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Fereidoun M. Esfandiary – Der letzte Ausweis

Welch absurde Züge der Versuch der Erlangung eines Reisepasses annehmen kann, das lässt sich aus dem in der Reihe Weltlese der Büchergilde Gutenberg erschienenen Roman Der letzte Ausweis von Fereidoun M. Esfandiary erfahren. Besonders verkompliziert sich die Sache durch den Staat, dessen bürokratische Landschaften Esfandiarys Held in allen Höhen und Tiefen durchwandelt. Esfandiarys Roman spielt nämlich im Iran zur Zeit der 60er Jahre.


Es ist wohl eine der meistzitiersten Szenen aus den Asterixfilmen: die Rede ist vom Passierschein B38, den Asterix und Oblix im Film „Asterix erobert Roman“ erhalten müssen, um damit eine der vielen Aufgaben zu meistern, die ihnen im Auftrag Cäsars gestellt werden, um ihren ganz eigenen Marsch auf Rom zu unterbinden.

Dazu suchen die beiden Gallier eine römische Behörde auf, die sie nicht nur auf eine aberwitzige Odyssee auf der Suche nach Zuständigen für den ominösen Schrieb schickt, sondern auch schon bald die Behördenmitarbeiter*innen selbst in den Wahnsinn treibt. Die Absurdität und Sinnlosigkeit mancher Behördengänge und der vielgescholtenen Bürokratie wurde selten so prägnant zusammengefasst, sodass sich dieser Clip noch immer großer Beliebtheit erfreut und die Suche nach dem Passierschein schon fast zum geflügelten Wort geworden ist.

Ein Mann in den Mühlen der Bürokratie

Fereidoun M. Esfandiary - Der letzte Ausweis (Cover)

Liest man den ursprünglich in den 60er Jahren und 1999 unter dem Titel Identity Card (wieder)veröffentlichten Roman des iranischen Autors Fereidoun M. Esfandiary, erkennt man schnell, dass nicht nur in Zeichentrickfilme die Mühlen der Bürokratie langsam mahlen, sondern dazu beitragen können, Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Und das kommt im Falle von Esfandiarys Roman so:

Der Lehrer Dariusch Aryana kehrt nach einem langen Aufenthalt in seine Heimat Iran heim. Lange aufhalten will er sich dort aber nicht, im Gegenteil. In sich trägt er den Wunsch, schnell wieder sein Heimatland zu verlassen. Doch dafür braucht er einen Ausweis – und diesen im Iran der 60er Jahre zu erlangen, das stellt sich als schier unüberwindliche Aufgabe heraus.

So wird er von Mitarbeiter zu Mitarbeiter verwiesen, Kompetenzen scheinen ungeklärt oder widersprechen sich, oftmals sind die Zuständigen nicht am Platz anzutreffen. Selbst Bestechung oder die Hinwendung zu höhergestellten Kräften zeitigen keinen Erfolg. Höhepunkt der kafkaesken Odyssee durch Vorzimmer und Büros ist die Anzweifelung von Aryanas Status als „echter“ Iraner. Und so irrt er weiter von Büro zu Büro und wird zunehmend verzweifelt.

Am nächsten Tag ging er frühmorgens zu Herrn Bastans Büro im Standesamt. Er erklärte, warum er gekommen war, und Herr Bastan,der aufmerksam zugehört hatte, schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, Herr Aryana, niemand hat Ihren Brief an mich weitergeleitet.oder mit mir über IHren Antrag gesprochen.“

„Ich war gestern in Herrn Dr. Schayans Büro, und er sagte, er würde meinen Brief an Sie weiterleiten, und Sie würden ihn Herrn Firuz übergeben. Er riet mir, heute zuerst bei Ihnen vorbeizuschauen.

Herr Bastan breitete die Arme aus und schwor, er habe weder irgendwelche Briefe noch Anweisungen betreffs Herrn Aryana erhalten. „Jede Menge Briefe und Dokuente sind heute bereits eingetroffen, aber Ihr Schreiben habe ich nicht erblickt. Warten Sie, ich sehe nochmals nach.“ Er durchforstete den Papierstapel, die sich auf seinem Schreibtisch türmten, und suchte auch in der obersten Schublade. „Nein, es ist nicht hier, ganz bestimmt nicht, dessen können Sie sich sicher sein.“

Fereidoun M. Esfandiary – Der letzte Ausweis, S. 25

Trauriger Ernst

Das, was in seiner ganzen Absurdität eher einer Satire gleicht, hat dabei einen durchaus ernsten Hintergrund, wie Esfandiarys dem Roman vorangesetzten Worten zu entnehmen sind

Dieses Buch wurde in Teheran geschrieben. Das Manuskript wurde im Teheraner Postamt abgefangen und konfisziert. Ein zweites Exemplar wurde eilig abgetippt und mit der Hilfe zweier Amerikaner ins Ausland gebracht.

Ich bin dem iranischen Freund dankbar, der unter großen Risiken das Manuskript zweimal abgetippt hat, ebenso den beiden amerikanischen Freunden.

Für jene, die den Iran nicht kennen, mag die Anmerkung hilfreich sein, dass es sich bei diesem Werk um keine Satire handelt.

Vorwort zu „Der letzte Ausweis“ von F. M Esfandiary

Die außer Landes geschmuggelte Geschichte beschreibt einen Iran, der sich durch undurchsichtige Regeln, Korruption und Willkür auszeichnet. Der weltgewandte Dariusch kollidiert dabei nicht nur in Sachen Sprache mit den Gepflogenheiten seines Heimatlandes.

Fremd im eigenen Land

Unsicher auf dem Spielfeld, auf dem nach für ihn unerklärlichen Regeln gespielt wird, taumelt er durch das Land, eckt auf Parties mit seinen Ansichten an und gerät schließlich sogar noch in eine Revolution gegen den Schah, bei dem das abfällige Wort der „Jubelperser“ noch einmal eine ganz eigene Bedeutung erhält.

Der letzte Ausweis besticht mit seiner Beschreibung der Absurdität eines eigentlich unkomplizierten Vorganges und zeigt einen Mann, der fremd im eigenen Land geworden ist und der nicht weiß, wie er sich dem Mahlwerk der Bürkokratie erwehren soll, das ihn immer tiefer in seine Abgründe hineinzieht. Zudem bieten sich Einblicke in ein Land, dessen Bewohner*innen mit den herrschenden Regeln und Ungleichheiten auch nicht länger leben wollen – zum Schrecken der herrschenden Kaste, die nichts unversucht lassen, um die öffentliche Meinung zu drehen und eine gehorsame Welt durchzusetzen.

Fazit

Der 1930 in Brüssel als Sohn iranischer Diplomaten in Brüssel geborene Fereidoun M. Esfandiary schafft es mit seinem Roman, die Bürokratie als Machtinstrument und Unterdrückungsapparat mitsamt seiner ganzen absurden Auswüchse zu zeichnen. Dem Zermahlenwerden seines weltläufigen und verzweifelnden Helden wohnt man gerne bei und bekommt nebenbei einen plastischen Eindruck, wie es sich angefühlt haben muss im Iran der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Mit Der letzte Ausweis ist Herausgeber und Übersetzer Ilja Trojanow (in Zusammenarbeit mit Susann Urban) eine echte Entdeckung gelungen, die den Blick dorthin lenkt, wo auch heute noch die Gegenwartsliteratur kaum hin vorstößt. Ursprünglich in den 60er Jahren verfasst zeigt der Roman keine Abnutzungserscheinungen. Mit klarer Sprache geschrieben und mit zeitlosen Themen besetzt verdient dieser Blick ins Innere des Maschinenraums des Iran auch heute noch eine Empfehlung!


  • Fereidoun M. Esfandiary – Der letzte Ausweis
  • Herausgegeben und übersetzt von Ilija Trojanow
  • Übersetzt von Susann Urban
  • Erschienen in der Edition „Büchergilde Weltlese“
  • 221 Seiten. Preis: 17,90 €

Vigdis Hjorth – Die Wahrheiten meiner Mutter

Bücher, die das Spannungsverhältnis von Müttern und Töchtern beschreiben, gibt es wie Sand am Meer. Vigdis Hjorth hat nun auch noch eines geschrieben. Und trotz der bekannten Konfliktlinien und dem überschaubaren Handlungsrahmen gelingt ihr mit Die Wahrheiten meiner Mutter ein Buch, das von Beginn an vibriert und mit seiner geradezu schmerzhaft bohrenden Introspektive überzeugt.


Eines Abends habe ich Mutter angerufen. Es war Frühling, das weiß ich, denn am nächsten Tag machte ich mit Fred einen Spaziergang um Borøya herum, und es war warm genug für ein Picknick auf der Bank am Osesund.

Wegen des Anrufs hatte ich in der Nacht davor fast nicht geschlafen, und ich war froh, am Morgen jemanden zu sehen, und dass dieser Jemand Fred war, ich zitterte noch immer. Ich schämte mich, weil ich Mutter angerufen hatte. Es war gegen die Regeln, aber ich hatte es trotzdem getan. Ich hatte gegen ein Verbot, das ich mir selbst auferlegt hatte, und gegen ein Verbot, das mir auferlegt worden war, verstoßen. Mutter ging nicht ans Telefon. Ich hörte, wie sie mich sofort wegdrückte. Und trotzdem rief ich wieder an. Warum? Ich weiß es nicht. Worauf hoffte ich? Ich weiß es nicht. Und warum schämte ich mich?

Vigdis Hjorth – Die Wahrheiten meiner Mutter, S. 7

So hebt Vigdis Hjorths erster bei S. Fischer erscheinende Roman an, der von Gabriele Haefs aus dem Norwegischen ins Deutsche übersetzte wurde. Es sind schmerzliche Zeilen, die den ganzen Grundkonflikt des Folgenden schon in sich tragen. Denn die Ich-Erzählerin Johanna hat sich von ihrer Familie entfremdet und diese auch von ihr.

Sie, die als Künstlerin international für Aufsehen sorgte, mit ihrer Kunst aber auch die Beziehung zu ihrer Familie beschädigt, sie ist nun zurückgekehrt in ihre norwegische Heimat. Dort versucht die inzwischen 60-Jährige nun nach Jahren des Schweigens, nach dem Tod ihres Vaters und ihres Ehemannes in einem zunehmend verzweifelter werdenden Akt wieder Kontakt mit ihrer Mutter aufzunehmen und an Vergangenes anzuknüpfen.

Viele Fragen, keine Antworten

Was für die Künstlerin zunächst noch ein großer Akt der Selbstüberwindung war, führt durch die Weigerung ihrer Mutter und ihrer Schwester, die Kontaktversuche zu beantworten, ebenso zu Verbitterung wie auch einer gnadenlosen Selbstbefragung.

Vigdis Hjorth - Die Wahrheiten meiner Mutter (Cover)

Als Leser*innen sind wir ganz nah an Johannas Gedanken dran und erleben mit, wie sie im Versuch einer Kontaktaufnahme zu ihrer Mutter schon fast obsessive Stalkerqualitäten entwickelt. Zudem nimmt uns die Künstlerin mit weit zurück in ihre eigene Biografie, in der sie immer wieder die Schmerzpunkte und Bruchlinien betastet in dem Versuch, das aktuelle Verhalten ihrer eigenen Familie zu verstehen und den Prozess der Entfremdung aufzuarbeiten.

Dabei sind es auch manchmal nur einzelne Gedankensplitter, die auf einer Seite aufblitzen, dann wieder Bohrungen in der Vergangenheit und Reflexionen über das eigene innerfamiliäre Verhältnisse, Ibsen-, Faulkner- und Handke-Zitate inklusive.

Alle Kinder sind abhängig von ihrer Mutter und sind ihr gegenüber deshalb immer verletzlich, körperlich und seelisch, aus diesem Grund haben wir Müttern gegenüber ambivalente Gefühle, und aus diesem Grund tauchen in Wohlfühlfilmen auch so selten Mütter auf. Die Mutterfigur weckt zu komplizierte Gefühle, um sich wohl zu fühlen.

Vigdis Hjorth – Die Wahrheiten meiner Mutter, S. 326

Von großer introspektivischer Wucht

Mag auch vordergründig wenig auf den vierhundert Seiten dieses Romans passieren, so hat das Ganze doch eine enorme introspektivische Wucht und Gnadenlosigkeit, mit der Johanna in ihr Seelenleben blickt und sich auch nicht davor scheut, in ihrem Willen zu einem neuen Miteinander Grenzen zu überschreiten – und dies auch zu zeigen. Alles hier vibriert vor Anspannung, zeigt Vigdis Hjorth doch ungeschönt eine Frau voller Verzweiflung, nervöser Energie und Wucht.

Dies verleiht dem Roman seine überzeugende Qualität und sorgt für ein stetes Spannungsfeld, das den Text trägt. Zu bemängeln ist in dieser Hinsicht nur, das die deutsche Version von Hjorths Buch mit dem unscheinbaren Titel weit weg ist von der Drastik des norwegischen Originals. Er mor død, zu Deutsch Ist Mutter tot, das trifft den Charakter von Vigdis Hjorths Buch doch weitaus besser, ist ihm doch das Fragende, das hier alles prägt, eindrücklich eingeschrieben.

Fazit

So oder so, dieses Buch ist eine Wucht, bohrt nach, zeigt die Verzweiflung einer heimgekehrten Tochter, die erst lernen muss, mit einem Verlust umzugehen, dabei Grenzen überschreitet, vor allem aber sich selbst erforscht und ergründet und damit überzeugt. Die Qualität, sie liegt in diesem Text offen und ist eine im Gegensatz zu den Einsichten dieses Buchs eine Wahrheit, die nicht schmerzt, sondern beglückt!


  • Vigdis Hjorth – Die Wahrheiten meienr Mutter
  • Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
  • ISBN 978-3-10-397512-3 (S. Fischer)
  • 400 Seiten. Preis: 24,00 €

Maja Haderlap – Nachtfrauen

Frauen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Emanzipation und Nachfolge, Kärnten und Slowenien. Maja Haderlap gelingt mit ihren neuen Roman Nachtfrauen ein präziser Blick auf die slowenische Minderheit in Kärnten und ein literarisch überzeugendes Porträt verschiedener Generationen von Frauen.


Passend zur Patenschaft der Frankfurter Buchmesse mit dem Gastgeberland Slowenien im vergangenen Jahr erschien im Herbst 2023 auch der neue Roman von Maja Haderlap. Endlich, kann man sagen, denn die Autorin hatte lange nichts mehr von sich hören, geschweige denn lesen lassen. Eine Rede anlässlich des Staatsaktes für den hundertsten Geburtstag der österreichischen Republik im Jahr 2018, vor zehn Jahren ein Gedichtband, das war es dann aber in Sachen vernehmlicher Äußerungen in der Öffentlichkeit.

Umso schöner, dass das Warten nun ein Ende hat und mit Nachtfrauen endlich wieder ein Roman vorliegt, der Haderlaps Profession als Lyrikerin nicht verhehlen kann – und es zum Glück auch nicht will. Denn der Grenzgängerin zwischen slowenischer und österreichischer Literatur gelingt ein Roman, der präzise Menschen zeichnet, Grenzen erkundet und literarisch durch seine Zurückhaltung und Präzision punktet.

Eine Heimkehr nach Südkärnten

Der Inhalt ist dabei schnell erzählt. So kehrt Mira heim nach Südkärnten, wo sie ihre Mutter besucht. Dort, fernab von Wien, wo sie mit ihrem Mann lebt und als Referentin arbeitet, bedeutet die Heimkehr zugleich auch den Abschluss eines prägenden Kapitels ihres Leben. Denn ihre Mutter soll auf Wunsch ihres Neffen aus dem Hof ausziehen, in dem sie aufwuchs und der auch Miras Zuhause war, in dem sie den prägenden Teil ihres Lebens verbrachten.

Maja Haderlap - Nachtfrauen (Cover)

Aus dem Hof soll eine Schreinerei werden – und Miras Mutter in ein altersgerechtes neues Zuhause umziehen. So ist es zwischen Mira, ihrem Bruder Stanko und dem Cousin besprochen. Nur die Mutter weiß noch nicht viel von den Plänen, weshalb es nun an Mira ist, ihr diese Nachricht schonend beizubringen.

Vieles wirbelt ihre Heimkehr nach Südkärnten dabei auf. Das nicht einfache Verhältnis zu ihrer Mutter (womit sich Haderlap in eine ganze Reihe an Elternbüchern einreiht, am augenfälligsten für mich dabei die Verwandtschaft von Nachtfrauen mit der Mutterhommage Eigentum ihres österreichischen Landsmannes Wolf Haas), die Beziehung zu Miras Mann und einer alten Jugendliebe, die natürlich prompt wieder aufflammt, die Zerrissenheit von Mira – und die von ihrer eigenen Mutter, die im zweiten Teil des Buchs dann in den Vordergrund gerückt wird.

Zwischen Slowenien und Kärnten

Denn neben aller gar nicht buchentscheidenden Handlungen ist es vor allem die Frage der Herkunft und Identität, die für mich in Haderlaps Buch im Vordergrund steht. Wie die Autorin selbst sind auch ihre Figuren dort am Fuße der Karawanken binational, entzweigerissen zwischen ihrem arrivierten Leben in Österreich und der slowenischen Vergangenheit. Eine Zerrissenheit, die sich nicht nur, aber am augenscheinlichsten in der Mehrsprachigkeit ausdrückt, in die auch Mira wieder zurückfällt, als sie nun nach Hause zurückkehrt.

Nachtfrauen erzählt von unterschiedlichen Generationen von Frauen, von erlebten Kriegsgräuel, von Emanzipation und der Frage, wo man im Leben eigentlich wirklich hingehört. Wie sie das tut, das ist das Buchentscheidende, das die ganze Klasse dieses Werks ausmacht. Haderlap erzählt in einer reduzierten, genau gesetzten Sprache, die auf den ersten Blick vielleicht trügerisch einfach sein mag, dahinter aber erst in ihrer Klasse aufscheint. Mit dieser genau gesetzten Prosa offenbart die Lyrikerin viele Geheimnisse und Sehnsüchte im Leben oder berührt diese zumindest – vom Glauben bis hin zur Liebe.

Da ist kein Wort zu viel, da ist genug Raum für das Dazwischen, die nicht ausgesprochenen Wort, ungetanen Taten und ungelebten Träume. Ebenso wie die im selben Verlag erscheinende Marion Poschmann, denen beiden die Herkunft als Lyrikerinnen gemein ist, ist auch bei Maja Haderlap alles genau bedacht und sprachlich wunderbar durchgearbeitet. Zart und doch dicht, so ist diese Literatur, der ich hier begegnen durfte.

Fazit

Es ist keine bahnbrechend neue Geschichte, das Thema von Nachtfrauen alt. Die Erzählweise aber, sie ist es, die so überzeugt und der ich persönlich auch bei der Wahl des Österreichischen Buchpreises den Vorzug vor dem ebenfalls nominierten Clemens J. Setz gegeben hätte, ist hier doch alles so viel präziser und genau gerahmt.

Eine wirkliche Entdeckung. Dass sich Maja Haderlap so viel Zeit gelassen hat für einen neuen Titel, bei der Lektüre von Nachtfrauen wird das evident. Genau gesetzt und sich ihrer erzählerischen Mittel sehr sicher erzählt sie großartig gesetzt von verschiedenen Generationen an Frauen und deren Lebenswegen. So bringt sie die slowenische Minderheit Kärntens hierzulande ins öffentliche Bewusstsein. Großartige Gegenwartsliteratur aus Österreich!


  • Maja Haderlap – Nachtfrauen
  • ISBN 978-3-518-43133-7 (Suhrkamp)
  • 294 Seiten. Preis: 24,00 €

Das Buch kaufen: ich empfehle die unabhängige Internetbuchhandlung YourBookshop, bei der man auch gleich noch den lokalen Buchhandel unterstützen kann.

Ann Petry – Country Place

In der Coronakrise hat das Dorf und die Kleinstadt wieder an Prestige gewonnen. Viele sahen und sehen dort die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. Viel Platz für Eigenheim und Kinder, ein begrenztes soziales Umfeld und (noch) erschwingliche Grundstückspreise. Das ist in heutigen Zeiten für viele Städter mehr als verlockend. Doch auch in der Literatur hat das Dorf jüngst eine Renaissance erfahren. Angefangen von Juli Zehs Bestseller Unterleuten über Dörte Hansen bis hin zu Christoph Peters reicht die Reihe an Büchern, die sich mit dem Dorfleben beschäftigen. Dabei schwingt auch immer die Gefahr der Verklärung mit, die das Dorf als Hort der Nostalgie und des reibungslosen Miteinanders personifiziert.

Ein Antidot zu solchen Verklärungen und falschen Vorstellungen ist Ann Petrys Roman Country Place. Ursprünglich 1947 erschienen, liegt das Buch nun erstmals in einer Übersetzung von Pieke Biermann auf Deutsch vor. Im Jahr zuvor erschien das grandiose und zu Unrecht vergessene Buch The Street Petrys in der Übersetzung von Uda Strätling. Es scheint, als beginne langsam die Renaissance dieser so kraftvollen und talentierten Autorin. Eine sehr begrüßenswerte Entwicklung!

Heimkehr nach Lennox

Ann Petry - Country Place (Cover)

Dabei beginnt alles mit einem klassischen Motiv: ein Held kehrt heim aus der Schlacht zu seiner Frau. Sein Name ist Johnnie, er hat im Zweiten Weltkrieg gekämpft und kehrt nun in das kleine Küstenstädtchen Lennox heim. Dort wartet seine Frau Glory auf ihn. Doch von Anziehung und Begehren nach der langen Absenz ihres Mannes kann keine Rede sein. Sie hat sich in der Abwesenheit mit dem Besitzer einer Tankstelle eingelassen, der im Städtchen als unverbesserlicher Frauenheld berüchtigt ist. Und so muss dieser moderne Odysseus erkennen, dass er sich in seinen Vorstellungen ein ganz anderes Bild gemacht hat, als es sich dann in der Realität präsentiert.

Doch nicht nur Johnnies Ehefrau war ihm untreu und wurde ihm abspenstig gemacht. Auch all die anderen Bewohnerinnen des Städtchens haben ihre Abgründe. Ehebruch, Antisemitismus und sogar versuchter Mord gibt es im kleinen Lennox, wie Ann Petry zeigt. Man belauert sich gegenseitig, intrigiert und spricht schlecht hinter dem Rücken übereinander. Oftmals braucht es dazu auch gar nicht den Rücken, sondern man sagt sich ins Gesicht, was man voneinander hält. Besonders die Figur des Taxifahrers, das „Wiesel“ sticht hier hervor und macht seinem Spitznamen alle Ehre. Er intrigiert, stichelt und hat dabei selbst doch auch eigene Leichen im Keller.

Die Hölle, das sind die anderen

Das Bild des Kleinstadtlebens, das Ann Petry in ihrem Buch zeichnet, ist alles andere als schmeichelhaft. Wie man übereinander herzieht, sich gegenseitig in schlechtem Licht dastehen lässt und sich das Leben schwermacht, daran hätte auch Jean-Paul Satre seine Freude gehabt. Erstaunlich an diesem Buch aus dem Jahr 1947 ist auch, wie Ann Petry als schwarze Autorin ihren weißen Mitmenschen gnadenlos den Spiegel vorhält. Sie zeigt all die Verlogenheit der sich so überlegen fühlenden Weißen. Schwarze kommt in diesem Roman allenfalls als Bedienstete vor.

Für einen Roman aus den 40er Jahren ist das wirklich bemerkenswert (man denke nur an den ähnlich gelagerten Fall von James Baldwins Roman Giovannis Zimmer). Da verzeiht man der Autorin auch manch arg plakativen Figuren und Motive. Dass der verschlagene und intrigante Taxifahrer „Das Wiesel“ heißt, dass es einen Sturm braucht, der die Beziehungen und Verhältnisse durcheinanderwirbelt, das ist alles etwas uneleganter als in The Street gelöst, dessen Qualität Country Place nicht ganz erreicht.

Und dennoch ist das Buch in seiner soziologischen Schärfe, seinen mit Krimi- und Kolportageelementen versetzten Plot durchaus stark und völlig zurecht jetzt auf Deutsch zugänglich gemacht worden. Zu keinem Zeitpunkt wirkt das Buch antiquiert oder inszenatorisch angestaubt. Country Place besitzt eine Frische und Stärke, die die diese deutsche Erstausgabe evident macht, wenngleich man als deutschsprachige Leser*in gute 70 Jahre Wartezeit in Kauf nehmen musste.

Das Nachwort von Farah Jasmine Griffin rundet das Buch hervorragend ab. Gelobt sei an dieser Stelle auch Pieke Biermann für ihre Übertragung und der Verlag Nagel & Kimche für den editorischen Mut, sukzessive das Werk Petry neu auf Deutsch zugänglich zu machen!

Eine weitere Besprechung zu diesem Buch gibt es bei Deutschlandfunk Kultur.


  • Ann Petry – Country Place
  • Aus dem Englischen von Pieke Biermann
  • Mit einem Nachwort von Farah Jasmine Griffin
  • ISBN 978-3-312-01225-1 (Nagel&Kimche)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €

Dana Grigorcea – Die nicht sterben

Spukt Dracula noch immer in Rumänien herum? Diesen Verdacht könnte man hegen, wenn man Dana Grigorceas neuen Roman Die nicht sterben liest. Sie erzählt von einer in ihre Heimat zurückkehrenden Malerin, dem Mythos von Vlad dem Pfähler und dem modernen Rumänien.


Als Orientierung für diejenigen unter Ihnen, die von der Sache nichts mitbekommen haben, muss ich anführen, dass B. eine kleine Ortschaft in der Walachei ist, südlich von Transsilvanien gelegen, am Fuß der der Karpaten. Die Bukarester und die Kronstädter, die hier Ferienhäuser besaßen, bezeichneten die Ortschaft schlicht als Dorf, die Einheimischen allerdings sprachen trotzig von einer Stadt, weil am Fluss früher eine große Weberei stand, in der viele Bauern zu Arbeitern umfunktioniert wurden; für die Meinen war B., ganz versöhnlich, ein wundervoller Kurort. Dieser Ort also – darüber ist man sich einig -wurde bis zu den Ereignissen, über die hier zu berichten sein wird, weder mit Dracula noch mit anderen Vampirgeschichten in Verbindung gebracht.

Dana Grigorcea – Die nicht sterben, S. 9 f.

In diesen Ort B. kehrt die namenlose Protagonistin also zurück. In Frankreich verdingt sie sich als Malerin und findet bei ihrer Großtante Margot, genannt Mamargot, Aufnahme. Schon bald erschüttert eine unerhörte Begebenheit das Dorf. In einer Gruft findet die Protagonistin eine teilweise schon verweste Leiche. Es handelt sich um einen früheren Dorfbewohner von B.. Ein entscheidendes Detail an dem Fund erregt dann aber Aufmerksamkeit weit über das Dorf hinaus. Bei dem Grab, auf dem der Tote gefunden wurde, handelt es sich der Legende nach um das Grab von Vlad, dem Pfähler, alias Dracula. Spukt der Vampir immer noch durch die Landschaft Rumäniens? Und hat er sich in B. ein Opfer gesucht?

Ein unsterblicher Mythos

Dana Grigorcea - Die nicht sterben (Cover)

Der Mythos von Dracula ist im wahrsten Sinne nicht totzukriegen. Das muss auch die Protagonistin in Dana Grigorceas Buch feststellen. Der findige Bürgermeister kreiert nach dem Fund des Toten in B. schnell einen Dracula-Tourismus. Auch in der Familie der Protagonistin ist der Blutsauger-Mythos noch sehr gegenwärtig. Dieser speist er sich aber eher aus der Erfahrung des Lebens unter der Knute von Ceaușescu. Der Diktator, der Rumänien systematisch ausblutete und hartherzig regierte, trug im Volk auch den Beinamen „Dracula“.

Die Nachwehen dieser Erfahrung zeigen sich in Die nicht sterben vielfach. So regiert die Politik noch immer nach Gutdünken und auch die Natur wird ausgebeutet, so ist etwa die Abholzung der letzten Urwälder in Rumänien ein Thema, das Dana Grigorcea indirekt beleuchtet.

Wohin soll die Reise gehen?

All das sind vielversprechende Ansätze, über die das Buch leider zu keinem Zeitpunkt hinwegkommt. Mir drängte sich leider der Eindruck auf, als wüsste Dana Grigorcea nicht, was sie in ihrem Buch eigentlich erzählen wollte. Eine essayistische Betrachtung über das Fortwirken des Dracula- und Ceaușescu-Mythos im Rumänien der Gegenwart? Eine moderner Schauerroman? Eine Satire? Ein Krimi aus der rumänischen Provinz? Eine Update von Bram Stokers Vampirklassiker?

Ein moderner Blick auf den von Erzählungen und Legenden geprägte Leben in den Karpaten? Eine Betrachtung über die Auswirkungen des Kommunismus in der heutigen Zeit? Irgendwie steckt all das in Die nicht sterben, zu Ende geführt wird leider nichts. Auch gelingt es Dana Grigorcea nicht, einen wirklichen Lesefluss zu erzeugen. Bis die Geschichte etwas Fahrt aufnimmt, vergeht viel zu viel Zeit.

Stattdessen zoomt Grigorcea auf einzelne erzählerische Bilder, schweift in der Erzählung ab, hinterfragt mehrmals die Chronologie der Ereignisse und die Zuverlässigkeit des eigenen Erzählens. Was durchaus ein spannendes Erzählungsunterfangen hätte werden können gerät hier leider zu einem konfusen und wenig überzeugenden Themenallerlei, das keinen überzeugenden literarischen Ton findet und wild hin- und hermäandert. Schade drum!

Ich rate statt dieser Dracula-Annäherung weiterhin entschieden zu Bram Stokers epochemachenden Klassiker.


  • Dana Grigorcea – Die nicht sterben
  • 978-3-328-60153-1 (Penguin)
  • 272 Seiten. Preis: 22,00 €