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Adieu to Old England

Jonathan Coe – Middle England

Vom Niedergang des einstigen Weltreichs England, vom Brexit und von der Suche nach dem richtigen Leben erzählt der Engländer Jonathan Coe in seinem Roman Middle England. Eine beschwingte Lektüre. Witzig, anrührend, politisch, nachdenklich oder mit anderen Worten: einfach gut gemacht!

Wie soll das gehen? Die Erkundung einer ganzen Nation, ihrer Probleme, ihrer soziologischen Verwerfungen, ihrer ganzen politischen Fülle und Vergangenheit? Besonders dann, wenn die Nation England heißt. Einst stolzes Oberhaupt des Commonwealth, Mutterland des Pop und nun Brexit-geschüttelt. Ein schwieriges Unterfangen – das der Brite Jonathan Coe in seinem Roman Middle England (Übersetzt von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs) aber bravourös löst. Wie gelingt ihm diese Vermessung der britischen Seele?

Jonathan Coe - Middle England (Cover)

Indem er nicht auf die extremen Ränder Englands schaut, sondern genau dorthin geht, wo die Mitte Englands liegt – nämlich ins Umland Birminghams. Doch nicht nur geographisch sucht Coe den Durchschnitt, auch soziologisch versucht sich Middle England an einer Diagnose der Durchschnittsbevölkerung. Dies gelingt ihm, indem er im Buch eine Vielzahl von Menschen zu Wort kommen lässt. Alte und Junge, Enttäuschte und Optimistische, Upperclass und Mittelschicht, Fremdenfeindliche, Liberale, Schriftsteller und Studentinnen. Sie alle bilden mit ihren Stimmen und Geschichten die Geschichte des gegenwärtigen Englands.

Jonathan Coe stellt einige Figuren in den Vordergrund seiner Geschichte, die schon in vorherigen Büchern eine Rolle spielten. So hatten Benjamin Trotter und seine Schwester in den Büchern The Rotter’s Club und The closed circle (beide auf Deutsch nur noch antiquarisch erhältlich) einen Auftritt. Mit Middle England schreibt Jonathan Coe ihre Geschichte nun nach über 18 Jahren Unterbrechung weiter. In diesen 18 Jahren ist viel passiert, was Benjamin und seine Freund*innen am eigenen Leib erfahren.

Geschütteltes England

Während in Deutschland seit 2005 ununterbrochen die CDU mit der Kanzlerin Angela Merkel in unterschiedlichen Konstellationen an der Macht war, sah und sieht die politische Großwetterlage in Großbritannien deutlich anders aus. 5 Regierungschefs in 13 Jahren, deren Halbwertszeit immer größer wurden. Stabilität sieht anders aus.

Wie es zu diesen instabilen Verhältnissen kommen konnte und wodurch der Brexit entgegen aller Progonosen zustandekam, davon erzählt Coe. Er tut dies über den Zeitraum vom April 2010 an bis hinein in den September 2018, als das Brexit-Referendum schon über die Bühne gegangen war, das Theater der Austrittsverhandlungen aber erst so richtig begann.

In seinem Roman beleuchtet Coe die gewaltigen Disruptionen, die die britische Gesellschaft durchziehen. Klassenkämpfe, Fremdenfeindlichkeit, der Kampf gegen die vermeintliche Politische Korrektheit, der Wunsch nach alter Größe. Alle Figuren, die Middle England bevölkern, erleben die großen gesellschaftlichen Konflikte und Themen am eigenen Leib.

Während Benjamin Trotter ganz abgeschieden in seiner umgebauten Wassermühle in Shropshire an einem Roman schreibt und Honegger-Streichkonzerte hört, erleben andere Figuren Straßenkämpfe, sehen den Niedergang der Industrienation Großbritannien oder werden bei Beförderungen übergangen. Dies führt bei vielen der Figuren im Roman zu Frust und dem Gefühl von herrschender Ungerechtigkeit.

Andere Figuren wie etwa der Zeitungskolumnist Doug haben den Kontakt zu diesen Menschen völlig verloren. Er verfasst meinungsstarke Zeitungskolumne um Zeitungskolumne, ohne überhaupt das fühlen, was er in seinen Texten vertritt. In Gesprächen, die zu den lustigsten Passagen dieses an Humor gewiss nicht armen Romans zählen, tauscht er sich mit einem Pressesprecher David Camerons in Hintergrundgesprächen über einen eventuellen Volksentscheid in Sachen Austritt aus der EU aus. Von der politischen Kaste verlacht und als absurd geschmäht, wird dieses Ereignis im Lauf des Romans dann doch eintreten.

Brexit und die Hintergründe

Liest man Middle England und verfolgt die zahlreichen Schicksale der von Coe fein beschriebenen Figuren, versteht man, wie es zu diesem Brexit kommen konnte. Über die Jahre hinweg beobachtet Coe seine Figuren und ihre Kämpfe, wodurch er noch so viel mehr über die britische Gesellschaft erzählen kann. Wegmarken wie etwa die Olympischen Spiele in London, den Mord an der Politikerin Jo Cox oder eben das Brexit-Referendum erzählt er packend durch die Augen seiner Figuren nach – und schafft so eines der besten Gesellschaftspanoramen Englands, das ich in letzter Zeit lesen durfte.

Das Herzland Großbritanniens?

Doch Middle England auf einen zeitdiagnostischen und politischen Roman verkürzen zu wollen, das täte dem Buch unrecht. Middle England ist auch eine Erkundung der Seele Großbritanniens. Was ist sie eigentlich, die Englishness? Pub, rote Telefonzelle und Fuchsjagd? Oder ist die Essenz des Britischen doch etwas ganz anderes? Dass Coe keine einfache Antwort auf diese komplexe Frage findet, zählt unbestritten zu den Qualitäten dieses großartigen Buchs.

Und dann ist da noch der oben schon erwähnte Humor. Auch wenn man diesen am Anfang noch nicht so ausmachen kann – Jonathan Coe liefert wirklich. Von absurden Szenen über Slapstick bis hin zu Dialogwitz – wie der Brite hier die verschiedenen Spielarten von Humor bedient, ist meisterhaft. Großartig schon alleine der Hybris-gesättigte Schriftsteller Lionel Hampshire, dem es gelang, mit dem Buch Die Otter-Dämmerung den Booker Prize zu gewinnen. Immer wieder taucht er im Buch auf. Oder die brüllend komische Sex-Szene Benjamins im Schrank, bei dem eine Duftkerze eine entscheidende Rolle spielt. Oder, oder, oder.

Fazit

In meinen Augen ist Middle England von Jonathan Coe ein Meisterwerk. Ein Buch, das in mir den Wunsch geweckt hat, auch die anderen (leider meist schon vergriffenen) Werke des Briten auf Deutsch zu lesen. Eines der besten, da vielstimmigsten und facettenreichsten Bücher dieses Frühjahrs. Und die deutlich bessere Wahl anstelle des völlig misslungen Versuchs einer Brexit-Satire von Ian McEwan. Gegen die Kakerlake nimmt sich Middle England aus wie das aktuelle Corona-gebeutelte England gegen den das British Empire zu seinen Glanzzeiten.

  • Coe, Jonathan: Middle England
  • Aus dem Englischen von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs
  • Folio-Verlag, ISBN ISBN 978-3-85256-801-0
  • 480 Seiten, 25,00 €
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Anna Burns – Milchmann

Wenn Lesen im Gehen zur Bedrohung wird. Anna Burns in „Milchmann“ über die Frage, wie es ist, in Zeiten des Terrors und der Repression erwachsen zu werden.


Viele Preise hat Anna Burns für ihren Roman Milchmann bereits errungen. So ist vor allem der renommierte Booker Prize zu nennen, den die Irin 2018 gewann. Weitere Preise folgten, darunter etwa der Orwell-Preis. Nun liegt das Buch in der (gelungenen) deutschen Übersetzung von Anna-Nina Kroll im Tropen-Verlag vor.

Worum geht es? Gleich eine der schwierigsten Fragen in diesem Buch vorweg. Denn einer genaue Verortung und präzisen Zuschreibung entzieht sich Anna Burns in ihrem Roman. Keine der Figuren hat einen richtigen Namen, sie alle tragen nur Funktionsbezeichnungen oder Spitznamen. Auch bleibt das Umfeld und die Zeit, in denen der Roman spielt, nebulös. Zwar lassen sich Bezüge auf die Situation in Belfast in den 70er Jahren herstellen, als gesichert kann das alles aber nicht gelten.

So unscharf dieser Milchmann in seiner Einordnung auch ist, so klar ist für mich die Geschichte, die in dem Buch steckt. Denn Milchmann ist die Geschichte eines Erwachsenwerdens in einem repressiven System und eine Geschichte einer Selbstbehauptung. Im Mittelpunkt steht die Ich-Erzählerin, die in einem vaterlosen Haushalt mit ihren Geschwistern aufwächst. Abwechselnd umsorgt und beschimpft von der Mutter wächst die Erzählerin heran, die stets einen eigenen Kopf hat.

Wenn Lesen zur Gefahr wird

Die Leidenschaft der Erzählerin gilt den großen Werken der Literatur, die sie vorzugweise beim Spazierengehen in ihrem Viertel liest. Eine Angewohnheit, die das Misstrauen ihrer Mitmenschen weckt. Denn alles was anders als „normal“ ist, wird im Viertel gnadenlos seziert und ist verpönt. So sind es etwa Homosexualität oder die Leidenschaft zum Kochen, die bei anderen Menschen dafür sorgen, dass Personen im Viertel ausgestoßen werden oder man sich über sie lustig macht. Auch so etwas wie Feminismus oder eben die Leidenschaft für Literatur sorgen für Gerede. Gerede, das immer weiter anschwillt, als die Erzählerin in den Fokus des Milchmanns gerät.

Anna Burns - Milchmann (Cover)

Dieser Milchmann verdient sein Geld allerdings nicht mit dem Ausfahren von Milch. Vielmehr ist er ein einflussreicher Mann, der scheinbar alles über die Erzählerin weiß. Er stellt ihr nach und versucht sie mit Drohungen und Andeutungen gefügig zu machen. Eine Tatsache, die dafür sorgt, dass ihre Mitmenschen die Erzählerin noch einmal mehr schneiden und über sie tuscheln. Doch ein einfacher Weg war es noch nie, den die Erzählerin gegangen ist. Vielmehr versucht sie sich an eigenen Strategien, um dem Milchmann zu entgehen.

Ähnlich wie in der großen Bestsellerreihe um die Freundinnen Lenù und Lila von Elena Ferrante ist es auch hier eine dumpfe, gewaltgesättigte Welt, in der Gerüchte, Streit und üble Nachrede das Leben bestimmen. Alles, was nicht der Norm entspricht, weckt Misstrauen. Alle, die einen eigenen Kopf haben und diesen auch durchsetzen, werden von der Gesellschaft ausgestoßen.

Da werden fast gewalttätige Auseinandersetzungen vom Zaun gebrochen, nur weil der Vielleicht-Freund der Besitzerin ein Teil einer Autokarosserie ergattert hat. Über die Frage, ob eventuell eine verhasste Flagge auf diesem Teil angebracht war und wer diese nun haben könnte, debattiert man zunächst energisch und wird dann fast handgreiflich. Der Genuss eines James-Bond-Films gilt als Verrat. Ausgangssperren werden hingegen wieder kollektiv missachtet.

Keine einfache Lektüre

Es ist eine schwierige Welt voll unsichtbarer Codes, Verhaltensweisen und rätselhafter Motive, in denen die Erzählerin aufwächst. Den Regeln der Gesellschaft beugt sie sich allerdings nicht, was mich stark für sie einnahm. Gerade auch das Lesen als Akt der Unangepasstheit ist ein stimmiges Motiv im Buch.

Obwohl man den Milchmann als Hymne auf das Lesen und das Versinken in erdachten Welten lesen kann, ist das Buch für mich eines, bei dem das selbst nicht gilt. Immer wieder legte ich das Buch zur Seite, tat mich phasenweise wirklich schwer mit der Lektüre. Das ist zum Einen der bedrückenden Welt geschuldet, die Anna Burns mit ihren Mechaniken beschreibt. Zum Anderen ist es auch die Prosa selbst, die es mir schwermachte. So erleichtert mir eine mögliche Verortung über Namen oder Bezeichnungen die Lektüre eines Buchs. Hier wurde konsequent darauf verzichtet.

Milchmann, Vielleicht-Freund, Chefkoch oder 10 Minuten-Gegend sind Bezeichnungen, von denen es im Buch wimmelt. Das wäre alleine für sich genommen auch nicht wirklich schlimm. Dann entscheidet sich Anna Burns in ihrem Roman aber auch, auf so etwas wie Struktur weitestgehend zu verzichten. Kaum eine Kapitelüberschrift und erst recht keine Absätze. Alles fließt seitenlang in Blöcken vor sich hin. Die Erzählung mäandert, und so etwas wie eine Verweilmöglichkeit am rettenden Ufer ist selten in Sicht. In diese Erzählkaskade muss man sich stürzen wollen. Einfach ist diese stilistische Widerborstigkeit sicher nicht.

Eine Geschichte als Aufklärung

Dann ist das Buch aber auch wieder voller eindrücklicher Szenen. Am beeindruckendsten für mich die Lehrerin, die ihren Schüler*innen das Sehen lehrt. Vor der Stunde galt für alle, die Erzählerin inklusive, die Weisheit, dass das Gras grün und der Himmel blau sei. Nach der Stunde ist dem mitnichten so. Beeindruckend schildert Anna Burns, wie die Schüler*innen das Sehen lernen und plötzlich feststellen, dass die Welt doch eine andere ist, als die sie sie vorher betrachtet haben. Hier zeigt sich auch stark das Motiv der Aufklärung, das in dem Buch eine wichtige Rolle spielt. So ist Milchmann auch eine Aufforderung, sich unter widrigen Umständen und in schwierigen gesellschaftlichen Lagen das eigenständige Sehen und Denken zu bewahren.


Insgesamt gesehen ist Milchmann für mich eine schwierige Lektüre, die mich dann doch aber auch belohnte. Das Buch steckt aufgrund seiner vagen Erzählweise voller Deutungsmöglichkeiten und ist sicher eines jener Bücher, bei dem die Interpretationen weit auseinandergehen.

Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll (Orig.: Milkman)
1. Aufl. 2020, 452 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-50468-2

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Alexi Zentner – Eine Farbe zwischen Liebe und Hass

I said if you’re thinkin’ of being my brother, it don’t matter if you’re black or white.

Diese Worte aus der 1991 erschienen Single „Black or White“ von Michael Jackson klingen knapp 30 Jahre seit Erscheinen so falsch wie selten zuvor. Während Rassismus und Ausgrenzung grassieren, ist Ideal von der friedlichen Koexistenz von Schwarz und Weiß in weite Ferne gerückt. Besonders in den USA lässt sich das beobachten. Verband man mit Barack Obama noch die Hoffnung auf Einheit und Überwindung der gesellschaftlichen Risse, so ist mit der Wahl Donald Trumps diese Hoffnung völlig zunichtegemacht. Im Gegenteil – Rassismus ist geradzu wieder hoffähig geworden. Eine Verrohung in der Sprache und im Denken ist feststellbar, Bewegungen wie Black Lives Matter sind Symptom eines gefährlichen Auseinanderdriftens zwischen den gesellschaftlichen Schichten des Landes.

Wie tief die Risse in der amerikanischen Gesellschaft sind, das beleuchtet der kanadische Autor Alexi Zentner in seinem Roman Eine Farbe zwischen Liebe und Hass eindrücklich. Ein Roman über White Supremacy und die Frage, welche Eigendynamik eine Lüge im aufgeheizten gesellschaftlichen Klima dieser Tage entfalten kann.


Die Motivation für seinen Roman erklärt Alexi Zentner im Vorwort seines Buchs. So waren seine Eltern Aktivisten gegen Antisemitismus und Rassismus, wofür sie auch angefeindet wurden. Trauriger Höhepunkt dessen war ein Anschlag, bei dem auf das Haus der Eltern ein Brandbombenanschlag durch eine Gruppe von Neonazis verübt wurde. Bis heute haben ihn die Erinnerung an die damaligen Ereignisse nicht losgelassen.

Mit diesem Roman wollte ich näher untersuchen, wie sich, während wir heranwachsen, unser Moralbewusstein verändert und festigt. Ich wollte erkunden, wie Hass die Liebe verkompliziert, wie ide Liebe uns blind machen kann für die Gefahren um uns herum, und wie Rassismus und Hass auch in den Leben derer wirken, die denken, sie haben sich auf niemandes Seite geschlagen.

Zentner, Alexi: Eine Farbe zwischen Liebe und Hass, S. 7

Zwischen Schule und Kirche

Das ist ihm – um das gleich einmal vorwegzunehmen – wirklich gelungen. Denn Zentner schafft es, die Widersprüche und Verwerfungen die Familie, Liebe und Loyalitäten verursachen können, mit seinem Roman erfahrbar zu machen. Ihm gelingt das, indem er den Jugendlichen Jessup in den Mittelpunkt seines Romans stellt. Zusammen mit seiner Mutter, seinem Stiefvater und zwei weiteren (Halb-)Geschwistern wohnt er in Cortaca in Upstate New York in einem Trailerpark. Auch wenn die Übersetzung (Werner Löcher-Lawrence) faktisch richtig von einem Wohnwagen spricht, ist es vielmehr eine mobile Wohnung mit mehreren Zimmern, die Jessups Familie dort in Cortaca bezogen hat.

Die Stadt gilt eigentlich als liberal, eine Ivy-League-Universität sorgt für einen regen Zulauf von Studenten und einen intellektuellen Nährboden. Doch auch in Cortaca ist nicht alles Gold, was glänzt.

Die Universität entwickelt ihre eigene Schwerkraft. Sie ist der größte Arbeitgeber der Stadt, aber sie ist nicht alles. Es gibt da noch die ganz andere Welt derer, die durch den Rost gefallen sind. Fünfunddreißig Prozent der Bevölkerung des Countys leben unterhalb der Armutsgrenze. Es gab mal jede Menge gute Jobs, aber es ist überall das Gleiche im Rust Belt des Landes.

Zentner, Alexi: Eine Farbe zwischen Liebe und Hass, S. 37

Sein Stiefvater schlägt sich als Klempner durch, die Mutter geht schwarz putzen, um die Familie irgendwie zu ernähren. Gerade sind die Zeiten noch härter, da Jessups Bruder Ricky und sein Stiefvater nicht da sind. Sie sitzen im Gefängnis ein. Sein Bruder hat zusammen mit seinem Vater vor einer Bar zwei schwarze Studenten getötet. Notwehr sagen sie, das Gericht sagt etwas anderes. Vor allem, da Videoaufzeichnung von der Tat vorliegen.

Erschwerend kommt hinzu, dass Jessups Stiefvater mit seiner Familie ein Anhänger der Heiligen Kirche des Weißen Amerikas ist. Eine Art KuKluxKlan mit pastoralem Anstrich und nur etwas weniger radikalen Auftreten. Aber ebenso strikt in der Trennung von Weiß und Schwarz, rassistisch und fremdenfeindlich. Wenngleich man das natürlich nicht zugibt und sich stattdessen lieber Ethnorealist nennt. Die Worte mögen sich unterscheiden, die Ansichten sind die gleichen

Zwischen Liebe und Hass

In diesem Umfeld wächst der 17-jährige Jessup heran. Halt findet er im Sport und in der Liebe. Auf dem Feld wird er von Coach Diggins beim Football trainiert. Er erweist sich als talentierter Footballer (wovon ein eingangs episch geschildertes Match Zeugnis ablegt). Heimlich liebt er die Tochter von Coach Diggins, Deanne. Die Liebe verheimlicht er allerdings dem Coach und seiner Familie. Denn Deanne ist schwarz. Und wenngleich Jessup die Heilige Kirche des Weißen Amerikas schon vier Jahre nicht mehr besucht hat – seine Herkunft wird man doch nicht so einfach los.

Dann wird Jessup auch noch auf einer Party von Freunden und Mitspielern in einen tödlichen Unfall verwickelt. Er beschließt, vor der Verantwortung davonzulaufen und seine Tat zu vertuschen. Und damit setzt er Ereignisse in Gang, die schon bald eine fatale Eigendynamik entwickeln. Bald muss er sich der Frage stellen, ob Liebe oder Hass in seinem Leben stärker sind. Wem gilt seine Loyalität? Und kann man das überhaupt – vor seiner Verantwortung davonlaufen?

Es sind komplexe Fragen, die Alexi Zentner in seinem Buch aufwirft. Und es spricht wirklich für ihn, dass er es sich nicht zu leicht macht. Denn mit Jessup erleben wir ein wirkliches Wechselbad der Gefühle. Da ist die heimliche Liebe zu Deanne, die den 17-jährigen euphorisiert. Dann ist da aber auch die Schuld nach dem Unfall, die immer drückender auf seinen Schultern lastet. Und auch wenn Jessup seinen Stiefvater eigentlich verachtet, muss er doch anerkennen, wie sehr dieser für seine Familie kämpft und diese beschützen will. All diese Widersprüche (auch in den Figuren selbst) vermittelt Zentner glaubhaft und plastisch. Ihm gelingt es, dass man sich selbst in der moralischen Zwickmühle wiederfindet. Wem gehört meine Loyalität? Was ist für mich das wichtigste? Wie hätte ich entschieden? Und kann man das wirklich? In Schwarz und Weiß denken?

Zwischen Gesellschaft und Familie

Mit seinem Buch gelingt Alexi Zentner ein präziser Blick sowohl auf Familie als auch auf Gesellschaft. Wie funktioniert Ausgrenzung und Rassismus? Wie vertiefen Menschen die Gräben zwischen Schwarz und Weiß und welcher Instrumente bedienen sie sich dabei? Seine Schilderungen besitzen dabei etwas Allgemeingültiges und sind vielfach anwendbar. Und auch Jessups Familie besitzt viel Symbolkraft. Wie die Patchwork-Familie mit ihren unterschiedlichen Ansichten Probleme löst, aber auch verursacht, das demonstriert Zentner in seinem Buch auf sehr glaubwürdige Art und Weise. Da verzeiht man dem Autoren auch locker das missglückte Ende.

Wenngleich es der Übersetzung manchmal an Präzision fehlt und es sich das Cover für meinen Geschmack zu einfach macht, so ist Eine Farbe zwischen Liebe und Hass doch ein eindrucksvolles Leseerlebnis. Diese Milieu- und Gesellschaftsstudie aus dem Hinterland der USA zielt mitten hinein in unsere heutigen Debatten. Ein Buch, das ich aufgrund seiner rasanten und gelungen Erzählweise und seinem Helden auch schon Jugendlichen dringend ans Herz legen möchte. Ein kluger Debattenbeitrag, der Alexi Zentner da gelungen ist. Denn es spielt oftmals eben doch eine Rolle, ob man schwarz oder weiß ist. Und ob man die Welt dann auch so sieht, oder auch empfänglich für ihre Grautöne ist.

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Regina Porter – Die Reisenden

Man kennt diesen unangenehmen Moment, wenn man bei fremden Menschen oder wahlweise sogar den potentiellen Schwiegereltern zu Gast ist. Gerne wird das willfährige Opfer zum richtigen Zeitpunkt zur Ahnengalerie geführt, die sich irgendwo im Hause befindet. Am besten in Petersburger Hängung sind sie dann an der Wand angebracht, dicht an dicht: Bilder von sämtlichen nahen und entfernten Verwandten. Urlaubsbilder, schon meist mit etwas Patina versehen. Kinderfotos, die den erwachsenen Zöglingen schon lange peinlich sind. Urlaubsfotos von Tante Gerda, Hochzeitsbilder der eigenen Großeltern. Verlobungsfotos von Onkeln und Tanten, in Sepia getränkte nostalgische Urlaubserinnerungen.

Die Fotos wollen kein Ende nehmen. Und dann ist da auch noch der Hausherr oder die Hausherrin, die sämtliche Fotos mit weitschweifigen Erklärungen versieht. Verwandtschaftsverhältnisse, Anekdoten aus Urlauben, peinliche Kindheitserinnerungen. Alles wird haarklein erzählt, man kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen. Es dauert und dauert und schon nach fünf Fotos hat man eigentlich den Überblick verloren. Aber man ist ja ein netter Gast und heuchelt Interesse. Und schon geht es weiter und das nächste Foto ist an der Reihe.

Wer je in einer solchen Situation gefangen war, der kann sie schlecht vergessen. Natürlich ist eine Vergegenwärtigung der eigenen Familiengeschichte schön und gut, aber nicht immer ist diese sonderlich spannend oder für Außenstehende verständlich. Einen Anflug dieses Gefühls hatte ich auch bei der Lektüre von Regina Porters Roman Die Reisenden (übersetzt von Tanja Handels), dessen Veröffentlichung ich schon entgegenfieberte. Ein schillerndes Zeitpanorama und ein intimes Familienepos zweier gegensätzlicher Familien, von der Bürgerrechtsbewegung bis hin zur Obama-Ära. Das versprach der Klappentext sowie die lobenden Stimmen, die das Erscheinen begleiten.

Konnte die Autorin diese Versprechen einhalten? Wie sich meinen Einleitungsworten entnehmen lässt, ist dies leider überhaupt nicht der Fall. Aber warum ist das so? Hier mein Versuch einer persönlichen Analyse.

Die Erzählkonstruktion als Fluch und Segen

So erweist sich der von Regina Porter gewählte Erzählansatz zugleich als Fluch und Segen. Als Segen, weil sie immer wieder durch unterschiedliche Jahre hüpft und die Erzählung so merklich auflockert und das starre narrative Gefüge durchbricht. Auch stehen ihr mit den zwei unterschiedlichen Familien viele Möglichkeiten offen, um Entwicklungen, Moden und Schicksale zu beleuchten und zu spiegeln. Allerdings liegt hier auch die Krux des Romans. Denn jede der beiden Familien hat zahlreiche Familienmitglieder, die von Regina Porter recht unverbunden alle lang und breit in Episoden gewürdigt werden. So bekommen Enkel, Eltern und Großeltern in verschiedenen Lebensstadien in unterschiedlichen Jahrzehnten ihre Auftritte. Mal wieder auktorial erzählt, dann gibt es wieder für ein Familienmitglied eine*n Ich-Erzähler*in.

So weit so gut. Allerdings schafft es Regina Porter nicht im Ansatz, sich zu beschränken und sich auf dieses Personal zu fokussieren. Denn sie führt auch noch außerehelich gezeugte Kinder, deren Nachbarn, deren Kindern und noch weiter entfernte Figuren ein, die alle in ERzählungen vorgestellt werden. Da sie diese Schicksale und Sprünge durch die Jahre auch nur mit sehr dünnem literarischen Kleber verbindet (manchmal ist es auch nur ein Name aus der vorherigen Episode, der dann in der 20 Jahre später spielenden Geschichte wieder relevant wird). Die Bezüge müssen dann mühsam selbst im Text herausgesucht werden – oder man schaut diesen gelinde gesagt etwas komplexen Stammbaum auf dem hinteren Vorsatzpapier an).

Alles ist mit allem verbunden.

Der Wahnsinn hat Methode

Ich mag ja Literatur, die mich fordert und die es mir nicht allzu leichtmacht. Hier hatte ich allerdings das Gefühl, einer etwas wirren und reichlich unstrukturierten Erzählerin vor ihrer gigantischen Bilderwand zu lauschen. Sicher: alles ist mit allem verbunden oder um mit dem mehrfach im Text zitierten Hamlet zu sprechen: Mir scheint, der Wahnsinn hat Methode. Auch mag es viele Leser*innen geben, die Freude an dem detektivischen Suchspiel der versteckten Bezüge haben. Ich hatte diese leider zu keinem Zeitpunkt der Lektüre. Etwas mehr literarischer Kitt hätte es schon sein dürfen. Da helfen auch keine etwas wahllos im Buch eingestreuten Fotografien, die den Realitätsgrad erhöhen sollen.

Auch hatte ich mir von der politischen Komponente in diesem Werk mehr erhofft. Natürlich werden Begebenheiten wie die Ermordung Martin Luther Kings oder der Rassismus in Form des Green Books erwähnt. Der Vietnamkrieg spielt sogar eine große Rolle. Allerdings hat es sich damit auch schon. Der große Gesellschaftsroman und Kommentar zu den politischen Entwicklungen ist dieses Buch mitnichten. Hier wird etwas zu einem Ereignis hochgejazzt, das es leider in meinen Augen nicht ist.

Für mich ist Die Reisenden somit alles andere als das erhoffte erzählerische Highlight des Frühjahrs. Ein Roman wie eine dreistündige Beschau einer eklektischen Bildersammlung. Schade drum!

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Ocean Vuong – Auf Erden sind wir kurz grandios

Einen Brief schreibt man ja eigentlich, damit er gelesen wird. Der Sender hat eine Botschaft, die er dem Empfänger mitteilen möchte. So simpel ist zunächst einmal das grundlegende Kommunikationsmodell. Doch was ist, wenn ein Sender einen Brief schreibt mit dem Wissen, dass ihn der Empfänger gar nicht lesen kann oder wird? Dann entsteht eine Unwucht im Kommunikationsmodell – oder im Fall von Ocean Vuong erstaunliche Literatur.

Denn das lyrische Ich in Vuongs Debüt beschließt, einen Brief an die eigene Mutter zu verfassen, die er im Lauf dieses Brief-Romans immer mit „Du“ adressiert. Doch die vietnamesische Mutter ist des Englischen nicht mächtig, weshalb sie den Brief nicht lesen wird. Im Wissen um diese Nichtkommunikation entsteht so ein Dokument, das ich als Akt der Befreiung und als radikale Selbstentblößung las.


Es ist eine allseits beliebte Frage, die beim Reden über Bücher zumeist als erstes gestellt wird: Worum geht es in dem Buch? Auf Erden sind wir kurz grandios macht es den Leser*innen da alles andere als einfach. Denn die Themen in Vuongs Buch sind ebenso vielfältig wie kaum kategorisierbar.

Da ist zum einen das Grundgerüst eines Briefs an die eigene Mutter, der sich zu einem Familiengemälde über drei Generationen entwickelt. Denn die Großmutter Lan und die Mutter des Erzählers lebten in Vietnam, ehe sie die Flucht in die USA antraten. Dort wächst dann der Erzähler heran, der mit der amerikanischen Kultur und Sprache sozialisiert wird. Wurzeln schlägt er dort aber keine, ist vielmehr das Opfer von Ausgrenzung und Schikane.

Blick auf die USA – und auf Vietnam

Dann ist das Buch aber auch ein eindringliches Portrait der USA im 21. Jahrhundert mit einem genauen Blick auf diese Menschen, die abseits der Ballungszentren leben und oftmals vergessen werden (man denke nur an Hillbilly Elegie von J. D. Vance). Die massenhafte Opioidkrise, die Millionen Tote forderte ist genauso ein Thema wie die Frage, wer in der weißen Mehrheitsgesellschaft der USA Repräsentation genießt.

Sein Buch ist eine präzise Auslotung des amerikanisch-vietnamesischen Verhältnisses, das so manches Mal erstaunliche Parallelen hervorbringt.

1997: Tiger Woods [der wie der Erzähler über vietnamesische Wurzeln verfügt] gewinnt das US-Masters, seinen ersten großen Titel im professionellen Golf.

1998: Vietnam eröffnet seinen ersten professionellen Golfplatz, angelegt auf einem ehemals von der U.S. Air Force zerbombten Reisfeld. Eines der Grüns entstand durch die Aufschüttung eines Bombenkraters.

Vuong, Ocean: Auf Erden sind wir kurz grandios, S. 74

Denn allmählich setzt in der amerikanischen Literatur eine spannende Entwicklung ein. Migrantische Stimmen werden lauter, die die Beziehung Vietnams zu Amerika nun auch aus der Sicht des damaligen Kriegsgegners beleuchten. So schaffen sie eine dringend nötige Gegenperspektive zu einer Erzählung, die bislang rein amerikazentriert stattfand. Vor allem Viet Thanh Nguyen und seine Bücher (Der Sympathisant bzw. Die Geflüchteten) wäre in dieser Reihe zu nennen, in der nun auch Ocean Vuong steht.

Dokument einer Selbstermächtigung

Doch nicht nur ein Blick auf die vietnamesische und amerikanische Gesellschaft ist der Roman von Ocean Vuong. Der Brief ist auch ein eindringliches Dokument einer Selbstermächtigung.

Denn Vuong hat nicht nur mit seiner migrantischen Identität zu kämpfen. Auch ist er homosexuell und berichtet von seinem Coming Out bzw. seiner sexuellen Initiation. Einmal bezeichnet sich der Erzähler auch als „queere, gelbe Tunte“ (S. 177), also ein doppelt ausgestoßener Mann, der auch an dieser Front um seine Selbstbestimmung kämpfen muss.

Umso erstaunlicher, wie souverän das lyrische Ich die unsichtbaren Fesseln abgelegt hat und sich radikal selbst entblößt. Die Tatsache, dass seine Mutter den Brief nie wird lesen können, ist in dem Falle eine große Befreiung. Immer wieder unterbrechen Reflexionen sein Schreiben, das sich auch klar erkennbar auf Denker*innen wie Roland Barthes oder Simone Weil beruft. Gerade Roland Barthes Tagebuch der Trauer, verfasst nach dem Tod von dessen Mutter, wird zum Auslöser, den Brief zu verfassen.

Ich weiß nicht, ob du glücklich bist, Ma. Ich habe nie gefragt.

Vuong, Ocean: Auf Erden sind wir kurz grandios, S. 43

Hier stellt sich ein Erzähler den Wunden der eigenen Vergangenheit und beschäftigt sich mit diesem akuten Thema Herkunft.

Die Frage der Identität

Apropos Herkunft: dass gerade Saša Stanišić , Verfasser eben jenes Werks, auf der Rückseite des Buchs mit einem Blurb vertreten ist, ist kein Wunder. Denn beiden Autoren ist viel gemein. Zum einen die migrantische Identität, die für ihre Prosa entscheidend ist. Und zum anderen auch die Herangehensweise an das Thema, das man kaum linear und chronologisch bezwingen kann. Wer bin ich, wo komm ich her, was macht mich aus? Diese Frage ist in der Literatur dies- und jenseits des Atlantiks von immer größerer Brisanz, je mehr das Thema Migration an Bedeutung gewinnt.

Zudem spielt in meinen Augen auch eine Rolle, dass sich junge Migrant*innen langsam auch mehr Repräsentanz in der Literatur erkämpfen. Früher marginalisierte Gruppen bekommen eine Stimme, bringen sich in die Diskurse ein und bereichern so die Literatur. Wenn man der These folgt, dass Literatur immer auch Gedächtnis sei, so erweitern wir unseren Wissensspeicher gerade durch solche Stimmen wie Stanišić oder Vuong immens. Eine Entwicklung, die mehr als notwendig ist.

Fazit

Bleibt nur noch die eingangs gestellte Frage, die ich auch nach der vollendeten Lektüre von Auf Erden sind wir kurz grandios nicht beantworten kann. Vuongs Buch ist eine wilde Mischung aus Memoir, Briefroman, Familiengeschichte, Coming Out, Gesellschaftsbetrachtung, Totengesang und dergleichen mehr (toll übersetzt durch Anne-Kristin Mittag).

Ocean Vuongs prall geschnürtes Bündel mit der etwas schwammigen Genrebezeichnung Roman wird durch einen Faden zusammengehalten, der um alle Themen geschlungen ist. Und dieser Faden heißt Identität. Alle Passagen sind von Wunsch nach Erinnerung und der Frage der Herkunft durchdrungen. Das macht dieses Buch so aktuell und notwendig, mag es auch manchmal sperrig oder widerborstig erscheinen.

Aber hier erhebt einer seine Stimme, dem man unbedingt zuhören sollte, möchte man die Probleme junger Migranten in den USA verstehen.


Weitere Rezensionen zu dem Titel gibt es unter anderem bei Poesierausch, auf Zeit Online sowie Literaturleuchtet und Lesen in vollen Zügen.

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