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Nelio Biedermann – Lázár

Generationenroman, Dokumentation des Verfalls einer aristokratischen Familie und Beschreibung des Schreckens des Kommunismus – Nelio Biedermanns Roman Lázár weckt Assoziationen mit großen Vorbildern, tappert dann aber etwas hilflos in den Fußspuren der großen Meister.


Wieder einmal bedient sich ein junger Autor der beliebten Erzählweise des Generationenromans, um mithilfe der voranschreitenden Erzählzeit vom Vergehen des Alten und des Entstehends von Neuem zu erzählen. Bei ihm ist es das adelige Geschlecht der Lázárs, das im Mittelpunkt seines Romans steht. Die Mitglieder der Familie wohnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihrem Waldschloss in Ungarn.

Noch sind die Aristokraten als Teil der k. u. k.-Monarchie angesehen und leben mit Angestellten und Pferden im ungarischen Niemandsland. Doch schon bald wird nicht nur die Monarchie zu einem Ende kommen, auch die alte Generation findet umnachtet zu ihrem Ende und so ist es an Lajos von Lázár, die nächste Generation in das neue Zeitalter zu führen. Nach dem Ersten und dann dem Zweiten Weltkrieg ist es der Kommunismus, der nun erblüht und der für das Geschlecht der Lázárs tiefgreifende Veränderungen bereithalten wird.

Der ungarische Leopard

Nelio Biedermann - Lázár (Cover)

Eine Aristokratenfamilie, ein Jahrhundert, das seinem Ende kommt und die neue Generation, mit der alles anders werden soll – vieles in Nelio Biedermanns Roman erinnert an einen der großen Literaturklassiker, nämlich Giuseppe Tomasi di Lampedusas Der Leopard (mit dessen Verfasser Nelio Biedermann auch zumindest väterlicherseits die adelige Herkunft teilt). Legt man di Lampedusas Roman neben Lazár, zeigt sich aber, dass die Fußstapfen solcher Vorbilder doch etwas arg groß sind.

Denn auch wenn das Erzählgerüst funktioniert, der Wandel von der Monarchie hin zum Kommunismus mit all seinen Verheerungen recht sauber über die Familiengeschichte gelegt ist, hat das Ganze doch etwas leicht Schulbuchhaftes. So hakt der 2003 geborene Biedermann alle bekannten geschichtlichen Aspekte der Zeit ab (Vergewaltigungen durch die Rote Armee nach und Hinrichtung eines Nazi-kritischen Priesters während des Kriegs, sogar eine seltsam unmotiviert im Roman stehende Schilderung des Todes Stalins gibt es, die im Gesamtkontext des Romans nicht so recht Sinn ergeben mag).

Sprachlich nicht ganz stimmig

Auch sprachlich ist das Ganze nicht immer ganz stimmig.

Kaum war die Sonne hinter die Hügel gesunken, hatten Mária und Jonathan das Schloss verlassen, wobei sie links und er rechts um das Städtchen spaziert war. Hinter dem Friedhof hatten sich ihre Wege gekreuzt. Sie hatten sich schon von Weitem gesehen, denn der Sommerhimmel trug noch das Licht des Tages.

Zuerst hatten sie umdrehen wollen, sie waren sich noch nie außerhalb des Schlosses begegnet. Aber natürlich war das unmöglich, nun, da sie sich gegenseitig gesehen hatten.
Während sie weiter aufeinander zugegangen waren, ohne zu wissen, ob sie sich anschauen sollten oder nicht, hatten sie beide nach Worten und dem richtigen Ton gesucht, hatten leise vor sich hin murmelnd verschiedene Begrüßungen geübt und Gesprächsthemen probiert – um dann mit leeren Mündern voreinander zu stehen. Nicht einmal ein „Guten Abend“ kriegten sie hin, sie sahen sich nur panisch an, suchten vergeblich nach all den Worten, die sie vorhin noch vor sich hergesagt hatten, und begannen schließlich laut zu lachen.

Nelio Biedermann – Lázár, S, 69 f.

Da der Himmel, der noch das Licht des Tages trägt, dort das verdruckste Stammeln, bei dem die beiden nichts „hinkriegen“. Umgangssprache steht neben poetischen Ausflügen und findet an einigen Stellen zu keinem rechten Miteinander. So auch folgende Passage, in der das „Bissen runterbringen“ dem Rest der gehobenen Schilderungen entgegensteht.

Mittlerweile war sogar Frau Telke besorgt und wies Dora an, nur noch Matildas Lieblingsspeisen zu kochen, da sie glaubte, ihr Hungern sei eine Form des Streiks, mit dem sie sie erpressen wolle. Dabei brachte Matilda wirklich keinen Bissen runter.

Nelio Biedermann – Lázár, S. 162

Überstrapazierte Metaphern, vergessene Figuren und ein irrlichternder Stalin

Registerschwankungen wie auch schiefe Bilder und überstrapazierte Metaphern gibt es haufenweise in dem Text. Auch an anderen Stellen verfestigt sich der Eindruck von einer etwas argen Unbehauenheit des Texts, nämlich im Umgang Biedermanns mit seinen Motiven und Figuren.

Zu Beginn hebt der Roman mit Lajos von Lázárs gläsernem Körperbau an, ohne dass daraus irgendetwas Interessantes entstünde. Auch das Verschwinden der jungen Baronesse Ilona, die im Wald verlorengeht und später wiedergefunden wird und die in der Zwischenzeit einen immensen Appetit auf Fleischliches entwickelt hat, es bleibt ohne Folgen. Der Wald als Motiv oder als Erzählansatz wird nicht wirklich ausgedeutet. Auch andere Gestalten schiebt Biedermann aus dem Bild, wenn sie ihn nicht mehr interessieren. Allen voran der für verrückt erklärten Imre, der in einem Zimmer im Schloss vor sich hinvegetieren muss fällt komplett aus der Handlung und wird erst wenige Seiten vor Ende des Romans wieder von Biedermann hervorgezaubert.

Fazit

Feuilletons, die den jungen Biedermann als „Zauberer“ beschwören, kann ich so nicht ganz folgen. Seine Tricks sind doch recht durchschaubar und wollen für mein Empfinden nicht wirklich klappen, auch wenn man mit jungen Talenten auf der Variétebühne wie auf der literarischen Bühne natürlich auch etwas nachsichtig umgehen sollte. Dennoch ist dieses Buch mehr Illusionsbudenzauber als echte literarische Magie.

So kann ich mich auch dem Lob Daniel Kehlmanns, der das Buch auf der rückwärtigen Klappentext als Donnerschlag lobpreist, nicht so recht anschließen. Lázár ist gewiss nicht ganz schlecht und hat seine zahlreichen Fans in Feuilleton wie auch im Buchhandel (nicht umsonst ist das Buch als eines von fünf für den Preis des Lieblingsbuchs des unabhängigen Buchhandels nominiert und steht auf den Bestsellerlisten).

Dennoch weist das Buch handwerkliche Mängel auf, die trotz des jugendlichen Alters des Autors benannt werden müssen. So neige ich eher der Meinung der Rezensentin Eva-Sophie Lohmeier auf 54 Books zu, die in dem Buch einen Roman „voller schiefer Bilder, prätentiöser Sprache und halbverdauter Lektüre“ sieht, der zudem mit seiner überstrapazierten sexuellen Note und den schiefen Frauenfiguren verärgert.


  • Nelio Biedermann – Lázár
  • ISBN 978-3-7371-0226-1 (Rowohlt)
  • 336 Seiten. Preis: 24,00 €

Lina Schwenk – Blinde Geister

Fluchtraum Bunker: in ihrem Debüt Blinde Geister betrachtet Lina Schwenk einmal mehr die Traumata der Nachkriegsgeneration und wie sich diese durch die Generationen ziehen und wirken. Daraus entsteht ein dichter und dunkler Text, der nun auch für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2025 nominiert wurde.


Die Frage der transgenerationalen Traumata ist eine, die die deutschsprachige Gegenwartsliteratur schon seit längerem beschäftigt. So stehen die Bücher von Antonia Baum oder Rabea Edel stellvertretend für die Fülle an Büchern, die das Fortwirken von Traumata insbesondere seit der Zeit des Zweiten Weltkriegs innerhalb familiärer Gefüge untersuchen. Wie vererben sich Verletzungen, psychische Erkrankungen oder das Schweigen über Erlebtes? Warum bricht Generationen später das wieder auf, was die Generationen zuvor doch erlebt und einfach beschwiegen wähnten?

Während mit Jehona Kicaj neben Lina Schwenk eine weitere Debütantin auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises steht, die in ë diesen Komplex in Bezug auf den Kosovokrieg untersucht, steht bei Lina Schwenk eine schon fast bilderbuchhafte BRD-Familie im Mittelpunkt. Vater Karl, Mutter Rita, Oma Fritzchen, dazu die zwei Kinder Martha und Olivia, sie bilden die Familie, auf die wir Leser*innen hauptsächlich aus Olivias Augen blicken.

Vom Fortwirken des Kriegs

Der Krieg ist lange her, sagt man. Schon über zwanzig Jahre. Wir leben jetzt in Frieden.

Lina Schwenk – Blinde Geister, S. 35

Es ist die Nachkriegszeit, aus dem Radio dringen die Beatles, man fährt mit dem Bulli ans Meer – und doch ist die Idylle und Sorglosigkeit nur Fassade. Denn im Inneren wirken die Kräfte fort, die sich zwanzig Jahre zuvor im Zweiten Weltkrieg zeigten. Oma Fritzchen bekommt immer wieder Angstattacken und will sich im Dunklen verstecken, um einer Entdeckung zu entgehen. Vater Karl kämpft ebenfalls mit den Dämonen und sieht im Bunker, den er als Schutzraum für die Familie angelegt hat, die Rettung. Immer wieder müssen Martha und Olivia mit ihm dort hinabsteigen, akribisch kontrolliert er die Vorratspackungen.

Lina Schwenk - Blinde Geister (Cover)

Doch das kann seine Tochter auch nicht behüten – denn kaum zuhause ausgezogen treten auch bei ihr besondere Verhaltensweisen auf.

So erweist sie sich als radikale Anhängerin des Minimalismus und veräußert immer mehr Besitz aus ihrer Wohnung. Aufs Heizen verzichtet sie ebenfalls und regrediert zusehends, ehe sie in eine Psychiatrie eingewiesen wird (womit sich Blinde Geister in eine weitere bemerkenswerte Riege an jüngst erschienenen deutschsprachigen Romanen einreiht, die in Psychiatrien spielen und um psychische Erkrankungen kreisen, von Leon Englers Botanik des Wahnsinns angefangen über Anna Prizkaus Frauen im Sanatorium bis hin zu Svealena Kutschkes Gespensterfische).

Die Gefahr im Augenwinkel

Die Ängste vor dem Krieg und Unsicherheiten, sie manifestieren sich in den verschiedenen Generationen und beeinträchtigen das Leben über Jahrzehnte hinweg, mag auch auf den ersten Blick Frieden herrschen. Die Angst vor dem Krieg, man wird sie nicht so leicht los, insbesondere da der Krieg zumindest in der Wahrnehmung von Schwenks Familie ja immer da war und sich immer wieder wandelt. Vom Zweiten Weltkrieg hinein in den Kalten Krieg bis in unsere Tage, in denen der russische Präsident durch Angriffskriege und beständige Drohgesten auffällt – die Gefahr ist stets präsent, wenn man einen so wachen Blick auf die schlafenden Geister hat, wie es in dieser Familie der Fall ist.

Von diesem Blick auf die stets im Augenwinkel lauernde Gefahr und die psychischen Abgründe in der Familie erzählt Lina Schwenk sprachlich reduziert und unauffällig, dafür aber sehr pointiert und auf ihr Figurenensemble konzentriert. Alle Traumata und Versehrungen lassen sich im Inneren dieser Familie ablesen, was das Buch auch gut in diese Zeit einfügt, in der das Sprechen und der Blick auf blinde Flecken zunehmend auf Nachfrage und Interesse stößt.

Fazit

Den Traumata kann man auch nicht im Bulli davonfahren – aber man kann davon erzählen. Das lehrt Lina Schwenks Debüt, das genau hineinblickt ins Gefüge dieser so durchschnittlichen und damit auch recht repräsentativen Familie, in der alle mit den blinden Geistern kämpfen müssen. Gerade einmal 180 Seiten benötigt sie für ihren präzisen Blick, der in ebenfalls genau gesetzten Sprache dargeboten wird. Gesellschaftlich relevant, verdichtet und vielfach übertragbar, greift dieses stimmige Debüt viele aktuelle Themen auf und ist damit ganz folgerichtig für den Deutschen Buchpreis sowie für den Debütpreis des Harbourfront-Festivals und den ZDF Aspekte-Literaturpreis nominiert.


  • Lina Schwenk – Blinde Geister
  • ISBN 978-3-406-83704-3 (C. H. Beck)
  • 190 Seiten. Preis: 24,00 €

Isaac Rosa – Ein sicherer Ort

Hoch stapeln und tief graben. In seinem Roman Ein sicherer Ort rückt der Spanier Isaac Rosa drei Generationen an windigen Geschäftsmännern in den Mittelpunkt und erzählt von der Endzeitfaszination, die Prepper und ökologische Aussteiger umtreibt.


Tunnel und Bunker, sie faszinieren die Menschen seit Generationen. Setzte zu Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine der von mir Bunker-Journalismus getaufte Trend ein, hierzulande stillgelegte Bunker und deren Rettungspotential wieder journalistisch zu beleuchten, sorgte unlängst die TikTokerin Karla alias Tunnelgirl für Aufsehen. Ihr Kurzvideos wohldokumentiertes Vorhaben: unter ihrem Haus einen Tunnel mit dem Ziel eines Sturmschutzbunkers zu bauen. Ein Vorhaben, das die Behörden vereitelten, der jungen Frau aber jede Menge Aufmerksamkeit bescherte.

Isaac Rosa - Ein sicherer Ort (Cover)

Die Möglichkeit eines exklusiven Rückzugsortes in die Tiefe der Erde, ob in Folge von Krieg oder anderer Katastrophen, sie ist virulent. Auch Segismundo García, der Ich-Erzähler in Isaac Rosas neuem Roman, hat dieses Bedürfnis nach Abschottung und Sicherheit erkannt.

Er bietet seinen Klienten einen sogenannten „Sicheren Ort“, in den sie sich im Notfall zurückziehen können, um alle möglichen apokalyptischen Szenarien zu überleben. Eine Firma als Geschäftspartner für sein Vorhaben hat er auch schon an der Hand, Kunden stehen Schlange – nur mit dem Kredit für sein unternehmerisches Vorhaben mag es nicht so richtig klappen.

Und so tingelt er von Termin zu Termin, lässt sich von begeistern Ehemännern und skeptischen Ehefrauen Kellerabteile vorführen, besichtigt ausgeschalte Pools der Oberschicht oder Tiefgaragen in Neubaugebiete, immer mit dem Ziel, eine Vorfinanzierung für einen Sicheren Ort herauszuschlagen. Es ist ein mehr als windiges System, mit dem er endlich auf seinen großen Durchbruch hofft.

Abgestürzt mit dem gesellschaftlichen Fahrstuhl

So gut es geht, verschweigt er dabei aber den Familiennamen, denn dieser lässt nichts Gutes hoffen. Schließlich war es sein Vater Segismundo García, der mit ähnlich windigen Konzepten und der Vision einer Zahnarztketten mit Dumpingpreisen erst hoch stieg, um dann tief zu fallen. Bis hinab ins Gefängnis.

Wir werden immer besser. Steigen immer weiter auf. Der Gesellschaftliche Fahrstuhl, weißt du noch? Ein Ausdruck nach deinem Geschmack. Kaum gehört, machtest du ihn dir zu eigen. Der Gesellschaftliche Fahrstuhl! Wir waren das beste Beispiel dafür, dass es ihn gab und dass er gut funktionierte. Garcías wie so viele andere, 08/15-Garcías, Garcías von ganz untern, aus dem Nichts, die sich durch Arbeit, durch harte Arbeit, Stockwerk um Stockwerk hochgekämpft hatten, in die oberen Etagen, auf dem Weg ins Penthouse. Bis es plötzlich eine Panne gab und unter unseren Füßen der Boden des Aufzugs wegbrach; du fielst durchs Loch, und ich blieb hängen, klammerte mich mit den Fingerspitzen fest, mit Nägeln, und da bin ich immer noch, rutsche Millimeter um Millimeter ab, ein Finger nach dem anderen löst sich, aber noch bin ich nicht gefallen.

Isaac Rosa – Ein sicherer Ort, S. 50 f.

Zweifelhafte Geschäftemacherei liegt quasi in der DNA dieser Familie, in der Segismundo II. zwar kämpft, seine Bemühungen aber auch zum Scheitern verurteilt sind. Denn obwohl er sich abmüht, seinen Sohn Segismundo III. an einer elitären Privatschule zu parken und dem Sohn so Anschluss an die Kreise zu verschaffen, zu denen sein Vater und er längst den Anschluss verloren haben, zeigt auch der jüngste Spross, dass sich die DNA des Riskos und des Hochstapelns auch bei ihm vererbt hat.

Drei unterschiedliche Generationen an Hasardeuren, vereint durch ihren Namen und das Streben nach dem großen Geld. Isaac Rosa zeigt sie, indem der einen erzählerisch engen Rahmen wählt. Einen einzigen Tag umfasst die Handlung von Ein sicherer Ort. An diesem Tag erleben aber alle drei Generationen ihre großen Momente, die Rosa in einer Mischung aus Rückblenden und vorwärtstreibender Handlung erzählt. Ein Tag, bei dem Segismundos sich festklammernde Hände ein Stück weit mehr abrutschen vom gesellschaftlichen Parkett und ein Tag, an dem der finale Absturz noch ein ganzes Stück näher rückt.

Drei Generationen von Hasardeuren

Während sich der Ich-Erzähler Segismundo mit Terminen für Bunkerbegeisterte herumschlägt und auf eine Kreditzusage seiner Bank hofft, sitzt der junge Segismundo an der Privatschule gehörig in der Tinte. Und der demente, mit Du adressierte Patriarch dieses halbseidenen Clans, er wird von einer Pflegekraft betreut, schafft es aber dennoch, von zuhause auszureißen und macht sich auf den Weg durch die nicht näher benannte Stadt.

Um diese Verquickung dreier Generationen und deren individuellen Problemen herum baut Isaac viele Reflektionen des erzählenden Segismundo ein. Allmählich ergibt sich ein klares Bild der Familie und ihrer Hintergründe. Auch blickt Ein sicherer Ort auf die Bunkerfixierung und das Bedürfnis nach Sicherheit und Abschottung. Der Roman umkreist die Faszination des Endes, auf das sich Prepper und ökologische Aussteiger mit unterschiedlich, dann aber doch wieder ähnlichen Strategien vorbereiten.

Überhaupt. Auf die ökologischen Gemeinschaften hat es Segismundo abgesehen. Spätestens, seitdem ihn seine Frau verlassen und sich als Sympathisantin der Aussteigerbewegung erwiesen hat, pflegt Segismundo seinen Hass auf die von ihm „Tonkrügler“ getauften Ökos, die sich für ihn auch nicht nennenswert von den egoistischen Preppern unterscheiden. Seine Tiraden strukturieren diesen Roman – und liefern dann sogar noch einen subtilen Anknüpfungspunkt an Rosas letzten Roman.

Fazit

Insgesamt gelingt Isaac Rosa in diesem von Luis Ruby ins Deutsche übertragenen Roman ein durchaus komisches Porträt dreier Generationen von Hochstaplern und Luftikussen, der auch von unserem Sicherheitsbedürfnis und der Lust nach Blendung erzählt.

Ein sicherer Ort ist ein gelungener Schelmenroman zwischen Bunkern und „Tonkrüglern“, Blendern und Geblendeten. Dargeboten wird dieser Kreuzweg einer Desillusionierung in einer wilden Suada aus Stream of Consicousness, der von Luis Ruby gelungen ins Deutsche übertragen wurde. Nicht nur für Sichere Orte eine hervorragende Lektüre!


  • Isaac Rosa – Ein sicherer Ort
  • Aus dem Spanischen von Luis Ruby
  • ISBN 978-3-95438-174-6 (Liebeskind)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €

Antonia Baum – Siegfried

Wenn einen die eigene Familie in die Psychiatrie bringt. Antonia Baum in ihrem neuen Roman Siegfried über drei Generationen einer Familie, die alle mit eigenen Dämonen kämpfen und doch nicht von der Stelle kommen.


Transgenerationale Traumata und Probleme sind ein Thema, mit denen sich die deutsche Literatur in zunehmenden Maße befasst. Welche Probleme einer Generation werden in der nächsten fortgeführt und wodurch bedingt sich diese Weitergabe von Problemen und Verhaltensmustern? Ulrike Draesner beschäftigte sich jüngst in ihrem Werk Die Verwandelten literarisch mit diesem Thema und auch Antonia Baums neuem Roman Siegfried liegt diese Fragestellung zugrunde. Sie blickt ausgehend von der jüngsten Generation auf Mutter, Vater und Großmutter und untersucht im eigenen Erinnern die erlernten Verhaltensmuster und Konfliktstrategien.

Ein Wartezimmer in der Psychiatrie

Es beginnt alles mit einer namenlosen Frau, der Ich-Erzählerin. Sie lässt in einem Gefühl der Überforderung ihren Mann und ihre Tochter zuhause zurück, um sich in eine Psychiatrie zu begeben. Geldprobleme, Beziehungsprobleme, Abgabedruck eines Buchs, dessen Vorschuss zwar schon aufgebraucht, aber noch keine einzige Zeile zu Papier gebracht ist. Viele nagende Sorgen, die in einer morgendlichen Fahrt zur Psychiatrie resultieren.

Auf der Rückbank des Taxis trug ich keine Schuhe, aber dafür einen Trenchcoat. Ich hatte nicht wie sonst die Nylonhandtasche meiner Mutter dabei, ich hielt meinen Rechner mit beiden Händen auf dem Schoß fest. Ich hätte nicht sagen können, was seit der Situation im Badezimmer passiert war. Es beunruhigte mich aber nicht sehr, ich fand meine Idee, in die Psychiatrie zu fahren, sehr gut. Jemand würde mir sagen, was mit mir los war, dieser Arzt würde mir helfen, die Dinge zu sortieren, ich hatte mir sogar seinen Namen notiert. Ich würde dort sitzen und für Reihenfolgen nicht zuständig sein. Es würde eine Diagnose geben. Ich bildete mir die Dinge nicht ein, ich war keine Simulantin, ich war nicht überempfindlich. Ich war auch nicht verrückt, es gab Gründe.

Antonia Baum – Siegfried, S. 18 f.

Als sie nun im Warteraum der Psychiatrie sitzt, fängt das Erinnern der Erzählerin an. Sie entsinnt sich ihrer Kindheit, die sie teilweise bei ihrer Großmutter Hilde verbrachte, in deren Hause Strenge und merkwürdige Regeln herrschten. Keine Spiegel, Schwimmen nach Stoppuhr, aufgetakelte Treffen in der Öffentlichkeit mit alten Freunden und wenig Lebensfreude. All das bedeutete die Zeit im Haus der Großmutter, die die Erzählerin dort als Kind verbrachte.

Blick auf die eigenen Eltern und Großeltern

Antonia Baum - Siegfried (Cover)

Aber auch auf die Erinnerung an ihre eigenen Eltern blickt sie, als sie darauf wartet, im Wartezimmer aufgerufen zu werden. Der prägende Vater Siegfried, die Mutter, die stets von Hilde, Siegfrieds Mutter, mit Argusaugen beobachtet wurde. Die Affären des Vaters, die Begleitung der Mutter auf Siegfrieds Dienstreisen und damit verbunden weitere Aufenthalte im kalten Haus Hildes. Dazu die Erinnerung an Episoden, wie die des Einsperrens der Mutter im eigenen Zuhause, die dann schlussendlich in der Trennung der eigenen Eltern mündete.

Die Lieblosigkeit der elterlichen Generationen, das strenge Regiment der Großmutter, das Nicht-Funktionieren von Beziehungskonzepten, all das betrachtet die Erzählerin noch einmal in der Rückschau, während sie sich dort in der Psychiatrie Heilung erhofft, diese aber schon selbst durch die Rückschau und das Betasten der eigenen seelischen Narben erbringt.

Die Rückschau fördert nicht sonderlich scharf konturierten Figuren zutage, die die Familie rund um Siegfried bevölkern. Diese Figuren stehen aber auch als eine Art Stellvertreter für viele nachkriegsdeutsche Familiengefüge, wie sie viele Leserinnen und Leser auch aus der eigenen Familie her kennen dürften.

Figuren als Stellvertreter für transgenerationale Verhaltensmuster

Unausgesprochene und unerforschte Altlasten aus der Zeit des Nationalsozialismus, Härte in der Erziehung der eigenen Kinder, das Aufrechterhalten der bürgerlichen Fassade – davon erzählt Siegfried, in dessen Name ja auch schon etwas der (vermeintlichen) Härte und Stärke aufscheint, die Antonia Baum im Folgenden dekonstruiert. Sie leuchtet die familiären Verhältnisse aus und zeigt eine Frau, deren Bindungsschwierigkeiten und schwierige Beziehung zumindest ein Stück weit auch als Ergebnis der vorgelebten Unfähigkeit zu lieben der familiären Anti-Beziehungsvorbilder zu lesen ist.

Das macht aus Siegfried zwar keinen leichten Familienroman á la Joachim Meyerhoff, aber dennoch lohnt sich die Lektüre, lassen sich die aufblitzenden Muster und Figuren doch in den meisten Familien finden und stellen einen guten Beitrag zur Behandlung des Themenkomplexes der transgenerationalen Traumata dar, auch wenn ich mir noch etwas schärfere Figuren – allen voran die Erzählerin gewünscht hätte.


  • Antonia Baum – Siegfried
  • ISBN 978-3-546-10027-4 (Claassen)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €

Lisa Weeda – Aleksandra

Eine Frau mit Mission unterwegs in Richtung Volksrepublik Lugansk. Doch statt im Schoß der Familie findet sie sich plötzlich wieder in einem ominösen Gebäude voller Erinnerungen, das auf den Namen Palast des verlorenen Donkosaken hört und in dem die ganze wechsel- und leidvolle Geschichte der Ukraine anhand einer Familie offenbar wird. Aleksandra von Lisa Weeda (übersetzt von Birgit Erdmann).


Nein, der Soldat am Checkpoint in Richtung der sogenannten Volksrepublik Lugansk am Übergang von der Ukraine zum von Russland annektierten Gebiet der Krim will die junge Erzählerin im August 2018 partout nicht passieren lassen. Dabei hat sie eine wichtige Fracht und Aufgabe im Gepäck, für die sie den Checkpoint passieren möchte.

Mit ernster Miene hole ich ein längliches Leinentuch aus der Tasche und zeige es dem Soldaten.

„Dieses Tuch ist fast ein Jahrhundert alt. Es hat Tausende Kilometer zurückgelegt. Sie dürfen ihm nicht seine letzte Reise nach Hause verwehren.“

Das weiße Tuch ist mit schwarzen und roten Linien bestickt, die Ränder mit blauen, roten und schwarzen Blumenmustern. Ich deute mit dem Zeigefinger auf das Tuch. „Sie Sie diese Linie hier, über der der Name Kolja steht, die Linie, die 2015 endet? Meine Oma Plemplem hat mich gebeten, das Tuch zu seinem Grab zu bringen, um die Zeit zu flicken. Sonst ist er verloren.“

Lisa Weeda – Aleksandra, S. 15

Doch trotz der Erklärung ist der Soldat nicht zu erweichen – und so setzt die Erzählerin Lisa auf die normative Kraft des Faktischen und sprintet einfach kurzerhand durch den Checkpoint und schlägt sich trotz Minenwarnung ins dahinterliegende Getreidefeld, um auf diesem Wege zum Grab ihres Großonkels zu gelangen.

Im Palast des verlorenen Donkosaken

Doch statt eines Weges oder Minen findet sich mitten im Getreidefeld plötzlich die Tür zu einem hohen Turm, den Lisa kurzerhand betritt. Dadurch findet sie sich im sogenannten Palast des verlorenen Donkosaken wieder, wie ihr ihr Urgroßvater Nikolaj erklärt, der sie in diesem rätselhaften Haus willkommen heißt, das auf Lisa wie eine hysterische Geburtstagstorte oder eine schlanke Version des Turmbaus zu Babel wirkt. Sowjetische Kunst mit Lenin-Porträts oder Arbeitern und Bauern an den Wänden – und dazu noch verschiedenste Räume und Zeitebenen, in denen man sich schon einmal verirren kann, wie auch Lisa im Lauf des Romans feststellen muss.

Lisa Weeda - Alesandra (Cover)

Gemeinsam durchwandert sie mit Nikolaj die verschiedenen Räume des Palastes – und damit auch die Erinnerungen und Erfahrungen ihrer Großfamilie, in der sich alle Verwerfungen und Schmerzen des 19. und 20. Jahrhunderts abbilden und wiederspiegeln. Denn ausgehend von Lisa als jüngstem Spross der Großfamilie Krasnov entwirft Lisa Weeda in Aleksandra einen Familienstammbaum, der sich über ganze fünf Generationen erstreckt.

Das Leitmotiv ist dabei das eingangs erwähnte Tuch, das als eine Art gewebtes Familienstammbuch die verschiedenen Linien und Generationen des Krasnovs zusammenführt und von Aleksandra, der Großmutter der Ich-Erzählerin, im Geheimen bestickt wurde. Schwarze und rote Fäden stehen dabei für Glück und Leid, das die Familie in mannigfaltiger Form erfahren musste. Und schwarz und rot ist nicht nur das Tuch, sondern die ganze Ukraine, wie der in den Niederlanden lebenden Ich-Erzählerin vermittelt wurde.

Das Land ist immer schwarz und rot, brachte Baba Mari mir bei. Schwarz steht dabei nicht nur für unsere Erde, es steht auch für den Tod. Unser Landstrich mag zwar launisch sein, aber er ist immerhin unser Land, sagte sie häufig. All unsere Geschichten liegen hier begraben und alle Geschichten sind hier letztendlich zu Hause, auf diesen Feldern. Die Linien auf diesem Tuch sind schöne und schaurige Geschichte, und es kommen immer mehr hinzu. Weißt du, was meine Baba Mari zu mir gesagt hat, Lisa?

Dieses Stück Land kriegt man nicht aus uns heraus, es steckt in unserem Blut.“

Lisa Weeda – Aleksandra, S. 101 f.

Leider zu viel Themen und Personen für zu wenig Seiten

Ja, die Erinnerungen stecken im Boden – und auch in jeder Seite des Romans. Und das ist in meinen Augen auch das Kernproblem dieses Romans, der an seiner völligen Überfrachtung laboriert. Denn jede Seite und jeder Raum im Palast des verlorenen Donkosaken ist mit Erinnerungen aufgeladen, die die wechselvolle Geschichte der Ukraine zwischen der Teilannektion durch Russland, die Befreiung aus dem russischen Großreich und die Zeiten der Weltkriege und der der Sowjetunion zeigen sollen.

Lisa Weeda erzählt von der bitteren Armut, der sich die Familie nicht einmal mit dem Verstecken von Getreidesäcken entziehen konnte, sie erzählt vom ebenso absurden wie fanatischen Stalinismus und Leninismus, von grausamen Pogromen an der jüdischen Bevölkerung (die Erinnerungen an die Massaker in Butscha und anderen Orten wecken), sie schildert die Deportationen während des „Dritten Reichs“, die Revolution, die sich am Maidanplatz entspann, die Zerrissenheit, der sich die Ukrainerinnen und Ukrainer angesichts der Besetzung ihrer Krim ausgesetzt sahen.

Das und noch viel mehr sind die Themen, die Lisa Weeda auf gerade einmal knapp 290 Seiten in sehr verknappter und verdichteter Form abhandelt und die sie neben der realistischen Schilderung der historischen Begebenheiten noch um eine zweite, magische Ebene in Form des Palastes und der immer wieder auftretenden leuchtender Hirsche, die auch stellenweise als Erzähler agieren, ergänzt.

Dabei wirkt das Ganze an manchen Stellen so, als wenn eine Entscheidung für die Form eines erzählenden Sachbuch die klügere Wahl für die Bearbeitung ihres Stoffs gewesen wäre. Und auch wenn ihr Palast des verlorenen Donkosaken in ihrer Schilderung unermesslich hohe Decken und unendlich viele Räume aufweist, so ist es ebenjener große Raum, der im Handlungsüberschwang dieses Buchs auf der Strecke bleibt.

Vieles, das die niederländisch-ukrainische Autorin und Filmemacherin hier vorbringt, ist in meinen Augen zu gehetzt und schnell aneinandergereiht, als das es wirklich Wirkung entfalten könnte. So bräuchte der „Jahrhundertroman der Ukraine“ (so der Verlag in seiner Werbung) eben mehr Zeit und Raum, um genauer auf Figuren und ihr Erleben eingehen zu können. Aber durch die thematische Überfrachtung und unübersichtliche Personalführung geht der erzählerische Fokus verloren, selbst wenn dem Roman der große Stammbaum vorangestellt ist

Der Familienstammbaum der Krasnovs

Die fünf Generationen und ihr Erleben in Schlaglichtern rasen einfach am Leser vorbei – und werden durch fehlende literarische Gestaltungsmittel auch nicht wirklich unterscheidbar, was insbesondere durch die Namensgleichheit vieler Aleksandras oder Nikolajs dann wirklich zu einem Problem wird (zumindest bei meiner Lektüre).

Fazit

Auch wenn das Ansinnen der Autorin (die, so viel darf man auch aufgrund des Vorworts spekulieren, als relativ deckungsgleich mit der im Buch geschilderten Familie anzusehen sein dürfte) mehr als ehrenwert ist: vielleicht braucht Literatur doch einfach mehr Zeit, als sie sich Lisa Weeda wahrscheinlich unter Eindruck der jüngsten Ereignisse des letzten Jahres gegeben hat. Mehr Raum für die Figuren, weniger Hatz durch die wechselvolle ukrainische Geschichte und mehr Fokus auf weniger Episoden, das wäre hier vielleicht der Schlüssel zum Erfolg gewesen. So bleibt zumindest bei mir der Eindruck eines überfrachteten Familienromans, zu dessen Personal und Erlebnissen ich leider zu keinem Zeitpunkt eine Bindung aufbauen konnte.


Eine weitere spannende Perspektive auf den Roman gibt es auch auf dem Blog Tralalit, der sich insbesondere mit Übersetzungen beschäftigt. So auch hier mit der Übertragung von Aleksandra ins Deutsche durch Birgit Erdmann. Klare Leseempfehlung!


  • Lisa Weeda – Aleksandra
  • Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
  • ISBN 978-3-98568-058-0 (Kanon-Verlag)
  • 290 Seiten. Preis: 25,00 €