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Hannah Lühmann – Heimat

Raus aus der Stadt, rein ins Grüne. Das Einfamilienhaus mit genug Platz für die Kinder und keinem Raum mehr für die Anonymität der Stadt, dafür nachbarschaftliche Verbundenheit und den Wald vor der Haustür. So sieht auch der Traum von Jana aus, die zusammen mit ihrem Mann Noah und den zwei Kindern den Traum eines Eigenheims auf dem Land in die Tat umgesetzt hat. Doch eine neue Heimat findet die junge Frau in Hannah Lühmanns gleichnamigen Roman auf andere Weise als gedacht.


Während die AfD weiter in schwindelerregende Zustimmungsregionen emporklettert (zumindest den Prognosen der Demoskopen nach), steht die deutschsprachige Gegenwartsliteratur dem Phänomen weiter recht hilflos gegenüber. Die Journalistin Hannah Lühmann unternimmt nun einen literarischen Versuch, um die Anschlussfähigkeit an das Gedankengut der in Teilen rechtsextremen Partei zu beleuchten. In ihrem Roman Heimat ist es aber zunächst weniger der Partei, als die neue Nachbarin Karolin, die eine Faszination auf ihre Heldin Jana ausübt.

Zusammen mit ihrem Mann Noah lebt Jana in einem Neubaugebiet fern der Stadt. Zwei Kinder hat Jana bereits und ein drittes ist auf dem Weg. Grund zur Freude bietet das allerdings weniger. Die Schulden für das neue Heim drücken, ihr Mann, Lehrer, glänzt durch Abwesenheit und ist bis abends in der Schule, während Jana ihren Job in einer Agentur für die Kinder aufgegeben hat. Die von ihr zu leistende Care-Arbeit sorgt bei Jana für regelmäßige Überlastung – und so ist die Begegnung mit Karolin eine Wohltat. Sie, ebenfalls Mutter, zieht Jana schon beim ersten Treffen in ihren Bann.

Das Tradwife nebenan

Hannah Lühmann - Heimat (Cover)

Ebenfalls Mutter erkennt sie Janas Schwangerschaft mit einem Blick und ist so anders im Umgang mit ihren Kindern als Jana, die sich oft überfordert fühlt. Die Faszination Janas für sie und ihre Familie ist mit Händen zu greifen. Erst folgt sie Karolins erfolgreichem Auftritt auf Instagram – und sucht auch im echten Leben immer mehr Karolins Nähe. Sie, die mit ihrem Mann Clemens und den Kindern einen so ganz anderen Umgang pflegt, die Jana zum Mütter-Lesezirkel einlädt und der alles scheinbar mühelos zu gelingen scheint, sie wird zum Vorbild für Jana.

Auch seltsame Ansichten zu Themen wie Kindergarten, Impfung oder Überfremdung irritieren Jana nicht. Immer mehr lässt sie sich in den Dunstkreis von Karolin ziehen und entwickelt fast so etwas wie eine Abhängigkeit zu dieser Frau, deren Ansicht unmerklich auch Janas eigene Wahrnehmung und Verhaltensweisen ändern.

Heimat zeichnet die schleichende Übernahme von reaktionärem Gedankengut bei Jana nach. Karolins traditionelles, um nicht zu sagen erzreaktionäres Familienbild, demnach etwa der Wald ein deutlich besserer Lehrer für die Kinder als ein Kindergarten sei oder die Frau dem Mann untertan sein sollte, sie fallen bei Jana in ihrer Überforderung und Suche nach Orientierung auf fruchtbaren Boden.

Vom Lesekreis zum Standdienst für die AfD

Was mit einem Lesekreis beginnt, setzt sich bei Hannah Lühmann bis hin zum Standdienst für die AfD fort, bei der Clemens und Karolin aktiv sind. Morde von Tätern mit Migrationshintergrund und die geplante Asylbewerber-Unterbringung im Dorf stacheln die Menschen auf – und Jana wird zunehmend zur Verfechterin der Werte, die Karolin mit ihren digitalen Auftritten und im echten Leben propagiert.

Dabei ist es manchmal vielleicht etwas arg plakativ, wenn der Aufstieg der AfD immer wieder mit Bildern wie der vom Titelblatt lächelnden „kaltblonden“ Parteivorsitzenden ins Bild geschoben werden oder passenderweise in einem Kapitel die Titelseite mit den neuesten Umfragewerten aus einer Tasche herausblugt. Stilistisch ist das Buch doch eher schlicht gehalten und ist auf der sprachlichen Ebene das Äquivalent zum biederen Einfamilienhaus (auch wenn Emily Dickinsons Poesie eine Rolle im Buch spielt).

Aber Heimat zeigt eben auch, wie vermeintlich harmlos eine Radikalisierung erfolgen kann. Über Vorbilder wie die Tradwife Karolin und deren Einfluss auch auf Gebildete und emanzipierte Frauen wie Jana, die doch empfänglich sind für das Gedankengut, das langsam aber stetig in die Gesellschaft und in die Köpfe einsickert – dazu eine klare und ungeschönte Beschreibung familiärer Überforderung, die die Suche nach Halt und die Orientierung an fragwürdigen Vorbildern schlüssig erklärt.

Fazit

Die großen Erkläransätze für die Faszination AfD für Teile der Bevölkerung kann Heimat freilich nicht liefern – und will es auch nicht. Aber gerade weil Hannah Lühmann hier eher aufs Privatleben denn die große Politik blickt, zudem keine einfachen Wahrheiten anbietet und lieber den schleichenden Weg Janas in die Radikalisierung zeigt, ohne sich wertend einzumischen, hat Heimat für mich Qualitäten. Das Buch ist mit dem klaren Blick auf familiäre Dynamiken und Verschiebungen im Kleinen auch Sinnbild für das Große, das sich in diesem Land verändert, befeuert durch mediales Dauerfeuer und vermeintlich harmlose Gesichter wie die Karolins, deren Ziel Rückschritt anstelle von echtem Fortschritt ist.


  • Hanna Lühmann – Heimat
  • ISBN 978-3-446-28282-7 (Hanser Blau)
  • 176 Seiten. Preis: 22,00 €

Martina Clavadetscher – Die Schrecken der Anderen

Ein McGuffin im Eis, die Verstrickung der Schweiz in den Nationalsozialismus, dazu ein Terroranschlag, undurchsichtige Frauen, Männerbünde und obendrein jede Menge Verwirrung. Martina Clavadetscher schickt uns und vielleicht auch sich selbst etwas aufs Eis und lässt in Die Schrecken der Anderen Lesende ganz gehörig ins Rutschen geraten.


Was ist da los in der Schweiz? Im fiktiven Ödwilersee bewacht Archivar Schibig eine Leiche im Eis. Die herbeigerufenen Fachkräfte machen sich an die Freilegung des Mannes aus dem Eis – und Schibigs Neugier ist geweckt. Doch nicht nur seine, auch die Neugier der undurchsichtigen Rosa, die in einem Wohnwagen am Uferrand wohnt, weckt der Todesfall am See. Wer ist der Tote im Eis und wie kam er in den See?

Das ist die Frage, der der Archivar im ersten Erzählstrang des Romans von Martina Clavadetscher nachgeht. Dann ist da noch der zweite, nachgesetzte Erzählstrang um Kern, der gerne in Amt und Würden bei seinem elitären Club wäre, kurz vor der Ziellinie aber abgebremst wird. Während die dominante Mutter als Hausdrache daheim in der familieneigenen Villa das Pflegepersonal verschleißt, spioniert Kern seiner Frau hinterher, die er einer Affäre verdächtigt.

Diese beiden Erzählstränge sind es, die den erzählerischen Rahmen von Martina Clavadetschers bemerkenswert verwirrenden Roman bilden. Wer ist denn der Tote im Eis? Warum hat Rosa solches Interesse an den Hintergründen des Fundes und warum beginnen die beiden zu ermitteln? Was hat es mit Kerns Familienerbe auf sich und wie verhalten sich die beiden Erzählstränge zueinander?

Willkommen im Labyrinth

Statt Klarheit in diesen Fragen setzt Martina Clavadetscher ihre Leser*innen in ein Labyrinth aus Anspielungen, Sagen und Andeutungen, die zunehmend die Verwirrung verstärken, anstatt Antworten zu geben.

Er wird sich dem Kommenden fügen, Hauptsache er bleibt in Bewegung, damit die Angst ihn nicht wieder einholt. Bald wird in diesem Labyrinth schon ein roter Faden auftauchen, dem sie folgen können, denkt Schibig. Oder ein Reptilienschwanz, der sich im Frühling langsam, aber deutlich zu regen beginnt und an dem sie sich mit einem Ledergurt festschnüren könnten, um dieser Unklarheit zu entfliegen. Doch die Alte, als könnte sie seinen Gedankenausflug erkennen, blickt ihn über ihre Lesebrille an und meint: – Zuerst gehen wir noch etwas tiefer in die Angelegenheit hinein.

Martina Clavadetscher – Die Schrecken der Anderen, S. 93

Nein, ein roter Faden mag sich in diesem Durcheinander aus Andeutungen und Ideen nicht wirklich zeigen. Jugendliche, die mit Ku-Klux-Klan-Kapuzen im Fasching auftauchen und dabei wohlwollend verteidigt werden, elitäre und höchst diskrete Klubs, die mit Spenden und Hinterzimmerpolitik das Wohl und Wehe bestimmen, dazu noch die Spuren zum Toten, der auf den sprechenden Namen McGuffin hören soll. Es wird vieles angedeutet und geraunt in Martina Clavadetscher Roman, der roten Faden aber fehlt. Stattdessen taumelt man durch das literarische Labyrinth, stößt sich an Ecken und Wänden des Erzählens und steht vor immer neuen Wänden, die aus dem Nichts zu erwachsen scheinen.

Zerklüftetes Erzählen

Martina Clavadetscher - Die Schrecken der Anderen (Cover)

Immer mehr Volten schlägt die Handlung, die dabei auch vor Klischees und Groteske keine Scheu hat. Symbolik mit dem Holzhammer gibt es etwa, wenn die greise höchst pflegebedürftige Mutter als Art böser Hexe nach einigen Tagen ohne Betreuung ausgezehrt in ihrer Villa aufgefunden wird, wo sie irr lachend eine Nazi-Uniform umarmt. Subtil ist hier wenig – und auch wenig sinnstiftend.

Mit drängte sich bei der Lektüre von Die Schrecken der Anderen der Eindruck auf, dass Martina Clavadetscher viele Themen und Punkte behandeln will. Die Kontinuität von Gewalt, die Mythen und Selbsttäuschung der Alpenrepublik und allen voran die Verstrickung der ach so „neutralen“ Schweiz in die Verbrechen der Nazis und die bis heute andauernde Sympathie für die Ideologien der einstigen Machthaber – und die aktive, finanzgestützte Förderung des Gedankenguts, sie sind Themen in Clavadetscher thematisch eigentlich doch wirklich interessantem Roman.

Leider geht das aber im erzählerischen Labyrinth zwischen Toten im Eis, Terroranschlägen, täppischen Ermittlungen, Fantasyelemente und sehr viel Theaternebel verloren. Das über dem See befindliche Frakmont-Gebirge gibt mit seinem Namen ebenfalls schon vor, was einen erwartet: zerklüftetes und nicht wirklich zugängliches Erzählen, ganz so wie es der Name der fiktiven Gesteinsformation in Clavadetschers Roman verheißt.

Fazit

Wie schon ihr Schweizer Landmann Jonas Lüscher will auch Martina Clavadetscher hier zu viel und verliert den Fokus ob der aufeinandergeschichteten Motive und erzählerischen Brüche und Spiegelungen. Mehr roter Faden und weniger Raunen, Fokus auf klarere Themen statt ständiges Beschwören der der Abhängigkeit aller Dinge und damit ein Zuviel an Themen, es hätte zumindest für mich die Orientierung und die Eindringlichkeit von Die Schrecken der Anderen verbessert.


  • Martina Clavadetscher – Die Schrecken der Anderen
  • ISBN 978-3-406-83698-5 (C. H. Beck)
  • 333 Seiten. Preis: 25,00 €

Christoph Hein – Das Narrenschiff

Die DDR – ein Schiff voller Narren? In seinem Breitwandpanorama Das Narrenschiff zeichnet Christoph Hein den schlingernden Kurs des Dampfers namens Deutsche Demokratische Republik nach und lässt ein ganzes Ensemble von Figuren die Entwicklungen des Landes auf unterschiedlichen Ebenen erleben. Damit leistet der Autor einen wichtigen Beitrag zum Verständnis ostdeutscher Lebenswelten und beugt einseitiger Vereinnahmung der DDR-Geschichte vor. Und nebenbei liest sich das Ganze auch noch höchst unterhaltsam.


Die literarische Beschäftigung mit der DDR, sie treibt auch im 36. Jahr nach dem Mauerfall weiter viele lesenswerte Blüten. Mit seinem neuen Roman fügt sich Christoph Hein mit seinem Roman in eine ganze Riege an Autorinnen von Annett Gröschner über Anne Rabe bis zu Charlotte Gneuß, die vor zwei Jahren mit ihrem Roman Gittersee debütierte.

Allen Büchern ist gemein, dass die Autorinnen in ihren Romanen das Lebensgefühl in der DDR von Resignation über Rebellion bis hin zu Anpassung eindringlich erkunden. Auch Christoph Hein gelingt das in seinem Roman Das Narrenschiff ganz hervorragend. Der 1944 in Schlesien geborene Hein zeigt in seinem Werk höchst anschaulich und nachvollziehbar, wie das Leben in der DDR war – und wie sich verschiedene Figuren in diesem System verhielten.

Angefangen bei der „Stunde Null“ bis hinein in die Nachwendezeit reicht der dickleibige, 750 Seiten starke Roman, der die ganze Fülle von Emotionen in den Blick nimmt, die der ostdeutsche Staat bei seinen Bewohnern hervorrief. Von der Verheißung eines antifaschistischen Landes nach den erlebten Kriegsgräuel bis hin zum Gefühl der Fremdbestimmung in der Wendezeit reicht der emotionale Bogen, der auch die Figuren nicht von den Brüchen, Enttäuschungen und der Zerrissenheit ausnimmt, wie sie jene Zeit vielfach kannte.

Zwei Familien in der DDR

Christoph Hein - Das Narrenschiff (Cover)

Den Mittelpunkt bilden in Heins Roman zwei Familien, deren Lebenswege Das Narrenschiff nachzeichnet. Familie Emser besteht aus dem Ökonomieprofessor Karsten Emser, der schon unmittelbar nach dem Ende der Nazi-Herrschaft in einer Gruppe um Walter Ulbricht aus Moskau nach Berlin aufbrach, um den neuen Arbeiter- und Bauernstaat aufzubauen. Als Mitglied des Zentralkomitees der Staatspartei zählt er mit seiner Frau, der Stellvertreterin des Bürgermeisters zu den obersten Kadern des Landes.

Sie verbindet eine Freundschaft mit Familie Goretzka, deren Zusammenhalt eher auf Vernunft denn Liebe gründet. Yvonne Goretzkas Mann Jonathan verschwand in den Wirren des Zweiten Weltkriegs und zurück blieb Yvonne mit der gemeinsamen Tochter Kathinka. Um dem Schicksal als Alleinerziehende zu entgehen, gab sie dem Werben des kriegsversehrten Johannes nach, der sich als ideologisch standfester Vertreter des Sozialismus präsentiert. Trotz ihres anfänglichem Haderns mit dem neuen politischen System und den Gegebenheiten bringt es Yvonne auch auf Druck ihres Mannes zur Leiterin eines sogenannten Kulturhauses, der dann eine Position im Kulturministerium zur ideologischen Überprüfung von Kinder- und Jugendfilmen folgt.

Fünfter im Bunde ist Professor Benaja Kuckuck, der ebenfalls mit seiner Position im neuen Staat hadert. Hochangesehener Shakespeare-Spezialist und Anglist, hat er sich während des Zweiten Weltkriegs als Jude nach England ins Exil geflüchtet, muss nach seiner Rückkehr in die neue DDR aber feststellen, dass ihn sein einstiges Exil und jetziges Leben in Ostdeutschland zum Paria im westlichen Wissenschaftsbetrieb macht. So bleibt ihm nur, sich mit der DDR zu arrangieren, in deren System er zum Vorgesetzten von Yvonne Goretzka in der Hauptverwaltung Film wird.

Kämpfe mit dem System DDR

Den Werdegang dieser Clique, ihr Hadern und Kämpfen mit dem Staat bis hinein ins private Glück mit Kindern und deren Entwicklung zeichnet Christoph Hein höchst unterhaltsam nach, indem er immer wieder von Figur zu Figur springt, anhand derer er die ganze Fülle von Verhalten gegenüber dem Staat nachzeichnen kann. Parteihörigkeit, Skepsis gegenüber dem Staat, der mit dem „Antifaschistischen Schutzwall“ seine Bürger einsperrt, offene Rebellion, drängende Ausreisewünsche, Bequemlichkeit, aber auch ein Hadern, das im Freundeskreis immer wieder thematisiert wird, etwa wenn die Wechsel in der politischen Führungen in den Bruderstaaten mit Blick auf das eigene Land diskutiert werden:

„Du hast mit Šik gesprochen?“

„Mehrmals. Es gibt einige Punkte, wo wir uns einig sind, die wir aber bisher nicht durchsetzen konnten. Und nun macht er es mit Dubček. Ich sagte ihm, ein Staat ist kein Kajak. Keine Nussschale, die man herumreißen kann. Es ist ein Riesentanker, und jede Kurskorrektur muss behutsam erfolgen. Bei einem Riesenschiff kann man den Kurs nicht plötzlich um hundertachtzig Grad drehen, das würde ein solches Schiff zerreißen.“

Benaja nickte vor sich hin und sagte dann nachdenklich: „Dann wäre es wohl ein Schiff voller Narren.“

Emser sah ihn erstaunt an. „Seltsam, dass du das sagst. Das mit dem Narrenschiff. Das Gleiche habe ich selbst auch schon Rita gegenüber erwähnt. Ein Narrenschiff. Natürlich. Narren sind immer mit an Bord.“

„Auch in der Kapitänskajüte?“

Karsten Emser lächelte, dann verfinstere sich plötzlich seine Miene.

Christoph Hein – Das Narrenschiff, S. 537

Der Staat als Narrenschiff

Der Staat als Narrenschiff, in dem Ideologie vor Vernunft ergeht und der sehenden Auges wider die Expertise von Kennern wie dem Ökologieprofessor Emser in Turbulenzen gerät, davon erzählt Christoph Hein höchst anschaulich. Ihm gelingt es, trotz manchmal leicht didaktischer Erklärdialoge wie dem obigen, ein Gefühl vom Leben in der DDR zu vermitteln und zu zeigen, welche verschiedenen Wege die Menschen wählten, um sich zum Staat zu verhalten.

Bis hinein in die Diskurse unserer Tage zielt das Buch, etwa wenn nach der Friedlichen Revolution und der völligen Planlosigkeit des Zentralkomitees auf den letzten Meter der Tanker DDR endgültig havariert, was zum plötzlichen Ende des bislang bekannten Systems führt. Immobilien, die man als sein Eigentum wähnte, werden nun per Grundbuch von Westdeutschen zurückgefordert, Firmen, die pleitegehen und westdeutschen Konkurrenten verdrängt werden, Staatseigentum, das von Westdeutschen vereinnahmt wird – liest man Das Narrenschiff, lässt das das Fremdeln vieler Ostdeutscher mit Westdeutschland auch fast vier Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Staates besser verstehen.

Fazit

In Das Narrenschiff treffen Systemtreue und Zufriedenheit auf Aufbruchsgeist und Rebellion. Heins Figuren altern mit dem Land, in dem sie leben, und tragen die Brüche jener Zeit auch in ihren literarischen Leibern. Hein gelingt mit seinem Panorama des Lebens in der DDR ein wichtiges Buch, das Verständigungsarbeit leistet und aus vielen Blickwinkeln das System DDR und seinen Weg in den Untergang nachzeichnet.

Das ist ein großes Panorama, ein wichtiges literarisches Dokument zum Verständnis dieses untergegangenen Landes und ein wirklich unterhaltsames Buch, das seine zeitintensive Lektüre mit viel Einsicht, Unterhaltung und auch Dramatik belohnt. Eine Honorierung von Heins Buch angesichts der bevorstehenden literarischen Preissaison hierzulande würde ich ausdrücklich begrüßen!


  • Christoph Hein – Das Narrenschiff
  • ISBN 978-3-518-43226-6
  • 750 Seiten. Preis: 28,00 €

Virginia Woolf – Mrs. Dalloway

Bewusstseinsstrom im Takt des Big Ben. In ihrem vor hundert Jahren erschienenen Roman Mrs. Dalloway erprobt Virginia Woolf die Möglichkeiten des modernen Erzählens und erschafft so einen Roman, der dem Fluss der Gedanken, der Zeit und des Lebens Raum gibt. Literatur, deren Ästhetik auch heute noch verblüfft.


Nein, eine inhaltliche Zusammenfassung von Virginia Woolf Mrs. Dalloway muss eigentlich scheitern. Denn obschon der zeitliche Rahmen eines Tages eigentlich ganz klar umrissen ist, herrscht im Inneren dieses Rahmens ein wildes Durcheinander. So beginnt zwar alles mit Clarissa Dalloway, die sich zum Blumenkauf außer Haus begibt und durch die Straßen von London wandert. Damit lösen sich aber auch rasch sämtliche konkreten Bezüge auf. Schon nach wenigen Seiten hat Virginia Woolf die Leserinnen und Leser in einem wilden Literaturdschungel verstrickt, bei dem von den anfänglichen Gewissheiten rasch nicht mehr viel übrigbleibt.

Denn es war Mitte Juni. Der Krieg war vorbei, außer für jemanden wie Mrs. Foxcroft gestern Abend in der Botschaft, die sich zu Tode grämte, weil dieser nette Junge umgekommen war und das alte Herrenhaus jetzt einem Cousin zufallen musste; oder Lady Bexborough, die, wie es hieß, einen Wohltätigkeitsbazar eröffnet hatte mit dem Telegramm in der Hand, John, ihr Liebling, tot; aber es war vorbei; Gott sei Dank – vorbei. Es war Juni. Königin und Königin waren in ihrem Palast.

Virginia Woolf – Mrs. Dalloway, S 2 f.

Die anfänglich genauen Koordinaten leiten schon wenige Seiten später nicht mehr zielführend durch das Buch. Denn Virginia Woolf experimentiert unerschrocken mit Satzperioden, Perspektiven, wörtlicher und indirekter Rede, verschneidet innerer mit äußerer Handlung. So webt sie einen herausfordernden Sprachteppich, den Melanie Walz mindestens ebenso unerschrocken ins Deutsche übertragen hat.

Sie strich die Ecken der Papiere glatt, legte sie zusammen und verschnürte das Päckchen, fast ohne hinzusehen, saß nah bei ihm, neben ihm, als wären all ihre Blütenblätter um sie herum, dachte er. Sie war ein Baum in voller Blüte; und aus ihren Zweigen blickte das Gesicht eines Gesetzgebers, der eine Zuflucht gefunden hatte, wo sie niemanden fürchtete, weder Holmes noch Bradshaw – ein Wunder, ein Triumph, der letzte und größte.

Virginia Woolf – Mrs. Dalloway

Ein Tag im Juni in London

Virginia Woolf - Mrs. Dalloway (Cover)

Das Personal bildet einen Reigen, der von Clarissa Dalloway als Mitglied der gehobenen englischen Mittelschicht angeführt wird. Sie durchmisst Straßen und Plätze von Westminster und plant in Gedanken den abendlichen Empfang, zu dem sich kein geringerer als der Premierminister angesagt hat. Dann wiederum springt Virginia Woolf zu Peter Walsh, der Clarissa einst anbetete und es eigentlich noch immer tut.

Ärzte, Kriegsheimkehrer, Eheleute, alles wechselt sich ab, geht ineinander über und bildet das assoziative Grundrauschen dieses Romans, bei dem schnell nur noch die kontinuierlichen Schläge des Big Ben Indiz für das Verstreichen des Tages sind, den Woolf schildert. Diese Schläge sind einer der wenigen verlässlichen Bezüge auf die Außenwelt, die hier zugunsten der reichen Gedankenwelt von Woolfs Figuren in den Hintergrund tritt (und aufgrund derer der eigentlich geplante Titel The hours der treffendere gewesen wäre, ist doch der Personenreigen im Stundentakt das eigentliche Thema).

Ähnlich wie ihr irischer Schriftstellerkollege James Joyce nutzt auch Virginia Woolf in ihrem Roman ausgiebig die Erzähltechnik des Gedankenstroms, der durch den Roman leitet und in dem immer wieder einzelne Motive wie der Suizid oder die unerfüllte Liebe auftauchen und Figuren miteinander verbinden.

Ein Paradebeispiel der literarischen Moderne

Mrs. Dalloway fügt sich passgenau in die Moderne ein, die auf ganz unterschiedlichen Kunstfeldern vor hundert Jahren Blüten trieb. In Deutschland etwa verfasste Alexander Döblin sein bahnbrechendes Werk Berlin Alexanderplatz, das eine Ahnung vom Durcheinander im modernen Berlin der Zwischenkriegszeit gab. In der Kunst experimentierten Lyonel Feininger, Georges Braque oder Ernst Ludwig Kirchner mit Formen und deren Auflösung, Verfremdung und malerischem Ausdruck. In Wien brachen Arnold Schönberg und seine Schüler wie etwa Alexander von Zemlinsky das herkömmliche Tonsystem auf und entwickelten die Zwölftontechnik, die die bisher eingeübte harmonische Praxis vollends auf den Kopf stellte.

Virginia Woolfs Text ist das literarische Gegenstück zu diesen Entwicklungen in den anderen Kunstsparten. Ihr gelingt es mit Worten, herkömmliche Perspektiven und Lesegewohnheiten aufzubrechen und Leserinnen und Leser vor eine literarische Herausforderung zu stellen. Ihr fiebriges, unermüdlich in den Gedanken ihrer Figuren herumirrendes Werk ist eines, von dem auch heute noch Kreative zehren.

Wie dies aussehen kann, das zeigt auch die vorliegende Ausgabe der Büchergilde Gutenberg, die mit dem diesjährigen Gestalterpreis der Buchgenossenschaft ausgezeichnet wurde. So lieferten 26 Studierende und Alumni der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle Illustrationen zu diesem Werk, die ebenso polyphon und vielgestaltig sind, wie es die Prosa von Virginia Woolf ist.

Leicht unterschiedliche Schrifttypen und eine Uhr anstelle von herkömmlichen Seitenzählungen unterstreichen den Fluss des Textes, der durch die Schläge des Big Ben strukturiert wird. Zahlreiche Fußnoten mit hilfreichen Erläuterungen zu Bezügen und Anspielungen in Woolfs Text runden das Lese- und Kunsterlebnis dieser Ausgabe ab. So zeigt sich wieder einmal, welche Kraft noch immer von dieser Mrs. Dalloway ausgeht und wie sie Kunst und Künstler inspiriert. Ein eindrucksvoller Beweis für die Modernität dieses Werks!


  • Virginia Woolf – Mrs. Dalloway
  • Aus dem Englischen von Melanie Walz
  • Artikelnummer 174707 (Büchergilde Gutenberg)
  • 368 Seiten. Preis: 32,00 €

Bora Chung – Der Fluch des Hasen

Wenn plötzlich sprechende Köpfe in der Toilette auftauchen, Der Fluch des Hasen zuschlägt oder ein junger Mensch in einer archaischen Umgebung Prometheus-gleich malträtiert wird, dann befinden wir uns in der Welt von Bora Chung. Der Kurzgeschichtenband der südkoreanischen Autorin versammelt kurze Episoden, die von Horror bis Science Fiction reichen und von Schattenkindern, invertierten Schwangerschaften und mehr Kreativ-Monströsem erzählen.


Völlig baff und glückstränenüberströmt stand sie plötzlich auf der Bühne unter der Glaskuppel der Messe Leipzig, Ky-Hyang Lee. Soeben war am Nachmittag des 21. März ihr Name gefallen, als es um den Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung ging.

Eine Rede habe sie nicht vorbereitet, so Ky-Hyang Lee, die sich in einer sponaten Danksagung dann für den Preis auch als Zeichen ihrer langjährigen Arbeit im Hintergrund der Texte bedankte.

Übersetzerin Ki-Hyang Lee bei ihrer Dankesrede.
Quelle: Leipziger Messe GmbH / Stefan Hoyer

Das Unheimliche und Monströse laufen bei der gesellschaftskritisch versierten Koreanerin Bora Chung zu großer Form auf. Ki-Hyang Lee ist es zu verdanken, dass ihre Geschichten auch auf Deutsch abgründig funkeln. In der pointierten und leicht neben die Norm gesetzten Sprache, die Ki-Hyang Lee den Texten von Bora Chung verleiht, haben sie eine zitternde Offenheit für das Neue und Unerwartete. Das Niedliche und das Widerliche kommen uns daraus entgegen.

Jurybegründung zum Preis der Leizpziger Buchmesse an Ki-Hyang Lee

Damit war an diesem Nachmittag in Leipzig der Auftakt gemacht zu einer Preisverleihung, bei der allesamt Bücher ausgezeichnet wurden, die den Horror und das Finstere im ganz normalen Alltag beleuchten. Auch der Blogger Thomas Hummitzsch fasst das auf seinem Blog Intellecutres noch einmal treffend zusammen:

Nun aber Der Fluch des Hasen. Was kennzeichnet das Buch? Es sind allesamt disparate Erzählungen, was Länge, Setting und die Themen anbelangt. Und doch kristallisiert sich im Lauf des Buchs ein genauer Blick auf das Abseitige, den Schrecken im Alltag heraus, der sich auf oftmals aus dem Zusammenleben zwischen Paaren speist. So eröffnet Bora Chung ihren Reigen des kleineren und größeren Horrors mit der Erzählung einer Frau, der nach dem Gang auf die Toilette an ebenjenem Ort ein sprechender Kopf entgegenblickt. Dieser verfertigt sich einem Golem gleich zwar nicht aus Lehm, dafür aus den Ausscheidungen der Frau zunehmend zu einem Körper.

Eine bemerkenswerte Koinzidenz zur Chungs Landsfrau Cho-Nam Joo, die bereits ebenfalls von Ki-Hyang Lee übersetzt wurde und die in ihrem letzten Werk ebenfalls das Wohlbefinden einer Frau entscheidend mit der sanitären Situation der heimischen Toilette korrelieren ließ.

Ekel und Abstoßung

Bora Chung - Der Fluch des Hasen (Cover)

Das Thema des Ekels und der Abstoßung setzt sich auch in den folgenden Geschichten fort. Eine verfluchte Hasenlampe sorgt für den Niedergang mehrerer Menschen. Ein Junge wird in der umfangreichsten Erzählung in einer archaischen Umgebung in einer Höhle gefangen gehalten, wo ihm ein mythologisches Flugwesen immer wieder Stücke aus seinem Körper reißt, ehe ihm die Flucht gelingt. Eine Prinzessin in einer Wüstenwelt soll statt der Märchenhochzeit mit ihrem Prinzen den Tod oder eine junge Frau nach der plötzlichen Schwangerschaft durch die Einnahme einer Antibabypille einen Partner finden, der das Ergebnis der Jungfrauengeburt akzeptiert.

Immer wieder scheint feministische Kritik an Gesellschafts- und Herrschaftssystemen in den Geschichten auf, die zwischen Fantasy und Horror, Ekel und Komik pendeln. Insofern liegt die Jury richtig, wenn sie die Ambivalenz zwischen Niedlichem und Widerlichen in der Laudatio als besonderes Merkmal rühmt.

Eine preiswürdige Übersetzung?

Einzig die Übersetzungsleistung wird außerhalb der Floskeln von der leicht neben die Norm gesetzten Sprache und der Offenheit für das Neue nicht unbedingt klar. Fast scheint es mir so, als wurde der Preis der Leipziger Buchmesse eher für Ki-Hyangs Lee übersetzerisches Lebenswerk denn genau für diesen Band zugesprochen. Die unbedingte Notwendigkeit, dieses Buch aus translatorischer Sicht auszuzeichnen, konnte ich beim Lesen nicht unbedingt nachvollziehen.

Sicher, alles ist rund übersetzt, es stört wenig, alles wirkt solide und sauber – aber es ist doch in meinen Augen eine recht konventionelle Sprache, die Der Fluch des Hasen kennzeichnet. Macht es das gleich preiswürdig?

Dass mein laienhafter Leseeindruck dahingehend doch etwas zu einfach und unpräzise ist, das zeigt nicht nur die Auszeichnung durch die Fachjury des Preises der Leipziger Buchmesse, auch der auf Übersetzungsarbeit spezialisierte Blog Tralalit seziert die Übersetzungsarbeit Ki-Hyang Lees und die Unterschiede in der deutschen und englischen Übersetzung des Buchs genauer, weshalb ich gerne auf die Analyse von Theresa Rüger verweise.

Fazit

So ist Bora Chungs Buch eines, das mit viel Verve und Freude auch am Monströsen und Ekel in den insgesamt zehn Geschichten zumeist Frauen zeigt, die mit den herrschenden männlich geprägten System hadern. Es sind Menschen, denen schier Unglaubliches passiert und die irgendwie in den Welten überleben müssen, in die sie Bora Chung stürzt. Horror aus Südkorea, in kleinen, aber durchaus heftigen Dosen, dazu noch in einer preisgekrönten Übersetzung, das ist Der Fluch des Hasen, der nun nach der Originalausgabe bei Culturbooks in der Reihe Büchergilde Weltempfänger vorliegt.


  • Bora Chung – Der Fluch des Hasen
  • Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
  • Büchergilde Weltempfänger, Artikelnummer 175215
  • 264 Seiten. Preis: 24,00 €