Händen die Juristerei zu einer wunderbar zu goutierenden Prosa gerät. Ebenso wie die Gesetzgebung durchzieht die Musik den Roman unaufdringlich und verwebt so die akustischen, philosophischen, juristischen und amourösen Gedanken der Protagonisten zu einem dichten Netz, das auch allen Nicht-Juristin gerne empfohlen werden kann. Ein wunderbar geschriebener Roman mit einem nicht alltäglichen Thema, das durch die Schreibe Ian McEwans zu großer Literatur wird und den Leser grübelnd ob dem Gelesenen zurücklässt.

Mittlerweile gibt es auch eine Verfilmung mit Emma Thompson in der Rolle von Richterin Fiona Maye. Hier ein Trailer für einen Eindruck der Leinwandadaption:

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Daniel Clay – Die Bewohner von Drummond Square

Die Asozialen

Wehe dem, der solche Nachbarn hat. Gegen die Oswalds, die eine tragende Rolle in Daniel Clays Debütroman Die Bewohner von Drummond Square verblassen alle Nachbarschaftstreite, die vorzugsweise im Privatfernsehen ausgetragen werden.

Daniel Clay wirft einen Blick in den Mikrokosmos des Drummond Square, einer trostlosen englischen Vorstadt in Southhampton. Dort leben die Oswalds, eine typische Familie der Gattung White Trash. Die Familie besteht aus dem kriminellen Vater Bob Oswald und seinen fünf Töchter, die von der Sozialhilfe leben und ihr Umwelt terrorisieren. Die anderen Kinder und deren Eltern fürchten die asozialen Nachbarn, aber niemand wagt es gegen die verhassten Nachbarn aufzubegehren. Das Recht des Stärkeren regiert und was mit Schlägen gegen ein Kind durch Bob Oswald beginnt wird am Ende des Buches in einer großen Katastrophe enden.

Vorab: Der Originaltitel „Broken“ wäre deutlich besser als der in der deutschen Übersetzung gewählte Titel „Die Bewohner von Drummond Square“. „Broken“ ist nicht nur der Name eines Charakters, dem große Bedeutung zukommt, sondern zeigt auch den Verlust von Stabilität und Verlässlichkeit.

Dysfunktionale Familien, Gewalt und keine Hoffnung

Mag das Cover auch noch relative Ordnung symbolisieren, im Buch ist nichts mehr davon übrig. Tristesse dominiert und manchmal erwischte ich mich als ich das selbe Ohnmachtsgefühl während der Lektüre verspürte, wie es die Akteure in „Die Bewohner von Drummond Square“ verspüren. Es ist kein Buch, das gute Laune macht oder dem Leser eine gute Zeit beschert – dafür ist es zu realistisch und schon nahezu naturalistisch.

Insgesamt ein Debüt, das noch Ecken und Kanten und offenbart und Steigerungspotential aufweist. Für einen ersten Wurf allerdings schon erstaunlich weit und mit einem Willen zum Realismus, den man nur bewundern kann. Ins Deutsche übertragen wurde dieses Buch von Rudolf Hermstein.

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Reginald Hill – Rache verjährt nicht

Wolf ha(c)kt die Sache ab

Es ist einer der menschlichen Grundtriebe und das Grundthema dieses großartigen Romans: Rache.

Ähnlich wie im weltberühmten Roman Der Graf von Monte Christo von Alexandre Dumas – auf den auch Reginald Hill anspielt – wurde auch in Rache verjährt nicht ein Mann hereingelegt und um seinen Ruf gebracht.

Wilfred Hadda, genannt Wolf, stieg mit seiner Firma Woodcutter Enterprises in die höchsten finanziellen Sphären auf, um anschließend tief zu fallen. Nach einer Razzia auf seinem Grundstück wird er mit einem ungeheuerlichen Vorwurf konfrontiert: er soll der Konsument von Kinderpornographie sein. Der anschließende Leidensweg des Mann hätte von Kafka nicht besser ersonnen werden können. Verurteilt und nach einer vergeblichen Flucht körperlich entstellt harrt Hadda seiner Entlassung um anschließend Rache zu nehmen.

Ein Mann will Rache

Was sich nach der Beschreibung des Klappentextes wie ein unbarmherziger und blutiger Rachefeldzug anliest, ist in Wahrheit etwas anders. Der elegante Stilist Reginald Hill erzählt eine aus mehreren Teilen bestehende Geschichte. Diese ist die Biographie eines gefallenen Mannes , eine Ode an Hills Heimat Cumbria im Norden Englands und eine Studie über Rache.

Wer ein Metzelmassaker mit der Axt im Stile eines Charles-Bronson-Films erwartet, dürfte sich schnell enttäuscht sehen. Anstelle von Gewalt dominiert die Auseinandersetzung zwischen dem einsitzenden Wolf und seiner Psychiaterin Alva Ozigbo. Dies mag nicht spektakulär sein, doch packend ist es auf jeden Fall.

Reginald Hill - Rache verjährt nicht (Cover)

Die Geschichte ist voller Esprit, witzig, mit sensationell ausbalancierten Dialogen und Bonmots versehen und nicht zuletzt auch gut ins Deutsche übertragen (übersetzt von Ulrike Wassel und Klaus Timmermann). Das macht aus Rache verjährt nicht ein besonderes Buch, das britisch im besten Sinne ist und zugleich über die ganze beachtliche Länge von knapp 700 Seiten. Ein geistreicher Roman bei dem ich sehr darüber geärgert habe, Reginald Hill erst jetzt entdeckt zu haben, obwohl er wahrlich schon einige Bücher veröffentlicht hat.

Über die ganze Lektüre hinweg hatte ich nur einen traurigen Gedanken im Hinterkopf. Dieser großartige Roman wird der letzte von Reginald Hill gewesen sein. Leider verstarb Hill im Jahr 2012. Ich hätte mir noch zahlreiche weitere Bücher von diesem eleganten Romancier gewünscht!


  • Reginald Hill – Rache verjährt nicht
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN: 978-3-518-46473-1 (Suhrkamp)
  • 683 Seiten, Preis: 9,99 €
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John Lanchester: Kapital

Ein kapitaler Roman

Leider lässt sich der wunderbar zweideutige Titel Capital im Original nur ungenügend ins Deutsche übertragen. Dennoch trifft auch Kapital fast den Kern der Sache, auch wenn das Buch noch einen zweiten Hauptdarsteller kennt, nämlich die Finanzkapitale London.
Diese bricht John Lanchester gekonnt auf die Pepys Road herunter, die Hauptdarsteller im Buch ist. In ihr lebt ein buntes Panoptikum an Londoner Bürgern an deren täglichen Leben und Sorgen Lanchester uns teilhaben lässt. Es wird geliebt, gestorben, getäuscht und gespielt. Der Autor berichtet von Bankern, Senioren, illegalen Immigranten und Fußballtalenten. Stets souverän erzählt ihr von ihren kleinen und großen Sorgen und entwickelt so einen höchst ansprechenden Episodenroman. Kapital kann als literarische Antwort auf die Finanzkrise gelesen werden – spielt ja ein Banker mit großen Problemen eine der zentralen Rollen im Buch. Ebenso kann der Roman aber auch als Panorama unserer Zeit und unserer Probleme gelesen werden, will man nicht unbedingt die Verbindung zur akuten Finanzkrise herstellen.
Als subtiles Thema flicht John Lanchester den Erzählstrang von mysteriösen Briefen und Nachrichten ein, die verkünden „Wir wollen was ihr habt“. Mal droht diese Strang ganz zu verschwinden, dann mäandert er wieder in voller Breite durch das Buch, immer um zu zeigen, wie die Bewohner die Pepys Road verändert haben und wie die Pepys Road die Menschen geändert hat. Deshalb aber aus dem Buch einen Krimi stricken zu wollen, wäre verkehrt. Vielmehr zeigt Lanchester in diesem kurzen Stück Literatur gewordener Gegenwart auf, wie sich unsere Leben gegenseitig beeinflussen und welche Folgen manche Handlungen haben können. Besonders eindrücklich wird dies an den Stellen, an denen der Engländer von einer illegalen Immigrantin oder von einem unter Terrorismusverdacht geratenen muslimischen Bürger berichtet.
Ein fesselndes Buch, da es nicht mehr sein will als eine kurze Skizze unseres täglichen Lebens. Ein Buch über Einzelschicksale, London und über das Leben allgemein!

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