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Claire Fuller – Unsere unendlichen Tage

Romane, die vom Überleben in der Natur erzählen, liegen im Trend. Das zeigen viele der Neuerscheinungen in letzter Zeit. Da wäre etwa Gabriel Tallents Mein Ein und Alles, in dem der Autor von einem Mädchen und dessen Vater erzählt, der sich als Prepper auf das Überleben in der Natur vorbereitet und sein Kind als Waffe erzieht und prägt. Diesem mit zu viel literarischen Geschmacksverstärkern, krasser Explizität und Fehltönen aufgeladenen Roman folgten eine ganze Riege an thematisch ählich gelagerten Romanen.

Mick Kitson tat dies mit Sal, und machte seinen Job deutlich besser. Auch C. H. Beck brachte eine Überlebensgeschichte in der Wildnis auf den Markt. Diese lieferte Rye Curtis mit dem Titel Cloris und erzählte von der gleichnamigen Seniorin, die sich nach einem Flugzeugabsturz in der Wildnis der Bitterroot Mountains durchschlägt. Während eine alkoholkranke Rangerin die Seniorin sucht, kämpft sich diese mithilfe eines mysteriösen Helfers durch die unwirtliche Natur.

Auch könnte man Michael Crummeys Schilderung des Überlebenskampfes eines Geschwisterpaars vor der rauen Kulisse Neufundlands um 1800 in diese Reihe stellen. Oder in einer nicht so fernen Zukunft angesiedelt wäre Edan Lepuckis California zu nennen. Viele Bücher also, zu denen sich nun auch noch Claire Fullers Roman Unsere unendlichen Tage gesellt. Ein Roman, der viele Themen und Motive der eingangs erwähnten Bücher in sich vereint.

Trotzdem sollte man dieses Buchs nicht der billigen Kopie oder einer lieblosen Amalgamierung von bereits Bestehendem bezichtigen. Denn dieser Roman ist das Debüt Claire Fullers, der eigentlich schon 2015 erschien, nun aber erstmals auf Deutsch vorliegt. Ein Buch, das viele der späteren Themen der Autorin vorwegnimmt und das vom Überleben in der Bergwelt Bayerns erzählt.


Liest man Unsere unendlichen Tage, so ist man erstaunt, wie viele Motive und Themen sich hier finden, die später in den Romanen der Britin wichtig werden sollten.

Sie erzählt in ihrem Roman die Geschichte von Peggy, die in den 70ern als Tochter eines britischen Vaters und einer deutschen Mutter aufwächst. Ihre Mutter Ute ist eine gefeierte Konzertpianistin, die sogar den renommierten Chopin-Wettbewerb gewonnen hat. Ihr Vater ist das, was wir heute als Prepper bezeichnen. Ein Apokalyptiker, der sich mittels hauseigenem Atombunker, Listen und Vorräten auf das Überleben nach einem Zusammenbruch der Zivilisation vorbereitet. Als ihre Mutter zu einer längeren Konzertreise aufbricht, beginnt Peggys Vater zusammen mit ihr eine Reise.

Eine Reise, die sie über den Ärmelkanal führen wird, quer durch verschiedene Länder, ehe die beiden einer Bergregion ankommen, in der die Bewohner Bajuwarisch sprechen, wie ihr Vater es Peggy erklärt. Er ist von der Idee einer hutta besessen, die sich dort irgendwo in den Bergen befinden soll. Nach einiger Suche stoßen die beiden tatsächlich auf die Überreste einer Hütte, die zum Unterschlupf der beiden für die nächsten acht Jahre werden soll. Die Menschheit, so erklärt es Peggy ihr Vater, ist vernichtet worden, hinter den Gipfeln und einem reißenden Fluss befindet sich das Nichts. Nur sie beiden hätten überlebt, so geht die Geschichte ihres Vaters, die Peggy zunächst nicht hinterfragt.

Vom Überleben in der Natur

Claire Fuller - Unsere unendlichen Tage (Cover)

Immer wieder springt Claire Fuller in ihrem Roman zwischen den Ereignissen in jenen acht Jahren und der Gegenwart des Jahres 1985 hin- und her. Peggy ist in der erzählten Gegenwart zurück im Elternhaus – inzwischen hat sie sogar einen Bruder bekommen. Doch der ganze Umfang der damaligen Ereignisse und die Hintergründe liegen noch im Nebel. Erst allmählich dröselt sie ihre Geschichte auf, verbindet Erkenntnisse aus der Gegenwart mit Zurückliegendem.

Unsere unendlichen Tage ist eine Geschichte, die vom Überleben erzählt und die die Natur mitsamt all ihrer Reize und Gefahren ausleuchtet. Stark, wie Claire Fuller die archaische Bergwelt inszeniert. Der reißende Fluss, die reichhaltige Flora und Fauna, aber auch die tödlichen Gefahren durch lange Winter und Waldbrände. Fuller zeichnet das Überleben in der Natur in sämtlichen Schattierungen.

Dass die Plausibilität des Debüts manchmal etwas auf der Strecke bleibt, möchte ich hier nicht verschweigen. Dass Peggy und ihr Vater unbemerkt in dieser Hütte acht Jahre leben sollten, das scheint mir auch im Bayerischen Wald der 70er Jahre etwas übertrieben, vor allem eingedenk der Tatsache, dass der Bayerische Wald seit dem Jahr 1970 Nationalpark ist. Zwei Menschen in einer Hütte, unbemerkt von Landvermessern, Waldarbeitern oder Jägern, da scheint doch die Realität mit der Fiktion zu kollidieren.

Nicht immer ist dieses Erählen ganz präzise, manchmal bleiben Leerstellen, auch die Auflösung deutet sich schon etwas zu klar an. Die psychologische Ausdeutung des Vaters bleibt durch den kindlichen Blick Peggys über lange Zeit auf der Strecke und wird genauso wie die räumliche Verortung des Schauplatzes erst sehr spät angegangen. Dennoch hat das alles Wucht – für ein Debüt läuft der Erzählmotor erstaunlich rund und kraftvoll.

Viele spätere Themen sind schon angelegt

Blickt man nun auf diesen Erstling zurück, ist es auch faszinierend, wie viele Themen aus den folgenden Werken Claire Fullers hier schon angelegt sind.

Da ist zunächst die Kultur als Überlebenstechnik, wie sie später für Ingrid in Eine englische Ehe essenziell wird. Wo Ingrid die Literatur zum Leitstern der eigenen Existenz wird, ist es in Unsere unendlichen Tage die Musik in Form eines selbstgebauten Klaviers, das sich Peggy und ihr Vater ausgedacht haben. Darauf lernt Peggy das Klavierspiel und kehrt immer und immer wieder zu Lizsts La Campanella zurück, das ihr Kraft und Trost spendet.

Doch nicht nur die Kultur ist schon hier als Motiv zu entdecken, auch die Natur spielt immer wieder im Schreiben Claire Fullers eine Rolle, etwa wenn das Herrenhaus in Bittere Orangen langsam von der Natur zurückerobert wird, während die Beziehungen der Protagonist*innen ebenfalls großen Veränderungen unterworfen sind.

Auch die Frage weiblicher Selbstbestimmung ist ein Motiv, das sowohl Unsere unendlichen Tage als auch die späteren Romane der Autorin prägt. Das Erkennen eigener Bedürfnisse, die Ausprägung eines eigenen Charakters gegen männliche Widerstände, das ist etwas, das die Autorin merklich umtreibt.

Schön, wie man diese ganzen Motive und ihre Entwicklung nun dank des abermals von Susanne Höbel ins Deutsche übertragenen Debütromans verfolgen kann. Hier ist eine Autorin zu entdecken, die sich mit jedem Buch neu erfindet, in ihren übergreifenden Motiven aber treu bleibt – und das auf einem erfreulich hohem Niveau.

Fazit

Trotz aller Mängel und kleinen Unwuchten im Erzählen ist Unsere unendlichen Tage ein beeindruckendes und nachhallendes Buch. Für ein Debüt schnurrt der Erzählmotor hier bereits sehr rund. Claire Fuller gelingt ein Buch, das vom Überleben in der Natur und der Rettungskraft der Musik erzählt. Im Konzert der eingangs erwähnten Überlebenstitel kann Fullers Roman absolut bestehen.

Schön, dass dieses nachgereichte Debüt nun endlich auf Deutsch vorliegt. Claire Fuller wäre größerer Ruhm zu gönnen – ihr vielfältiges Schreiben verdient es!


  • Claire Fuller – Unsere unendlichen Tage
  • Aus dem Englischen von Susanne Höbel
  • ISBN 978-3-492-05828-5 (Piper)
  • 320 Seiten. Preis: 22,00 €
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Einen Flügel kann man nicht reparieren …

Daniel Mason – Der Klavierstimmer Ihrer Majestät

Mit der Veröffentlichung von Daniel Masons Der Wintersoldat gelang dem C.H. Beck-Verlag im letzten Jahr ein kleiner Erfolg. Das Interesse an diesem Buch ist beständig. Immer wieder landen auch Suchanfragen zu diesem Buch auf meinem Blog. Inzwischen hat es meine Rezension hier auf gute vierstellige Abrufwerte gebracht. Für diesen kleinen Blog einsame Spitze, wenngleich das Buch bei mir damals keine ähnliche Euphorie auslöste.

Mein Interesse war groß, als der Vorschau des C.H. Beck-Verlags zu entnehmen war, dass ein weiteres Buch von Daniel Mason veröffentlicht wird. Im Falle von Der Klavierstimmer Ihrer Majestät handelt es sich allerdings um keinen neuen Titel. Vielmehr ist das Buch das Debüt Masons und erschien ursprünglich bereits im Jahr 2002. Nun, da das Buch volljährig geworden ist, erscheint es bei C.H. Beck in einer überarbeiteten und von Barbara Heller ins Deutsche übertragenen Fassung.

Daniel Mason - Der Klavierstimmer Ihrer Majestät (Cover)

Mason erzählt in seinem Roman die Geschichte von Edgar Drake. Dieser lebt 1887 zusammen mit seiner Frau in London und verdient sein täglich Brot mit dem Stimmen von Flügeln. Besonders für Erard-Flügel hat er ein Händchen. In ganz London stimmt er diese Flügel und wird als Spezialist gerufen, wenn die Mechanik der Instrumente hakt oder die Saiten verstimmt sind. Da erreicht ihn ein ganz besonderer Auftrag. Er soll den Erard-Flügel eines britischen Militärarztes reparieren. Dieser befindet sich allerdings nicht in London, sondern im Dschungel von Birma. Dort befehligt der Militärarzt eine Stellung.

Da er in seinem Kampf um die Befriedung des rebellischen Landstrichs dort mehr Erfolge als alle anderen Offiziere vorweisen kann, musste man notgedrungen die Forderung des Militärarztes nach einem Flügel erfüllen. In einer Fitzcarraldo-haften Aktion wurde der Flügel in das Fort des Arztes gebracht. Doch nun ist der Flügel aufgrund der humiden Klimas vor Ort verzogen und der Arzt dringt auf eine Reparatur. Edgar Drake macht sich also auf den Weg in den entlegensten Winkel des Königreichs, um für das Problem Abhilfe zu schaffen.

Der Kampf um Birma

Drake, der bislang kaum etwas von der Welt gesehen hat, erlebt in Birma nun eine ganz andere Welt. Undurchdringliche Dschungellandschaften, das Volk der Shan, in dessen Land sich der Klavierstimmer begibt, englische Kolonialherren, Räuberbanden, genannt Dacoits, die die Dörfer und Besatzer terrorisieren. Eine ganz andere Welt herrscht hier, die Daniel Mason gut einzufangen weiß.

Das Grün des Dschungels, das Prasselns des Monsuns und die völlig andere dort herrschende Kultur mitsamt Pagoden und spielenden Kindern – all das beschreibt Mason wirklich gekonnt. Manchmal sind die Schilderungen von Land und Leuten etwas ausufernd, speziell wenn es um die politische Einordnung der verschiedenen Parteien und ihrer Pläne in Birma geht. Dann aber wieder ist Mason auch höchst präzise, wenn er das Handwerk des Klavierstimmens schildert und die über Sprachgrenzen hinweg wirkende Kraft der Musik in Zeilen bannt. Das überzeugt und ist besser gelungen als zuletzt bei William Boyd, der sich an einem ähnlichen Thema versucht.

Keine unbedingt postkoloniale Erzählhaltung

Weniger überzeugend hingegen ist Masons im Buch vertretende Haltung zum Kolonialismus. Dieser wird an keiner Stelle wirklich kritisch beleuchtet. Staunend tappt sein Edgar Drake durch die von den Briten beherrscht Welt Birmas und hinterfragt das Wirken der Briten kaum. Vielmehr manifestiert sich im Buch eine durchaus fragwürdige Haltung zum Thema Kolonialismus, die beispielsweise in diesem Dialog durchscheint:

„Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass Sie die britische Herrschaft begrüßen?“

„Ich habe großes Glück“, erwiderte sie nur.

„Aber in England“, beharrte Edgar „sind viele entschieden der Meinung, dass die Kolonien sich selbst verwalten sollten, und ich neige ebenfalls zu dieser Ansicht. Wir haben schreckliche Dinge getan.“

„Aber auch gute.“

Mason, Daniel: Der Klavierstimmer Ihrer Majestät, S. 281

Hier hätte ich mir ein wenig mehr kritische Distanz zum Thema gewünscht, wie sie beispielsweise beim großartigen James Gordon Farrell stets Thema ist. In die Gattung der postkolonialen Literatur kann ich Der Klavierstimmer Ihrer Majestät leider nur schwerlich einordnen. Mit seinem unkritischen und auf die Musik fokussierten Erzähler macht es sich der amerikanische Autor etwas zu leicht und traut sich sogar noch, kolonialen Kitsch in Form einer Liebesgeschichte zu einer Birmesin in die Handlung einzuführen.

Wer sich davon nicht stören lässt, der bekommt mit Der Klavierstimmer Ihrer Majestät ein Buch, das die exotische Welt Birmas um 1890 herum gut einzufangen weiß. Ein Blick in die wechselvolle Geschichte Birmas, lange bevor das Land Myanmar hieß. Und nicht zuletzt ein Roman, der dem Beruf des Klavierstimmers und der menschenvereinenden Kraft der Musik ein Denkmal setzt.

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Alix Ohlin – Robin und Lark

Zwei völlig unterschiedliche Schwestern stehen im Mittelpunkt des neuen Romans von Alix Ohlin. Ebenso unterschiedlich wie die Anlagen und Temperamente der beiden Schwestern sind auch ihre Namen. Die eine Schwester, die als Erzählerin fungiert, heißt Lark, also Lerche. Ihr Widerpart trägt das Rotkehlchen im Namen, nämlich Robin. Doch was ist es, das Menschen bei allen vorhandenen Unterschieden zusammenhält? In ihrem Roman versucht sich Alix Ohlin an einer Antwort.


Alix Ohlin - Robin und Lark (Cover)

Dabei ist zunächst der Begriff der Schwestern etwas unpräzise. Eigentlich handelt es sich bei Robin und Lark um Halbschwestern, die durch ihre Mutter Marianne verbunden sind. Die Mutter erweist sich in ihrer Mutterrolle allerdings als ziemlich unfähig. Völlig überfordert mit den beiden Kindern obliegt es schon bald Lark, so etwas wie eine Mutter für die jüngere Robin zu sein. Dieser Rolle nimmt sie auch an und wird bis ins Erwachsenenalter immer eine Beschützerin von Robin sein.

Während Lark von Montreal in die USA zum Studium zieht, bleibt Robin daheim in der Nähe ihrer Mutter. Sie entpuppt sich schon bald als großes Talent am Klavier und investiert viel Zeit in die Perfektionierung ihres Spiels. Lark hingegen fühlt sich eher im visuellen Bereich zuhause. Mit großer Hingabe filmt und schneidet sie Material und wird bald zur rechten Hand eines Regisseurs. Immer mal wieder nähern sich die beiden Schwestern an, stoßen sich dann aber auch wieder gegenseitig ab. Stets ist aber da ein Band zwischen ihnen, das sie zusammenhält.

Eine konventionelle Herangehensweise

Alix Ohlin wählt für ihre Erzählung über die beiden Schwestern eine konventionelle Herangehensweise. Von der Geburt an wird aus der Sicht Robins der Werdegang der beiden so gegensätzlichen Frauen geschildert. Geschmeidig erzählt (und sehr gut von Judith Schwaab übersetzt) gibt es einen Bilderbogen dieser beiden Frauen.

Etwas Irritation löste bei mir die Bewerbung durch den Klappentext aus. Dieser rückt dramatisch das Verschwinden Robins auf einer Konzerttournee in den Mittelpunkt, bei dem Robin den Wunsch äußert, man möge nicht nach ihr suchen. Diese Begebenheit entpuppt sich im Buch dann allerdings als recht unspektakuläre Episode in der Buchmitte, der noch einige ähnliche Ereignisse folgen. Wer also auf eine dramatische Schnitzeljagd der einen Schwester nach der anderen gehofft hat, der sieht sich hier enttäuscht. In dem Falle würde ich zum ebenfalls dieser Tage ebenfalls bei C.H. Beck erschienenen Roman Long Bright River von Liz Moore raten. Alix Ohlins Erzählung erinnerte mich mit ihrem ruhigen Fluss und dem genauen Blick auf ihre Protagonistinnen eher an Donna Tartts Der Distelfink.

Persönlich hätte ich mir noch eine etwas aufregendere Gestaltung dieses erzählerischen Bogens gewünscht. Wenn die Erzählerin schon so eine begnadete Cutterin und Virtuosin in Sachen Filmschnitt ist, warum dieses Stilmittel nicht auch auf die Erzählung selbst übertragen? So bleibt die chronologische Erzählung etwas brav.

Fazit

Generell gesprochen lässt sich festhalten: Robin und Lark ist die Geschichte zweier gegensätzlicher Frauen, das neben den Fragen von familiären Zusammenhalt und Selbstbestimmung auch die Kunst der Musik und des Filmschnitts beleuchtet. Souverän erzählt gelingt Alix Ohlin in diesem Buch ein rundes und stimmiges Porträt eines unsichtbaren Beziehungsbandes, das Ohlin von der Kindheit bis ins mittlere Lebensstadium hinein beschreibt.

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William Boyd – Blinde Liebe

William Boyd ist wieder da. Zuletzt schilderte er in Die Fotografin die Lebensgeschichte der fiktiven Fotografin Amory Clay. Nun hat er den Verlag gewechselt und ist anstelle des Berlin-Verlags im Kampa-Verlag heimisch geworden. Ein kleiner Coup, der Daniel Kampa und seinem Team da gelungen ist.

Inhaltlich bleibt sich William Boyd treu und stellt erneut ein ganzes Menschenleben in den Mittelpunkt. Diesmal heißt sein Protagonist Brodie Moncur, den man von den Jugendjahren bis zur Bahre begleitet. Er übt den Beruf des Klavierstimmers aus. Zwar sieht Brodie nicht besonders gut, umso schärfer ist aber sein Gehör, das sogar absolut ist. Kleinste Abweichungen von der Norm erfasst er intuitiv – was ihn natürlich zum perfekten Klavierstimmer macht.

Er zeigt in seinem Beruf großes Geschick und wird in der Folge aus seiner schottischen Heimat nach Paris entsandt. Dort soll der der lokalen Filiale eines Klavierherstellers unter die Arme greifen. Doch alles kommt natürlich anders als geplant – und so findet sich Brodie bald im Gefolge des Klaviervirtuosen John Barron wieder. Für diesen soll er seine Flügel vor den Auftritten stimmen und kalibrieren und so die Bühne für das Brillieren des Meisters bereiten.

Schnell wird Brodie zum unersetzlichen Adlatus des ebenso genialen wie menschlich schwierigen Pianisten. Die größte Anziehung übt auf ihn allerdings nicht Killbarron selbst, sondern dessen Lebensgefährtin Lika aus. Diese ist eine russische Sopranistin, der Brodie schon bald verfällt. Beide beginnen eine leidenschaftliche Affäre, die sich als verhängnisvoll erweist.

Ein guter Unterhaltungsroman – und sonst so?

Chronologisch erzählt William Boyd in Blinde Liebe die Geschichte seines Helden Brodie Moncur. Boyd ist natürlich ein erfahrener Erzähler, der weiß, wie er seine erzählerischen Bögen gestalten und ausschmücken muss. Man liest die über 500 Seiten starke Biografie Brodie Moncurs und wird gut unterhalten – mehr aber auch nicht. Denn für alles andere ist der Roman zu konventionell gehalten.

Der neue Titel von William Boyd fällt für mich in die Kategorie Flutschbuch. Es ist flüssig zu lesen, unterhält – aber von der Lektüre bleibt bei mir nicht viel zurück. Denn die Widerhaken in Boyds Geschichte fehlen. Jene Widerhaken wie interessante Persönlichkeiten, besondere ausgestaltete Konflikte oder eine große Tiefe – sie gehen der etwas bräsig gestalteten Geschichte leider ab.

Man muss konstatieren, dass Blinde Liebe ein Porträt ist, das mit grobem Pinsel gemalt ist. Für William Boyd steht die Unterhaltung im Vordergrund, was absolut legitim ist. Dadurch fehlt aber eben jene Metaebene, die meiner Meinung nach Literatur zu großer Literatur macht. Dieses Fehlen macht sich aber nicht nur in diesem Buch bemerkbar, generell ist das charakteristisch für das literarische Oeuvre Boyds.

William Boyd ist für mich ein geschickter Grenzgänger der Lager E und U. Auf dieser Grenze zu wandeln ist eine Kunst für sich, die Boyd sehr gut beherrscht. In meinen Augen bedeutet das nur leider zumeist, dass der Handlung vor der Ausgestaltung der Figuren der Vorzug gegeben wird. So bleibt Brodie Moncur trotz totaler Fokussierung etwas blass und wird in meinem Fall nach ein paar Dutzend Büchern später auch so blass in eminen Erinnerungen zurückbleiben.

Für mich hätte es nur schon noch etwas mehr an Nuancen, Zwischentönen und vielschichtigeren Charakteren sein dürfen. Wer von Büchern dafür eher einen ausschweifenden Handlungsbogen mit viel Effet erwartet, der wird hier auf alle Fälle glücklich.

Blinde Liebe ist ein gut gemachter Unterhaltungsroman. Nicht mehr, und nicht weniger.

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