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Elisabeth Herrmann – Der Schneegänger

Sanelas zweiter Einsatz

Der Schneegaenger -Elisabeth Herrmann

Der Schneegänger -Elisabeth Herrmann

Nachdem sie ihren letzten Einsatz im Dorf der Mörder nur knapp überlebt hat, will Sanela Beara eigentlich nichts mehr mit dem Streifendienst zu tun haben. Stattdessen büffelt sie lieber kräftig, um ihr Polizisten-Studium gut über die Bühne zu bringen. Doch trotz aller Ambitionen hat sie nicht die Rechnung mit dem KHK Lutz Gehring gemacht, der bei einem schwierigen Fall auf Sanelas Hilfe angewiesen ist. Ein Jäger hat in einem Waldstück die verscharrte Leiche eines kleinen Jungen gefunden. Eben dieser Junge wurde vor vier Jahren und entführt und trotz aller Ermittlungen konnte die Polizeidamals kein Lebenszeichen des Jungen geschweige denn Informationen über die Entführer ermitteln. Nun bietet sich für Gehring  die Möglichkeit, den Cold Case aufzuklären, indem er auf die Hilfe von Sanela Beara zurückgreift, denn diese verbindet mit dem Jungen die kroatischen Wurzeln.

Gegen den Willen von Gehring beschließt Sanela sich undercover in das Haus einzuschleusen, in dem der Junge mit seiner Mutter wohnte. Denn offensichtlich lauern hinter der Fassade der Prachtvilla dunkle Geheimnisse, die die Familie des Opfers und die Besitzer der Villa lebten. Schon bald gleichen Sanelas Ermittlungen einem Drahtseilakt.

Eine unangepasste Ermittlerin

Mit Sanela Beara hat Elisabeth Herrmann neben ihrem Anwalt Joachim Vernau eine zweite große Figur geschaffen, die die Leser für sich einnimmt. Mit ihrem unangepassten Wesen, mit dem sie nicht nur den Kriminalhauptkommissar Gehring immer wieder auf die Palme bringt, bleibt sie im Gedächtnis der Leser.

Erreicht nicht die Klasse des Vorgängers

Leider muss ich konstatieren, dass Der Schneegänger mitnichten so packend gelungen ist wie Sanelas erster Fall Das Dorf der Mörder. Zwar vermag es Elisabeth Herrmann auch in diesem neuen Buch wieder gekonnt, Atmosphäre zu schaffen, leider trägt der Handlungsbogen nicht über die Dauer des Buches. Einige Längen haben sich in das Buch eingeschlichen – und auch an die Originalität von Das Dorf der Mörder reicht der Fall nicht heran. Stattdessen meinte ich eher des Öfteren eine bräsige Folge von Der Alte oder Der Kommissar zu lesen, als die beiden Polizisten in der Reichen-Villa ermittelten. Die Motive und Charaktere sind für meinen Geschmack leider zu stereotyp geraten (der geheimnisvolle Wolfsforscher, der abgefeimte reiche Villenbesitzer, der verschlagen-manipulatorische Zögling, etc.) und so bleibt mir nur die Hoffnung dass es bei Sanelas drittem Einsatz wieder bergauf geht!
Wer dem Roman (der trotz aller Mängel immer noch besser als die andere kriminelle Dutzendware ist) eine Chance geben möchte, erhält hier noch einen kleinen Teaser: Die Autorin Elisabeth Herrmann schildert höchstselbst den Plot von Der Schneegänger und gibt Einblicke in das Buch.

Viel Spaß beim Schauen und bei der Lektüre des Buches wünsche ich!

Hakan Nesser – Himmel über London

Die Wolken ballen sich und kulminieren gewaltig über London: verschiedene Personen versammeln sich zu einem letzten Geburtstag, die Menschen haben völlig unterschiedliche Schicksale, die Motive sind unklar und dann schleicht auch noch ein Serienmörder durch die wolkenverhangene englische Metropole. Alles andere als auf den ersten Blick durchschaubar ist das Handlungsgerüst, das Himmel über London zugrunde liegt – und dann springt Nesser auch noch in der Zeit und in den Erzählebenen herum – dies verlangt dem Leser schon Einiges ab.

Wohlweislich prangt das Signet Roman auf dem Cover, denn wer sich vom Namen Hakan Nesser zur Annahme verleiten lässt, dass es sich hierbei um einen Krimi handelt, dürfte sich enttäuscht sehen. Zwar geht es auch noch peripher um einen Serienmörder, der bei seinen Opfern eine kaputte Uhr hinterlässt, dies ist aber der wohl nichtigste Erzählstrang.

Stattdessen ist Himmel über London die Studie eines todkranken Mannes inklusive dessen Familie, ein Spionageroman und eine Verneigung vor der titelgebenden Stadt London. Jeder der einzelnen Gäste, die Leonard Vermin auf seiner letzten Geburtstagsfeier begrüßt, hat einen eigenen Erzählstrang und über das ganze Buch hinweg schafft es Nesser, den Leser im Ungewissen zu halten, was diese Personen im Innersten zusammenhält.

Wer an den Romanen von Ian McEwan oder William Boyd seine Freude findet, der dürfte auch mit Himmel über London gut beraten sein.
Mit seinem neuesten Roman gelingt Hakan Nesser eine andere Tonlage als sie sonst in seinen Van-Veeteren- und Barbarotti-Krimis herrscht. Wer sich von Erwartungen losmacht, überraschen lässt und genügend Konzentration mitbringt, der erhält mit Himmel über London einen eigenwilligen und vielschichtigen Roman aus der Feder eines der besten skandinavischen Autoren!

Taiye Selasi – Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so ist das Debüt der Amerikanerin Taiye Selasi in der literarischen Disziplin des Romans. Bisher ist sie eher mit Aufsätzen und Erzählungen in Erscheinung getreten, um jetzt mit ihrem Romanerstling die Kritik auf sich aufmerksam zu machen.

Der Roman erzählt von der wahrlich kosmopolitischen Familie, die der Bostoner Chirurg Kwaku und seine Frau Fola gegründet haben. Ausgehend vom Tod des Familienoberhaupts erzählt Selasi von seinen Söhnen und Töchtern und seiner Frau Fola, die auf allen Erdteilen verstreut leben. Erst der Tod Kwakus führt die Familie wieder zusammen und es wird klar, was sie im Innersten zusammenhält.

Ebenso bunt wie das Cover kommt auch die Handlung und Familie von Diese Dinge geschehen nicht einfach so daher. Taiye Selasi schert sich nicht um Konventionen und erzählt ihren Roman sprunghaft und in Episodenform, wild durcheinander geschnitten. Leser, die einen linearen Aufbau nach altbekanntem Muster erwarten, dürften von diesem im S. Fischer-Verlag erschienen Buch enttäuscht werden. Selasi erweitert mit ihrem Sprachsensorium die Grenzen des für mein Empfinden oftmals recht altbacken daherkommenden Familienroman gewaltig.

Mühelos gelingt ihr der Spagat zwischen den verschiedenen Personen, dem Beziehungsgeflecht und den höchst unterschiedlichen Viten, die, obwohl der Roman insgesamt nur 400 Seiten zählt, allesamt hervorragend verknüpft sind. Themen wie die Suche nach Identität und das Verbindende von Familien sind das Hauptmotiv in diesem Roman, der diese elegant einkreist und in den Mittelpunkt stellt.

Wer das Schicksal einer etwas anderen Familie beobachten möchte und Literatur sucht, die abseits ausgetretener Pfade wandelt, dürfte mit Diese Dinge geschehen nicht einfach so richtig beraten sein!

Marjorie Celona: Hier könnte ich zur Welt kommen

Ydentität

 

„Mit sechzehn ist mir klar, was ich bin und was ich nicht bin. Ich werde kein Supermodel sein – [man erzählt] dass meine Mutter nur einen Meter zweiundfünfzig maß und ihre Schultern fast doppelt so breit waren wie ihre Hüften, was ihr die Statur eines Linebackers im Miniformat verlieh. Und das wird auch meine Statur sein. Außerdem ist inzwischen klar, dass ich auf dem linken Auge vollständig blind bin.“ (Marjorie Celona: Hier könnte ich zur Welt kommen, S. 144)

So beschreibt sich Shannon, vor einem YMCA ausgesetztes Findelkind, schonungslos selbst und offenbart dabei gleich das Dilemma, das „Hier könnte ich zur Welt kommen“ von Marjorie Celona im Kern bestimmt. Shannon kennt weder ihre Herkunft noch ihren leiblichen Vater oder ihre Mutter.

Das im Original schlicht mit dem Titel „Y“ übertitelte Werk erzählt anschaulich und eindringlich von der Suche nach Shannons Identität und ihren Eltern.

Nach einer Odyssee durch verschiedene Familien und damit auch verbundene Namenswechsel endet Shannon, wie sie von nun an heißen soll, bei der alleinerziehenden Miranda und ihrer Tochter Lydia-Rose. Themen wie innerfamiliäre Kämpfe, Auflehnung, Selbstfindung und der Wunsch nach den Hintergründen von Shannons Identität dominieren in der Folge die Familie der drei Frauen.

Celona schildert all dies eindringlich und handwerklich äußerst geschickt, indem sie zwei Erzählstränge miteinander verknüpft. Sie streut immer wieder Teile über Shannons Familie und die Zeit vor ihrer Geburt ein, den Löwenanteil macht aber die Ich-Perspektive Shannons aus. Hier wählt Marjorie einen geschickten erzählerischen Kniff, indem sie die Ich-Perspektive mit einem auktorialen, also allwissenden Erzähler, verknüpft. So referiert Shannon schon über den Moment ihrer Aussetzung bis hin in ihre Sturm-und-Drang Zeit. Eine solch konsequente Erzählhaltung habe ich zumindest noch nicht oft gelesen – und diese macht in meinen Augen auch den Reiz des Buches aus. Eindringlich verfolgt man Shannons schwierigen Werdegang und kann sich leicht mit der Heldin identifizieren, da man die Welt durch ihre Augen betrachtet.

En passant reißt Celona große Fragen an und bringt den Leser zur Selbstreflektion: Was bedeutet uns Identität, was prägt uns, wonach sehnen wir uns im Leben? Es spricht für die Debütautorin, dass sie keine starren Antworten auf diese Fragen gibt, sondern sie dem Leser überlässt.

Ein kluges und eindringlich Buch, dass die Y-Dentität in den Mittelpunkt stellt.