Tag Archives: Gesellschaft

Anselm Oelze – Die da oben

Das junge Paar unten, die alteingesessenen Mieter darüber. In seinem Roman Die da oben blickt der Autor Anselm Oelze in das Leben zwei unterschiedliche Paare in einem Mietshaus in Leipzig – leider mit zu wenig Erkenntnisgewinn, als dass das Buch überzeugen könnte.


Mit seinem Debüt Wallace ließ der junge Schriftsteller Anselm Oelze aufhorchen. Damals erzählte er mithilfe von schrulligen Figuren von Alfred Russel Wallace, dem Mitentdecker der Evolutionstheorie, der heute dem Vergessen anheimgefallen ist. Sein Debüt weckte zumindest bei mir Assoziation zu Christian Krachts Imperium und Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt — nicht die schlechtesten Assoziation für ein literarisches Debüt.

Auf das Debüt folgte der Krisenroman Pandora sowie die Reportage Die Grenzen des Glücks über das Flüchtlingselend auf Lesbos und unsere Implikationen mit der himmelsschreienden Situation vor Ort. Mit Die da oben legt Anselm Oelze nun wieder Roman vor, mit dem er im Göttinger Wallstein-Verlag eine neue literarische Heimat gefunden hat.

Leider muss man nach der Lektüre des Romans konstatieren, dass Oelze auf dem Weg des Verlagswechsels leider auch irgendwo sein erzählerisches Gespür für Krisen und Konflikte und deren politische Dimension abhandengekommen sein muss. Denn Die da oben ist auf erschreckende Weise literarisch harmlos und schwach.

Zwei Paare im Leipziger Mietshaus

Die erzählerische Grundanlage ist dabei eine durchaus spannende. Ein Jahr bildet den erzählerischen Rahmen des Romans, der mit dem Einzug des jungen, queeren Paares Tess und Moyra in ein Mietshaus in der Leipziger Lisztstraße seinen Lauf nimmt. Nun endlich der Zusammenzug in eine gemeinsame Wohnung im hippen Leipzig, dazu die Verheißung der Räumlichkeiten im Erdgeschoss, die früher einen Getränkeladen beherbergten und in dem Tess nun als Schneiderin durchstarten möchte. Der Frühling hält viele Verheißungen bereit, bei denen sogar das Touchieren des blauen Twingos mit dem Umzugswagen das junge Glück nicht sonderlich trüben kann.

Im Leben der Twingobesitzer selbst ist jenes Glück allerdings schon lange nicht mehr in diesem Maße zuhause, wie es noch für das junge Paar den Anschein hat. Bei den Autobesitzern handelt es sich um Rolf und Heike, die die Wohnung über Tess und Moyra bewohnen, und das schon seit Zeiten vor der Wende.

Mit der eigenen Tochter ist es schwierig, obwohl Heike gerne mehr Kontakt mit ihr und den Kindern hätte. Rolf musste sich mit der Geschäftsaufgabe seiner Getränkeoase abfinden, die durch die neue Konkurrenz von Discountern und Lieferdiensten bedingt ist – nur um jeden Tag direkt vor der eigenen Nase Tess nun als Schneiderin in den Räumlichkeiten werkeln zu sehen, die für ihn so lange sein Leben bedeuteten.

Während der Roman nun im Jahreszeitenlauf voranschreitet, wohnt man dem Leben im Mietshaus bei, sieht Affären, Annäherungen und Enttäuschungen, verfolgt den Wunsch nach Kindern ebenso wie die Folgen der Verknappung des Wohnraums.

Alles bleibt hinter den Erwartungen zurück

Anselm Oelze - Die da oben (Cover)

Was sich dabei in der Theorie durchaus verheißungsvoll liest, bleibt in der Realität leider hinter allen Erwartungen zurück. Das Nebeneinander der zwei Paare, in dem so viel Potential geruht hätte, findet leider über das Niveau einer buchgewordenen Episode Lindenstraße nicht hinaus.

Unterschiedliche Generationen im Boomtown Leipzig, das parallele Leben von Alteingesessenen und Neuhinzugezogenen, die jungen Frauen und die schon Dagewesenen, der begehrte Wohnraum als Raum der Entfaltung und Spiegel des Selbst, die Verdrängungsbewegungen, all das hätte alles so viel Möglichkeiten geboten, diese Aspekte in ihrer Vielschichtigkeit herauszuarbeiten, auf die soziologischen bis historischen Dimensionen dieses Miteinanders zu blicken, womöglich sogar das Politische im Privaten und umgekehrt herauszuarbeiten: aber nichts da.

Das Buch bleibt die literarische Bearbeitung der gesellschaftlichen „Spaltung“, die der Klappentext verspricht, völlig schuldig. Zwar ist die Schwarze Identität von Moyra ein kleines Thema im Buch und in einer Szene vor Gericht kommt es zu einem Dirk Oschmann-haften Wutausbruch Rolf vor Gericht, ansonsten nutzt Oelze das innewohnende Konfliktpotential zwischen den beiden Generationen, den Lebensentwürfen zwischen Heteronormativität und Queerness, Ost und West, den Erfahrungen zwischen DDR und neuer Lebens- und Arbeitswelt, in keiner Weise aus.

Kein Gefühl von Vielschichtigkeit

Stattdessen bleibt der Schauplatz ebenso wie die Sprache austauschbar, schreitet das Buch ohne rechte Höhepunkte voran und beschränkt sich auf die Beschreibung von abgeschnittenen Koniferen, Dellen im Lack und der Tradition der Kurrende-Sängern des Thomanerchors. In interessante Tiefen stößt dieser Text leider zu keinem Zeitpunkt vor und verpasst es leider so auch, wenigstens das Gefühl von Vielschichtigkeit zu vermitteln.

Das ist besonders schade, da Anselm Oelze sein Gespür für Krisen und deren Kulminationspunkte ja mit seinen früheren Werken unter Beweis gestellt hat. Die da oben bleibt leider zahnlos und hinter anderen, schon erschienen Werken zurück.

Von den (vermeintlichen) Spaltungen der Gesellschaft mögen die Soziologen besser zu erzählen, die Brüche zwischen DDR und der Nachwendewelt haben andere Autor*innen wie Annett Gröschner oder Christoph Hein in diesem Jahr schon überzeugender herausgearbeitet. Blickt man statt der thematischen Ebene auf die literarische Ebene des Buchs, wird es auch nicht besser, denn sprachlich kann Anselm Oelzes Buch sich vom Gros der deutschsprachigen Literatur ebenfalls nicht abheben.
Obschon die Konstruktion des Buchs ein wenig vom Erwartbaren abweicht, zeigen sich im Ganzen dann auch Unklarheiten, was die Personenführung und -entwicklung anbelangt.

Fazit

So ist das alles deutlich zu wenig, als dass Die da oben irgendwelche neuen oder besonders gut herausgearbeiteten Themen überzeugen könnte. Vielleicht hat die Kurzbeschreibung des Buchs bei mir auch nur falsche Erwartungen geweckt, so oder so kann ich nur sagen: Schade um das nicht genutzte Potential dieser Geschichte.


  • Anselm Oelze – Die da oben
  • ISBN 978-3-8353-5977-2 (Wallstein)
  • 275 Seiten. Preis: 24,00 €

Maria Messina – Sterne, die fallen

Da wohnt ein Sehnen tief in uns, so heißt es in einem populären evangelischen Kirchenlied. Und auch viele der Figuren, die Maria Messinas Erzählungen Sterne, die fallen bevölkern, kennen das in ihnen ruhende Sehnen sehr gut. Die sizilianischen Autorin erkundet dieses Sehnen, indem sie von unglücklichen Verliebten, von Eltern und Kindern, von Auswanderern und Daheimgebliebenen erzählt. Mit einem Auge für Details besieht sie gescheiterte Lebensträume und das Glück, das sich einfach nicht einstellen will.


Die sizilianische Katherine Mansfield, so nannte sie ihr Wiederentdecker Leonardo Sciascia. Der italienische Autor setzte sich sehr für die Autorin ein, die zum Zeitpunkt von Sciascias Entdeckung völlig aus dem literarischen Bewusstsein Italiens verschwunden war. Ein Brand im Archiv hatte sein Übriges dazu getan, das Vergessen der 1887 in Palermo geborenen Autorin zu befördern, bei der lange Zeit noch nicht einmal ihr Sterbedatum feststand, wie das Nachwort von Messinas Roman Das Haus in der Gasse erklärte.

Seit den 1990er Jahren gibt es aber Bestrebungen, Messina diesem Vergessen zu entreißen – und auch der Verlag der Friedenauer Presse tut in Zusammenarbeit mit der Übersetzerin Christiane Pöhlmann sein Übriges dazu, die Wiederentdeckung Maria Messinas hierzulande zu befördern. Neben einer Publikation des bereits erwähnten Romans Das Haus in der Gasse erschien im vergangenen Jahr auch der Roman Eine Blume ohne Blüte, auf das nun die Kurzgeschichten in Sterne, die fallen folgen.

Diese Kurzgeschichten plausibilisieren den Vergleich mit Katherine Mansfield, da beide Schriftstellerin die Kunstfertigkeit in Sachen Erzählungen auf kleinem Raum eint.
Abermals von Christiane Pöhlmann aus dem Italienischen übersetzt bietet der Band sechzehn Erzählungen auf, bei denen es sich in einigen Fälle um deutsche, wenn nicht sogar weltweite Urübersetzungen handelt, die die erzählerische Kraft von Maria Messina unter Beweis stellen.

Figuren im Korsett gesellschaftlicher Konventionen und nicht gelebter Leben

Maria Messina - Sterne, die fallen (Cover)

Sie zeigen eine Autorin mit einem genauen Gespür für die Lebenswelten ihrer Figuren, die sich oftmals in ein Korsett von gesellschaftlichen Konventionen geschnürt sehen. Immer wieder umflort sie die Traurigkeit der nicht gelebten Leben, derer sie sich im Laufe der Geschichten so manches Mal bewusst werden, ohne dass es klar buchstabiert werden muss.  

Mal sehnt sich eine gesellschaftlich höhergestellte Signorina nach dem Leben, das ihr der Besuch einer Hochzeit zweier junger Leute verheißt, dem sie beiwohnt und doch ein Fremdkörper bleibt (Die Signorina). Mal verzehrt sich ein genesender Musiker nach einer Frau, die er in einem gegenüberliegenden Haus erspäht. Mit seinem Geigenspiel möchte er diese betören und für sich gewinnen, wovon Messina ungeheuer sinnlich zu erzählen weiß:

Im Dunkel griff er abermals zu seiner Geige. Abend für Abend ließ diese nun ihr Lied erklingen. Sie wandte sich einzig an die Unbekannte, die ihr im Dunkel am offenen Fenster lauschte.

Die warme Stimme der Geige floss über die verödete Piazza und stieg im Duft des Gewürzstrauchs hinauf zum besternten Himmel. Die langen, leidenschaftlichen Töne zitterten mit der Zartheit, welche sich in der romantischen Seele des Rekonvaleszenten, die während der Krankheit noch feinfühliger geworden war, fand. In diesen Tönen erzitterten die Freude über die Genesung ebenso wie die Wehmut der Stunde, die bange Hoffnung eines gesunden Jungen auf sein Morgen ebenso wie das traurige Sehnen nach den Dingen von gestern und die Glut eines grenzenlosen Verlangens, das keinen Namen besaß.

Maria Messina – Sterne, die fallen, S. 30

Sehnen und Sehnsucht allerorten

Da ist es wieder, das Sehnen und das Verlangen, das sich durch die Geschichten zieht. Dass sich die angebetete junge Frau sich als taub erweist, ist die bittere Pointe der Geschichte (Sandro und seine Geige), zu der sich viele weitere Erzählungen gesellen, die von Hoffnung, Glück und Enttäuschungen erzählen.

Mal geht es um Auswanderer, deren Pläne von einer Augenkrankheit durcheinandergewirbelt werden (La mèrica), mal um die Möglichkeit einer Ehe im fortgeschrittenen Alter, die sich dann aber motivgemäß als Schaum erweist (Bevor…). Und immer wieder die Sehnsucht, Enttäuschung und Melancholie, die die Erzählungen durchweht

Und so sah man sie tagtäglich. Am Ende jener Menge, die über den Corso flanierte, leuchtet in den schwarzen Wogen aus Umhängen und Mänteln das rote Kleid Liborias. Wie drückte Don Pepè es aus? Eine Stange Siegellack. Am Abend saßen sie wie eh und je auf der Bank vor dem verlassen daliegenden Park, verharrten reglos und sprachen kein einziges Wort. Nur die Bäume, die sanft wogten, schienen von traurigen Dingen zu flüstern.

Maria Messina – Sterne, die fallen, S. 180

Fazit

Die unterschiedlichen Stände, die Möglichkeiten der ungelebten Leben, all das scheint in Maria Messinas präzisen Erinnerungen auf, die sich auch in der Kurzform als eine wirkliche Entdeckung erweist. Mit leichten dialektonalen Einsprengsel fein von Christiane Pöhlmann übersetzt sind diese vielschichtigen Erzählungen eine echte Entdeckung, die einmal mehr den Wunsch verstärken, dass die Bewusstwerdung dieser literarischen Autodidaktin (ihr Vater, ein Schulinspektor, verweigerte Messina den Schulbesuch und damit jegliche literarische Bildung, wie die Übersetzerin in ihrem Nachwort ausführt) möge eine endgültig dauerhafte sein!


  • Maria Messina – Sterne, die fallen
  • Aus dem Italienischen von Christiane Pöhlmann
  • ISBN 978-3-7518-8047-3 (Friedenauer Presse)
  • 236 Seiten. Preis: 24,00 €

Hannah Lühmann – Heimat

Raus aus der Stadt, rein ins Grüne. Das Einfamilienhaus mit genug Platz für die Kinder und keinem Raum mehr für die Anonymität der Stadt, dafür nachbarschaftliche Verbundenheit und den Wald vor der Haustür. So sieht auch der Traum von Jana aus, die zusammen mit ihrem Mann Noah und den zwei Kindern den Traum eines Eigenheims auf dem Land in die Tat umgesetzt hat. Doch eine neue Heimat findet die junge Frau in Hannah Lühmanns gleichnamigen Roman auf andere Weise als gedacht.


Während die AfD weiter in schwindelerregende Zustimmungsregionen emporklettert (zumindest den Prognosen der Demoskopen nach), steht die deutschsprachige Gegenwartsliteratur dem Phänomen weiter recht hilflos gegenüber. Die Journalistin Hannah Lühmann unternimmt nun einen literarischen Versuch, um die Anschlussfähigkeit an das Gedankengut der in Teilen rechtsextremen Partei zu beleuchten. In ihrem Roman Heimat ist es aber zunächst weniger der Partei, als die neue Nachbarin Karolin, die eine Faszination auf ihre Heldin Jana ausübt.

Zusammen mit ihrem Mann Noah lebt Jana in einem Neubaugebiet fern der Stadt. Zwei Kinder hat Jana bereits und ein drittes ist auf dem Weg. Grund zur Freude bietet das allerdings weniger. Die Schulden für das neue Heim drücken, ihr Mann, Lehrer, glänzt durch Abwesenheit und ist bis abends in der Schule, während Jana ihren Job in einer Agentur für die Kinder aufgegeben hat. Die von ihr zu leistende Care-Arbeit sorgt bei Jana für regelmäßige Überlastung – und so ist die Begegnung mit Karolin eine Wohltat. Sie, ebenfalls Mutter, zieht Jana schon beim ersten Treffen in ihren Bann.

Das Tradwife nebenan

Hannah Lühmann - Heimat (Cover)

Ebenfalls Mutter erkennt sie Janas Schwangerschaft mit einem Blick und ist so anders im Umgang mit ihren Kindern als Jana, die sich oft überfordert fühlt. Die Faszination Janas für sie und ihre Familie ist mit Händen zu greifen. Erst folgt sie Karolins erfolgreichem Auftritt auf Instagram – und sucht auch im echten Leben immer mehr Karolins Nähe. Sie, die mit ihrem Mann Clemens und den Kindern einen so ganz anderen Umgang pflegt, die Jana zum Mütter-Lesezirkel einlädt und der alles scheinbar mühelos zu gelingen scheint, sie wird zum Vorbild für Jana.

Auch seltsame Ansichten zu Themen wie Kindergarten, Impfung oder Überfremdung irritieren Jana nicht. Immer mehr lässt sie sich in den Dunstkreis von Karolin ziehen und entwickelt fast so etwas wie eine Abhängigkeit zu dieser Frau, deren Ansicht unmerklich auch Janas eigene Wahrnehmung und Verhaltensweisen ändern.

Heimat zeichnet die schleichende Übernahme von reaktionärem Gedankengut bei Jana nach. Karolins traditionelles, um nicht zu sagen erzreaktionäres Familienbild, demnach etwa der Wald ein deutlich besserer Lehrer für die Kinder als ein Kindergarten sei oder die Frau dem Mann untertan sein sollte, sie fallen bei Jana in ihrer Überforderung und Suche nach Orientierung auf fruchtbaren Boden.

Vom Lesekreis zum Standdienst für die AfD

Was mit einem Lesekreis beginnt, setzt sich bei Hannah Lühmann bis hin zum Standdienst für die AfD fort, bei der Clemens und Karolin aktiv sind. Morde von Tätern mit Migrationshintergrund und die geplante Asylbewerber-Unterbringung im Dorf stacheln die Menschen auf – und Jana wird zunehmend zur Verfechterin der Werte, die Karolin mit ihren digitalen Auftritten und im echten Leben propagiert.

Dabei ist es manchmal vielleicht etwas arg plakativ, wenn der Aufstieg der AfD immer wieder mit Bildern wie der vom Titelblatt lächelnden „kaltblonden“ Parteivorsitzenden ins Bild geschoben werden oder passenderweise in einem Kapitel die Titelseite mit den neuesten Umfragewerten aus einer Tasche herausblugt. Stilistisch ist das Buch doch eher schlicht gehalten und ist auf der sprachlichen Ebene das Äquivalent zum biederen Einfamilienhaus (auch wenn Emily Dickinsons Poesie eine Rolle im Buch spielt).

Aber Heimat zeigt eben auch, wie vermeintlich harmlos eine Radikalisierung erfolgen kann. Über Vorbilder wie die Tradwife Karolin und deren Einfluss auch auf Gebildete und emanzipierte Frauen wie Jana, die doch empfänglich sind für das Gedankengut, das langsam aber stetig in die Gesellschaft und in die Köpfe einsickert – dazu eine klare und ungeschönte Beschreibung familiärer Überforderung, die die Suche nach Halt und die Orientierung an fragwürdigen Vorbildern schlüssig erklärt.

Fazit

Die großen Erkläransätze für die Faszination AfD für Teile der Bevölkerung kann Heimat freilich nicht liefern – und will es auch nicht. Aber gerade weil Hannah Lühmann hier eher aufs Privatleben denn die große Politik blickt, zudem keine einfachen Wahrheiten anbietet und lieber den schleichenden Weg Janas in die Radikalisierung zeigt, ohne sich wertend einzumischen, hat Heimat für mich Qualitäten. Das Buch ist mit dem klaren Blick auf familiäre Dynamiken und Verschiebungen im Kleinen auch Sinnbild für das Große, das sich in diesem Land verändert, befeuert durch mediales Dauerfeuer und vermeintlich harmlose Gesichter wie die Karolins, deren Ziel Rückschritt anstelle von echtem Fortschritt ist.


  • Hanna Lühmann – Heimat
  • ISBN 978-3-446-28282-7 (Hanser Blau)
  • 176 Seiten. Preis: 22,00 €

Martina Clavadetscher – Die Schrecken der Anderen

Ein McGuffin im Eis, die Verstrickung der Schweiz in den Nationalsozialismus, dazu ein Terroranschlag, undurchsichtige Frauen, Männerbünde und obendrein jede Menge Verwirrung. Martina Clavadetscher schickt uns und vielleicht auch sich selbst etwas aufs Eis und lässt in Die Schrecken der Anderen Lesende ganz gehörig ins Rutschen geraten.


Was ist da los in der Schweiz? Im fiktiven Ödwilersee bewacht Archivar Schibig eine Leiche im Eis. Die herbeigerufenen Fachkräfte machen sich an die Freilegung des Mannes aus dem Eis – und Schibigs Neugier ist geweckt. Doch nicht nur seine, auch die Neugier der undurchsichtigen Rosa, die in einem Wohnwagen am Uferrand wohnt, weckt der Todesfall am See. Wer ist der Tote im Eis und wie kam er in den See?

Das ist die Frage, der der Archivar im ersten Erzählstrang des Romans von Martina Clavadetscher nachgeht. Dann ist da noch der zweite, nachgesetzte Erzählstrang um Kern, der gerne in Amt und Würden bei seinem elitären Club wäre, kurz vor der Ziellinie aber abgebremst wird. Während die dominante Mutter als Hausdrache daheim in der familieneigenen Villa das Pflegepersonal verschleißt, spioniert Kern seiner Frau hinterher, die er einer Affäre verdächtigt.

Diese beiden Erzählstränge sind es, die den erzählerischen Rahmen von Martina Clavadetschers bemerkenswert verwirrenden Roman bilden. Wer ist denn der Tote im Eis? Warum hat Rosa solches Interesse an den Hintergründen des Fundes und warum beginnen die beiden zu ermitteln? Was hat es mit Kerns Familienerbe auf sich und wie verhalten sich die beiden Erzählstränge zueinander?

Willkommen im Labyrinth

Statt Klarheit in diesen Fragen setzt Martina Clavadetscher ihre Leser*innen in ein Labyrinth aus Anspielungen, Sagen und Andeutungen, die zunehmend die Verwirrung verstärken, anstatt Antworten zu geben.

Er wird sich dem Kommenden fügen, Hauptsache er bleibt in Bewegung, damit die Angst ihn nicht wieder einholt. Bald wird in diesem Labyrinth schon ein roter Faden auftauchen, dem sie folgen können, denkt Schibig. Oder ein Reptilienschwanz, der sich im Frühling langsam, aber deutlich zu regen beginnt und an dem sie sich mit einem Ledergurt festschnüren könnten, um dieser Unklarheit zu entfliegen. Doch die Alte, als könnte sie seinen Gedankenausflug erkennen, blickt ihn über ihre Lesebrille an und meint: – Zuerst gehen wir noch etwas tiefer in die Angelegenheit hinein.

Martina Clavadetscher – Die Schrecken der Anderen, S. 93

Nein, ein roter Faden mag sich in diesem Durcheinander aus Andeutungen und Ideen nicht wirklich zeigen. Jugendliche, die mit Ku-Klux-Klan-Kapuzen im Fasching auftauchen und dabei wohlwollend verteidigt werden, elitäre und höchst diskrete Klubs, die mit Spenden und Hinterzimmerpolitik das Wohl und Wehe bestimmen, dazu noch die Spuren zum Toten, der auf den sprechenden Namen McGuffin hören soll. Es wird vieles angedeutet und geraunt in Martina Clavadetscher Roman, der roten Faden aber fehlt. Stattdessen taumelt man durch das literarische Labyrinth, stößt sich an Ecken und Wänden des Erzählens und steht vor immer neuen Wänden, die aus dem Nichts zu erwachsen scheinen.

Zerklüftetes Erzählen

Martina Clavadetscher - Die Schrecken der Anderen (Cover)

Immer mehr Volten schlägt die Handlung, die dabei auch vor Klischees und Groteske keine Scheu hat. Symbolik mit dem Holzhammer gibt es etwa, wenn die greise höchst pflegebedürftige Mutter als Art böser Hexe nach einigen Tagen ohne Betreuung ausgezehrt in ihrer Villa aufgefunden wird, wo sie irr lachend eine Nazi-Uniform umarmt. Subtil ist hier wenig – und auch wenig sinnstiftend.

Mit drängte sich bei der Lektüre von Die Schrecken der Anderen der Eindruck auf, dass Martina Clavadetscher viele Themen und Punkte behandeln will. Die Kontinuität von Gewalt, die Mythen und Selbsttäuschung der Alpenrepublik und allen voran die Verstrickung der ach so „neutralen“ Schweiz in die Verbrechen der Nazis und die bis heute andauernde Sympathie für die Ideologien der einstigen Machthaber – und die aktive, finanzgestützte Förderung des Gedankenguts, sie sind Themen in Clavadetscher thematisch eigentlich doch wirklich interessantem Roman.

Leider geht das aber im erzählerischen Labyrinth zwischen Toten im Eis, Terroranschlägen, täppischen Ermittlungen, Fantasyelemente und sehr viel Theaternebel verloren. Das über dem See befindliche Frakmont-Gebirge gibt mit seinem Namen ebenfalls schon vor, was einen erwartet: zerklüftetes und nicht wirklich zugängliches Erzählen, ganz so wie es der Name der fiktiven Gesteinsformation in Clavadetschers Roman verheißt.

Fazit

Wie schon ihr Schweizer Landmann Jonas Lüscher will auch Martina Clavadetscher hier zu viel und verliert den Fokus ob der aufeinandergeschichteten Motive und erzählerischen Brüche und Spiegelungen. Mehr roter Faden und weniger Raunen, Fokus auf klarere Themen statt ständiges Beschwören der der Abhängigkeit aller Dinge und damit ein Zuviel an Themen, es hätte zumindest für mich die Orientierung und die Eindringlichkeit von Die Schrecken der Anderen verbessert.


  • Martina Clavadetscher – Die Schrecken der Anderen
  • ISBN 978-3-406-83698-5 (C. H. Beck)
  • 333 Seiten. Preis: 25,00 €

Christoph Hein – Das Narrenschiff

Die DDR – ein Schiff voller Narren? In seinem Breitwandpanorama Das Narrenschiff zeichnet Christoph Hein den schlingernden Kurs des Dampfers namens Deutsche Demokratische Republik nach und lässt ein ganzes Ensemble von Figuren die Entwicklungen des Landes auf unterschiedlichen Ebenen erleben. Damit leistet der Autor einen wichtigen Beitrag zum Verständnis ostdeutscher Lebenswelten und beugt einseitiger Vereinnahmung der DDR-Geschichte vor. Und nebenbei liest sich das Ganze auch noch höchst unterhaltsam.


Die literarische Beschäftigung mit der DDR, sie treibt auch im 36. Jahr nach dem Mauerfall weiter viele lesenswerte Blüten. Mit seinem neuen Roman fügt sich Christoph Hein mit seinem Roman in eine ganze Riege an Autorinnen von Annett Gröschner über Anne Rabe bis zu Charlotte Gneuß, die vor zwei Jahren mit ihrem Roman Gittersee debütierte.

Allen Büchern ist gemein, dass die Autorinnen in ihren Romanen das Lebensgefühl in der DDR von Resignation über Rebellion bis hin zu Anpassung eindringlich erkunden. Auch Christoph Hein gelingt das in seinem Roman Das Narrenschiff ganz hervorragend. Der 1944 in Schlesien geborene Hein zeigt in seinem Werk höchst anschaulich und nachvollziehbar, wie das Leben in der DDR war – und wie sich verschiedene Figuren in diesem System verhielten.

Angefangen bei der „Stunde Null“ bis hinein in die Nachwendezeit reicht der dickleibige, 750 Seiten starke Roman, der die ganze Fülle von Emotionen in den Blick nimmt, die der ostdeutsche Staat bei seinen Bewohnern hervorrief. Von der Verheißung eines antifaschistischen Landes nach den erlebten Kriegsgräuel bis hin zum Gefühl der Fremdbestimmung in der Wendezeit reicht der emotionale Bogen, der auch die Figuren nicht von den Brüchen, Enttäuschungen und der Zerrissenheit ausnimmt, wie sie jene Zeit vielfach kannte.

Zwei Familien in der DDR

Christoph Hein - Das Narrenschiff (Cover)

Den Mittelpunkt bilden in Heins Roman zwei Familien, deren Lebenswege Das Narrenschiff nachzeichnet. Familie Emser besteht aus dem Ökonomieprofessor Karsten Emser, der schon unmittelbar nach dem Ende der Nazi-Herrschaft in einer Gruppe um Walter Ulbricht aus Moskau nach Berlin aufbrach, um den neuen Arbeiter- und Bauernstaat aufzubauen. Als Mitglied des Zentralkomitees der Staatspartei zählt er mit seiner Frau, der Stellvertreterin des Bürgermeisters zu den obersten Kadern des Landes.

Sie verbindet eine Freundschaft mit Familie Goretzka, deren Zusammenhalt eher auf Vernunft denn Liebe gründet. Yvonne Goretzkas Mann Jonathan verschwand in den Wirren des Zweiten Weltkriegs und zurück blieb Yvonne mit der gemeinsamen Tochter Kathinka. Um dem Schicksal als Alleinerziehende zu entgehen, gab sie dem Werben des kriegsversehrten Johannes nach, der sich als ideologisch standfester Vertreter des Sozialismus präsentiert. Trotz ihres anfänglichem Haderns mit dem neuen politischen System und den Gegebenheiten bringt es Yvonne auch auf Druck ihres Mannes zur Leiterin eines sogenannten Kulturhauses, der dann eine Position im Kulturministerium zur ideologischen Überprüfung von Kinder- und Jugendfilmen folgt.

Fünfter im Bunde ist Professor Benaja Kuckuck, der ebenfalls mit seiner Position im neuen Staat hadert. Hochangesehener Shakespeare-Spezialist und Anglist, hat er sich während des Zweiten Weltkriegs als Jude nach England ins Exil geflüchtet, muss nach seiner Rückkehr in die neue DDR aber feststellen, dass ihn sein einstiges Exil und jetziges Leben in Ostdeutschland zum Paria im westlichen Wissenschaftsbetrieb macht. So bleibt ihm nur, sich mit der DDR zu arrangieren, in deren System er zum Vorgesetzten von Yvonne Goretzka in der Hauptverwaltung Film wird.

Kämpfe mit dem System DDR

Den Werdegang dieser Clique, ihr Hadern und Kämpfen mit dem Staat bis hinein ins private Glück mit Kindern und deren Entwicklung zeichnet Christoph Hein höchst unterhaltsam nach, indem er immer wieder von Figur zu Figur springt, anhand derer er die ganze Fülle von Verhalten gegenüber dem Staat nachzeichnen kann. Parteihörigkeit, Skepsis gegenüber dem Staat, der mit dem „Antifaschistischen Schutzwall“ seine Bürger einsperrt, offene Rebellion, drängende Ausreisewünsche, Bequemlichkeit, aber auch ein Hadern, das im Freundeskreis immer wieder thematisiert wird, etwa wenn die Wechsel in der politischen Führungen in den Bruderstaaten mit Blick auf das eigene Land diskutiert werden:

„Du hast mit Šik gesprochen?“

„Mehrmals. Es gibt einige Punkte, wo wir uns einig sind, die wir aber bisher nicht durchsetzen konnten. Und nun macht er es mit Dubček. Ich sagte ihm, ein Staat ist kein Kajak. Keine Nussschale, die man herumreißen kann. Es ist ein Riesentanker, und jede Kurskorrektur muss behutsam erfolgen. Bei einem Riesenschiff kann man den Kurs nicht plötzlich um hundertachtzig Grad drehen, das würde ein solches Schiff zerreißen.“

Benaja nickte vor sich hin und sagte dann nachdenklich: „Dann wäre es wohl ein Schiff voller Narren.“

Emser sah ihn erstaunt an. „Seltsam, dass du das sagst. Das mit dem Narrenschiff. Das Gleiche habe ich selbst auch schon Rita gegenüber erwähnt. Ein Narrenschiff. Natürlich. Narren sind immer mit an Bord.“

„Auch in der Kapitänskajüte?“

Karsten Emser lächelte, dann verfinstere sich plötzlich seine Miene.

Christoph Hein – Das Narrenschiff, S. 537

Der Staat als Narrenschiff

Der Staat als Narrenschiff, in dem Ideologie vor Vernunft ergeht und der sehenden Auges wider die Expertise von Kennern wie dem Ökologieprofessor Emser in Turbulenzen gerät, davon erzählt Christoph Hein höchst anschaulich. Ihm gelingt es, trotz manchmal leicht didaktischer Erklärdialoge wie dem obigen, ein Gefühl vom Leben in der DDR zu vermitteln und zu zeigen, welche verschiedenen Wege die Menschen wählten, um sich zum Staat zu verhalten.

Bis hinein in die Diskurse unserer Tage zielt das Buch, etwa wenn nach der Friedlichen Revolution und der völligen Planlosigkeit des Zentralkomitees auf den letzten Meter der Tanker DDR endgültig havariert, was zum plötzlichen Ende des bislang bekannten Systems führt. Immobilien, die man als sein Eigentum wähnte, werden nun per Grundbuch von Westdeutschen zurückgefordert, Firmen, die pleitegehen und westdeutschen Konkurrenten verdrängt werden, Staatseigentum, das von Westdeutschen vereinnahmt wird – liest man Das Narrenschiff, lässt das das Fremdeln vieler Ostdeutscher mit Westdeutschland auch fast vier Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Staates besser verstehen.

Fazit

In Das Narrenschiff treffen Systemtreue und Zufriedenheit auf Aufbruchsgeist und Rebellion. Heins Figuren altern mit dem Land, in dem sie leben, und tragen die Brüche jener Zeit auch in ihren literarischen Leibern. Hein gelingt mit seinem Panorama des Lebens in der DDR ein wichtiges Buch, das Verständigungsarbeit leistet und aus vielen Blickwinkeln das System DDR und seinen Weg in den Untergang nachzeichnet.

Das ist ein großes Panorama, ein wichtiges literarisches Dokument zum Verständnis dieses untergegangenen Landes und ein wirklich unterhaltsames Buch, das seine zeitintensive Lektüre mit viel Einsicht, Unterhaltung und auch Dramatik belohnt. Eine Honorierung von Heins Buch angesichts der bevorstehenden literarischen Preissaison hierzulande würde ich ausdrücklich begrüßen!


  • Christoph Hein – Das Narrenschiff
  • ISBN 978-3-518-43226-6
  • 750 Seiten. Preis: 28,00 €