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Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit

Um die Wahrheit ist es nicht bestellt in diesen Tagen. Fake News, alternative Fakten und eine Flut von KI generiertem Müll bedrohen die Wahrheit und machen die Verständigung auf eine gemeinsame Realität immer schwerer. In Raphaela Edelbauers Roman Die echtere Wirklichkeit probt eine Gruppe namens Aletheia den Widerstand dagegen. Wie dieser Kampf aussieht, davon erzählt die österreichische Autorin in ihrem Buch und zielt dabei mitten hinein in unsere Gegenwart.


Wir wollen keine konkreten Reformen vorschlagen, wofür wir andere, mit uns kooperierende Gruppen als zuständig erachten. Wir sind philosophische Revolutionäre, deren sogenannter Terror gewissen Denkbewegungen die Waffe an die Schläfe drückt

Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit, S. 376

So formuliert es die Vereinigung namens Aletheia in ihrem thesenstarken Manifest, das die in Wien beheimatete Gruppe gemeinsam erarbeitet hat. Mit einer gehörigen Portion Revoluzzer-Nostalgie angefertigt in einer besetzten Wohnung per Matrizendruck sind es 71 Thesen, die für die Gruppe entscheidende Bedeutung besitzen.
Man liest Heidegger, nur ist es diesmal die Musik von Depeche Mode anstelle von Ton, Steine, Scherben, die aus den Lautsprechern dröhnt, während man diskutiert und streitet. Aber nur bei Diskursgewittern soll es nicht bleiben – denn Aletheia ist mehr als ein philosophischer Lesekreis und steht damit in der Tradition des Terrors einer RAF: mithilfe eines Anschlags will mit einem sprichwörtlichen Knall auf die eigenen Thesen hinweisen und die eigene Mission zum Erfolg zu führen.

Terror und Philosophie

Raphaela Edelbauer - Die echtere Wirklichkeit (Cover)

Doch wie kam es so weit, das inmitten Wiens der bewaffnete Aufstand und Terror geprobt wird? Und was will die Gruppe eigentlich? Das erzählt nicht nur das immer wieder aufgegriffene thesenreiche Manifest, das den Leser*innen von Raphaela Edelbauers neuem Roman gleich als Einstieg um die Ohren gehauen wird. Auch die im Rollstuhl sitzende Romy alias Byproxy nimmt uns zurück an die Anfänge, als das mit Aletheia begann – beziehungsweise, als sie zur Gruppe stieß. Denn Byproxy ist der jüngste Neuzugang der Gruppe, die sich aus Paul, Bernward, Brigitte und der Chirurgin konstituiert.

Nachdem sie aus ihrer Wohngruppe hinausgeflogen ist, stößt Romy in den kalten Straßen Wiens auf die Spur der Revolutionäre – und findet Anschluss bei denen in einer besetzten Wohnung beheimateten Gruppe. Als Einstieg in die Welt der Wahrheitsverfechter muss sie durch die ganz große Denkschule durchfräsen und die Lektüre von Parmenides, Husserl oder Hegel nebst Hausarbeit erledigen, um bei Aletheia Aufnahme und Anerkennung zu finden.

Mithilfe des philosophischen Rüstzeugs soll die gehbehinderte Byproxy die Gruppe in ihrem großen Kampf unterstützen. Diesen führt die nach der griechischen Göttin für die Wahrheit benannte Gruppe für die Wahrheit. Denn die Wahrheit, sie gerät seit dem Erfolg des Poststrukturalismus zunehmend in Gefahr – und das von höchster Stelle.

Längst schon arbeiten Kräfte auf dem ganzen Kontinent gegen die Wahrheit an. Man erfindet Begriffe wie alternative Fakten und hat gar kein Interesse mehr, sich zu verständigen und eine gemeinsame Verständnisbasis auszumitteln. Die Verbindlichkeit dieser gemeinsamen, verbindenden Wahrheit ist in Gefahr – doch Aletheia will sie verteidigen.

Der Kampf für die Wahrheit

Es ist ein Kampf, der mehr mit Worten und Gedanken als mit echten Taten geführt wird. Zwar besuchen Paul und Byproxy eine Wahlveranstaltung der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs oder planen einen Anschlag auf die Kronenzeitung, die in den Augen der Gruppe eine Schleuder für Fake News darstellt (und die in der Alpenrepublik trotz ihres boulevardesken und unterkomplexen bis rassistischen Charakters eine Zielgruppe von über drei Millionen Menschen erreicht) – das Ergebnis dieser Anstrengungen bleibt aber kärglich. Eine schlampig gemauerten Mauer vor dem Universitätsbüro von Wahrheitsfeinden, sie ist alles, was bleibt. Dass dieses Bauwerk dann fast von alleine kollabiert ist sinnbildlich zu sehen.

Vieles bei Aletheia bleibt allein beim Wollen, ehe der Roman auf den letzten Seiten doch noch seinen explosiven Charakter entfaltet.

Und dann erlöste Brigitte uns aus dieser Totenstille: „Ich glaube, Byproxy hat recht. Moment mal, lasst uns nachdenken, vielleicht hat sie wirklich recht.“
„Seid ihr beide wahnsinnig geworden?“, fragte Bernward.
„Eine Geiselnahme? Glaubt ihr, wir wollen RAF spielen? Wir sind eine philosophische Gruppe.“
„Eine philosophische Terrorgruppe.“
„Eine philosophisch-aktionistische Gruppe!“, schrie Bernward.

Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit, S. 213

Theorie und Diskussion

Über weite Strecken erschöpft sich die Gruppe in der Planung und Diskussion ihrer Aktionen – und steht damit stellvertretend für die Leistungsschwäche der Linken angesichts eines globalen Rechtsrucks und der Tendenz hin zu Autoritärem. Die Protagonisten dieses Rechtsrucks von der medialen Öffentlichkeit (Kronenzeitung) über akademischen Betrieb bis hin zu den politischen Mitspielern (FPÖ) beleuchtet Edelbauer immer wieder als einen großen Komplex, gegen den Aletheia gar nicht ankommen will und kann.

Verlockender scheinen die Dialoge über Wahrheit und der Blick der Philosophen auf den kaum zu greifenden Komplex. Was ist Wahrheit, auf welche Wahrnehmung der Wahrheit kann man sich verständigen? Die echtere Wirklichkeit geizt dabei nicht mit Thesen und Denkern. Immer wieder verliert sich die Gruppe in Diskussionen zwischen Poststrukturalismus und Pläneschmieden und strapaziert damit auch die Geduld der Leser*innen. Edelbauers Faible für Philosophie und die Widersprüche des Denkens scheinen in diesem Roman wohl so deutlich auf wie nie.

Das macht ihren Roman bisweilen zu einer zähen Lektüre, die mit den 71 Thesen, Theorietexten und Dauerstreitereien Hingabe der Konsument*innen erfordert. Dafür belohnt der Roman auch etwa mit der großartigen Bierzelt-Szene, die die Agitation rechter Kräfte ohne Fakten aber mit ganz viel Gefühl dokumentiert. Auch ist ihr Roman wieder ein großes Sprachfest, da Byproxy eine sprachstarke Erzählerin mit gewähltem Vokabular ist. Man verabsentiert sich, ist spornstreichs unterwegs oder befleißigt sich verschiedenster Dinge. Auch geizt die Autorin nicht mit hinreißenden Austriazismen der Marke Spom­pa­na­deln oder Gleich spielt’s Granada.

Fazit

So ist Die echtere Wirklichkeit ein wilder philosophischer wie sprachliche Tanz, der sich auf dem schwindenden Grund einer gemeinsamen Realität unserer Gesellschaft vollzieht. Edelbauers Buch zielt mitten hinein in die Gegenwart und das brüchig gewordene Vertrauen in Staat – und die Erzählerin.
Trotz eines klaren Österreich-Fokus ist das Buch damit doch auch universell übertragbar. Wackere Leser*innen, die sich nicht von vielen Thesen und Denkgirlanden und Diskussionsdauerfeuern abschrecken lassen, die finden in Raphaela Edelbauers Buch höchst gegenwärtige Lektüre zwischen Philosophie und Bombenanschlag.


  • Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit
  • ISBN 978-3-608-96630-5 (Klett-Cotta)
  • 448 Seiten. Preis: 28,00 €
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Pablo de Santis – Das Rätsel von Paris

Zwölf Detektive sollt ihr sein. In Pablo de Santis‚ Roman Das Rätsel von Paris kommen die legendären Detektive ebendort zusammen, um im Rahmen der in Kürze beginnenden Weltausstellung Ausschnitte aus ihrem kriminalistischen Lebenswerk zu zeigen. Doch wo Detektive sind, da ist das Verbrechen auch nicht weit…


Ist er Ausdruck visionärer Architektur und Fortschrittdenkens – oder eine einzige Anmaßung, die sogar den Petersdom in ihren Schatten stellt und besser nicht gebaut worden wäre? In Pablo de Santis metaphysischen Krimi Das Rätsel von Paris entzweit der kühne Entwurf Gustave Eiffels die Geister.

Mit einer Bauzeit von 2 Jahren und der Eröffnung pünktlich zur Weltausstellung 1989 ist der Turm etwas nie Dagewesenes, das alle Blicke auf sich zieht. Salvatrio, den Erzähler von Pablo de Santis Roman, begeistert aber eine andere Aussicht noch weitaus mehr. Denn er ist nach Paris gekommen, weil dort am Vorabend der Eröffnung der Weltausstellung andere Giganten zusammengekommen sind. Keine geringeren als die legendären zwölf Detektive haben sich dort versammelt, um sich gegenseitig ihre Ermittlungsmethoden und größten Fälle vorzustellen.

Salvatrio und die zwölf Detektive

Pablo de Santis - Das Rätsel von Paris (Cover)

Dass Salvatrio als einer der größten Bewunderer dieses kriminalistischen Dutzends ebenfalls vor Ort ist, hat damit zu tun, dass es strenggenommen gar nicht zwölf, sondern nur elf Detektive sind, die sich in Paris eingefunden haben. Denn der argentinische Ermittler Craig ist nicht gekommen, stattdessen hat er Salvatrio als seinen Adlatus entsandt. Wie das kam, davon erzählt der erste von insgesamt fünf Teilen, in das sich de Santis‘ Roman gliedert.

Nun steht Salvatrio wahrhaftig vor jenen Detektiven, deren Fälle und Deduktionen er in der Zeitschrift La clave del crimen begierig verfolgt hat. Der Detektiv Tobias Hatter aus Nürnberg, der mithilfe von ausgeklügelten Apparaturen im Miniaturformat Fälle löst, Zagala, der portugiesische Ermittler, der seine Fälle ausschließlich an der Küste löst oder die beiden Detektive Viktor Arzaky und Louis Darbon, die miteinander um den Titel des Detektivs von Paris konkurrieren.

Sie alle sind nun vor Ort und haben Exponate mitgebracht, die für ihre Ermittlungsansätze und Erfolge stehen. Aus der Theorie wird aber schnell Praxis, als es zu einem ersten Toten kommt, der aus der Riege der berühmten Detektive stammt. Der Schauplatz des Todesfalles könnte dabei nicht symbolischer sein. So stürzte Arzakys‘ Konkurrent Darbon an jenem Ort zu Tode, der nun im Fokus der Öffentlichkeit steht: der Eiffelturm.

Vom Adlatus zum Ermittler

In der Folge wird Salvatrio vom passiven Bewunderer der zwölf Detektive selbst zum Ermittler, indem er für Arzaky Ermittlungen übernimmt. Er stromert durch ein Paris , das schier vor Anspannung ob der bevorstehenden Eröffnung der Weltausstellung vibriert und summt. Als es zu einem zweiten Todesfall kommt, steigert sich diese Anspannung noch einmal. Denn es scheint fast, als hätte jemand die Detektive und insbesondere Darbons Rivalen Viktor Arzaky ins Visier genommen.

Pablo de Santis‘ Roman ist einerseits ein Krimi, der die klassischen Zutaten des Genres im Übermaß bedient. Nicht nur ein Detektiv, sondern gleich ein ganzes Dutzend, dazu die Adlaten der legendären Ermittler, Todesfälle, die in Verbindung zu stehen scheinen, viele potentielle Verdächtige an einem illustren Ort.

Zugleich aber weitet der Argentinier Pablo de Santis seinen Roman, indem er neben der realistischen Krimihandlung auch eine metaphysische Ebene einzieht. Sinnbildlich dafür ist ein Ausspruch, der einmal in einem Gespräch mit dem Detektiv Craig fällt. Er lautet: Die Mörder sind die Künstler und die Detektive ihre Kritiker.

Der Eiffelturm im Verdacht

Diese für einen klassischen Krimi eher ungewöhnliche Herangehensweise an das kriminalistische Tun kennzeichnet Das Rätsel von Paris. So stehen nämlich nicht nur Ermittler, Täter und Opfer im Fokus – auch dem Eiffelturm kommt eine entscheidende Rolle zu, der ebenso wie Detektive international für Aufsehen sorgt, aber auch Kritiker auf den Plan ruft.

Obskure Gruppen wie die sogenannten Kryptokatholiken sehen die Errichtung des Turms mehr als skeptisch, weshalb eine Spur auch zu dieser Gruppierung und ihren seltsamen Vertretern weist. Würde man für beziehungsweise gegen den Turm morden? Und was verbindet die Toten miteinander? Rächt sich ein mörderischer Künstler an seinen Kritikern in Form der Detektive?

Diese Überlegungen führen zu vielen, teils reichlich theoretisch und metaphysischen Überlegungen, die Krimipuristen, die „reine“ Krimis schätzen, wahrscheinlich eher als überflüssig, wenn nicht gar störend empfinden dürften.

Fazit

Lässt man sich aber auf die Erzählwelt von Pablo de Santis ein, dann ist Das Rätsel von Paris einerseits Hommage an die klassischen Detektiverzählungen und setzt gleich zwölf Ermittler und ihre spektakulären Fälle in Szene. Andererseits ist das Buch auch eine wilde Spielwiese für Kritik der mörderischen Vernunft, Überlegungen zum Arbeitsethos von Detektiven und Bauwerk-bedingte Aversionen. Dass dieses Buch im Jahr 2007 erschien, als Erika Eiffel im gleichen Jahr in einer privaten Zeremonie den Eiffelturm heiratete, ist dabei eine Pointe, die hervorragend zum Geist passt, den Das Rätsel von Paris atmet.


  • Pablo de Santis – Das Rätsel von Paris
  • Aus dem Spanischen von Claudia Wuttke
  • ISBN 978-3-293-20540-6 (Unionsverlag)
  • 320 Seiten. Preis: 12,90 €
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Ulrich Woelk – Mittsommertage

Beim aktivistischen Protest von Gruppen wie der Letzten Generation oder Extinction Rebellion ist häufig von den Kipppunkten die Rede, die wir als Gesellschaft nicht überschreiten dürfen, um die schlimmsten Auswirkungen der sich abzeichnenden Klimakatastrophe abzumildern. In Ulrich Woelks neuem Roman Mittsommertage steht eine Frau vor einer ganzen Menge solcher Kipppunkte. Kipppunkte, die sie auch mit ihrer eigenen aktivistischen Vergangenheit in Berührung und an den längsten Tagen des Jahres gehörig ins Schwitzen bringen.


Ruth Leber, 54 Jahre, Philosophieprofessorin, wohnhaft in Berlin, steht kurz vor dem größten Triumph ihrer akademischen Karriere. Sie hat den Ruf in die Ethikkommission der Bundesregierung erhalten, jenem Gremium, das die Bundesregierung in komplexen Sachverhalten berät und Stellungnahmen zu ethischen Grundsatzfragen abgibt. Ruth Leber ist hierfür die perfekte Kandidatin. Zwar nicht parteipolitisch eingebunden, dafür aber der Partei der Grünen in ihren Positionen zugeneigt steht sie für eine profunde Auseinandersetzung in Fragen des Miteinanders, die sie in ihren Vorlesungen lehrt und die auch Student*innen zu ihr locken, die sie gerne für die Betreuung ihrer Promotionen gewinnen möchten.

Liiert ist sie mit Ben, einem aufstrebenden Architekten, dessen unkonventionelle Entwürfe irgendwo zwischen Bauhaus und Luigi Colani für Interesse sorgen. So blickt er zusammen mit seinem Architekturbüro in jenen Tagen des Juni 2022, in denen Mittsommertage spielt, ebenfalls ganz genau auf eine Kommission. In seinem Fallen handelt es sich bei der Kommission aber um ein Gremium, das über die Neuplanung der Siemensstadt in Berlin entscheidet, für die auch Ben einen Entwurf eingereicht hat.

Und dann ist da auch noch Jenny, die Tochter ihres Lebensgefährten, derentwegen sie sich Ruth fast selbst als Mutter fühlt, obschon keine biologische Verwandtschaft zwischen den beiden Frauen besteht. Als Studentin der Kommunikationswissenschaft wohnt Jenny mittlerweile fern von Ruth und Ben in Leipzig – und doch ist da eine Verbindung zwischen der Philosophieprofessorin und ihrer Ziehtochter.

Ein Hundebiss mit Folgen

Kurz vor dem entscheidenden Karriereschritt will Ruth nun mit einer Joggingrunde zu morgendlicher Stunde den Kopf freibekommen für die anstehenden Ereignisse. Dabei wird Ruth von einem freilaufenden Hund angefallen, der die Professorin beißt. Die Wunde scheint nicht allzu gravierend, sodass sich Ruth entschließt, angesichts der vor ihr liegenden ereignisreichen Woche auf eine Anzeige und eine ärztliche Untersuchung zu verzichten. Ein Fehler, wie sich noch herausstellen wird.

Ulrich Woelk - Mittsommertage (Cover)

Wie ein Vorgriff auf die kommenden Ereignisse wirkt dieser unerwartete Zwischenfall. Die Wunde beginnt im Lauf der nächsten Stunden zu schmerzen und kostet Ruth einiges ihrer Energie. Dabei wäre diese Energie an anderer Stelle deutlich dringender nötig. Denn nach einer Begegnung im Hörsaal und in der S-Bahn macht Ruth die Bekanntschaft mit einem alten Freund, den sie schon fast vergessen hatte. Dieser erinnert sie im Gespräch an ihre eigene aktivistische Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die mit Bildern und Erinnerungen verbunden ist, die Ruth jetzt eigentlich überhaupt nicht brauchen kann.

Gerade richtet sich das öffentliche Interesse angesichts der Berufung in die Ethikkommission sowieso schon auf Ruth, deren makellose Reputation entscheidenden Anteil an ihrer Berufung hatte. Nun fordert ihr alter Bekannter eine Entscheidung von Ruth ein, wie sie zu ihrer eigenen, nicht ganz so makellosen Vergangenheit steht.

So findet sich die Professorin gleich vor einem doppelten Kipppunkt wieder. Zum einen ist da die Entscheidung, wie sie mit ihrer eigenen Vergangenheit umgehen soll. Zum anderen ist da auch plötzlich wieder die Erinnerung an die Vergangenheit, in der es schon einmal einen Kipppunkt gab, der Ruths weiteren Lebensweg entscheidend beeinflusste. Eigentlich möchte sie in diesem Fall die gleiche Lösungsstrategie wie nach dem Hundebiss anwenden. Aber weder die Wunde noch die eigene Biografie mit all ihren Volten lassen sich so einfach ignorieren.

Aktivismus in verschiedenen Formen und Facetten

Mittsommertage ist ein Buch, das den Aktivismus in verschiedenen Formen und Facetten spiegelt. So legt Ulrich Woelk in den Figuren von Ruth und ihrer Ziehtochter Jenny die zwei unterschiedlichen Protestgenerationen ein, die doch mehr eint, als es zunächst den Anschein hatte. Während Ruth einst mit waghalsigen Aktionen in Frankfurt-Hoechst oder auf dem Land gegen das Ozonloch und die drohende Klimakatastrophe aufmerksam machen wollte, ist es nun der Protest auf Fahrbahnen, der Jenny angesichts der auch jetzt im Sommer 2022 unverändert dringlichen ökologischen Gesamtlage geboten erscheint, um die entscheidenden klimatischen Kipppunkte nicht zu überschreiten.

Während Ruth den Marsch durch die Institutionen angetreten hat und nun als theoretische Denkerin auf dem Gipfel ihres Erfolgs angekommen scheint, sind es doch auch die alten Bekannten und die eigene Familie, die sie an ihre Graswurzel-Vergangenheit und damit auch die eigene aktive Vergangenheit und ihren Wandel erinnern. Die heile und makellose Welt Ruths bekommt zunehmend Risse und erscheint immer unsicherer, während Ruth und Jenny beide für sich um einen eigenen Umgang mit dem aktivistischen Dasein ringen.

Protest, Corona-Nachwehen und steigende Temperaturen

Das führt zu vielen Dialogen und Abwägungen, die manchmal vom professoralen Dozieren auch zu sehr statischen Gesprächswechseln führen. Das gerät besonders in jenen Passagen zu trocken, die quasi-dokumentarisch die Zustände des Abflauens der Corona-Pandemie im vergangenen Sommer noch einmal aufgreifen. Könnte man Woelk zugutehalten, dass die sachliche und faktuale Erzählweise ganz dem rationalen Charakter Ruths nachspürt, rückt das Ganze in einigen Passagen wie der folgende für meinen Geschmack doch etwas zu nah an eine Dokumentation denn wirklich lebendiges Erzählen heran:

Die Stimmung im Büro ist entspannt, aber nicht mehr ausgelassen. Die Phase des Korkenknallens ist vorüber. Eine Maske trägt niemand, was bei einem Umtrunk verständlich ist. Es ist auch nicht mehr vorgeschrieben. Ben hat sich in den vergangenen zwei Jahren an alle Vorschriften gehalten, hat ein Hygienekonzept erstellt und seine Angestellten so weit wie möglich von zu Hause aus arbeiten lassen. Er hat Luftreinigungsgeräte angeschafft und ein neues Abluftsystem einbauen lassen. Jetzt ist es jedem freigestellt, eine Maske zu tragen oder nicht.

Ulrich Woelk – Mittsommertage, S. 67 f.

Obschon es erst ein Jahr her ist, liest sich das (gottseidank wie ich meine) schon wieder wie etwas Vergangenes – der eigenen selektiven Erinnerung sei Dank. Aber dennoch ist Mittsommertage auch höchst aktuell, indem Woelk den anschwellenden Protest der Klimabewegung in seinem Buch aufgreift, während nicht nur die Außentemperaturen in jenen Junitagen stark steigen.

Fazit

Hier schreibt ein Autor mit einem vitalen Interesse für persönliche und gesellschaftliche Verwerfungen, die die Debatten um die Klimakatastrophe und die Kipppunkte aufgreift und die Debatten unserer Tage um Moral, Ethik und gebotenes Handeln interessant verhandelt. Er rafft das ganze Leben Ruths mitsamt der entscheidenden Wendungen in die Form weniger Tage, in denen sich alles wandelt. Das ist in der Form und den erzählerischen Mitteln zwar nicht besonders neu oder innovativ – im Großen und Ganzen aber wirklich gut gemacht und ruft Erinnerungen wach an den Post-Corona-Sommer 2022.

Eine kleine Randnotiz zum Schluss: Besonders nett für Woelk-Leser ist die der kleine interreferenzielle Gastauftritt, den der Autor im Text versteckt hat. So dürfte Leserinnen und Lesern die Ärztin, die Ruth nach einem Schwächeanfall in einem Krankenhaus im Wedding behandelt, aus Woelks letzten Roman Für ein Leben bekannt vorkommen.


  • Ulrich Woelk – Mittsommertage
  • ISBN 978-3-406-80652-0 (C. H. Beck)
  • 284 Seiten. Preis: 25,00 €
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Treffen sich Thomas von Aquin und Stanley Laurel im Dunkeln …

Markus Orths – Picknick im Dunkeln

Von der Kraft der Vorstellung, der Philosophie und der Frage, ob Slapstick auch in der völligen Finsternis funktioniert: Markus Orths‘ Roman Picknick im Dunkeln.


Es klingt wie ein ziemlich abgeschmackter Witz unter Theologen: Kennst du den? Treffen sich Thomas von Aquin und Stanley Laurel im Dunkeln. Ist aber kein Witz, sondern die Hypothese von Markus Orths neuem Roman. Orths, der zuvor den Maler Max Ernst durch sechs Frauenportäts porträtierte, widmet sich nun zwei Lichtgestalten der Geistes- und Comedygeschichte. Da ist zunächst Thomas von Aquin. Der stumme Ochse, wie ihn Albertus Magnus einst nannte, gilt ja gemeinhin als einer der wichtigsten Denker der Theologie. Bis zu vier Sekretären gleichzeitig soll er seine Gedanken diktiert haben. Gottesbeweise, seine Summa Theologiae, ein Schriftwerk, das Bibliotheken füllt. Der später Heiliggesprochene beeinflusst bis heute Theolog*innen mit seinem Wirken.

Statue von Laurel&Hardy

Auch Orths zweite Figur, die zugleich als Erzähler fungiert, gilt als wegweisend – beziehungsweise manchen Fans sicher auch als Heiliger. Allerdings auf einem anderen Gebiet, nämlich dem der Comedy. Es handelt sich um Stanley „Stan“ Laurel, die eine Hälfte des Komikerduos Laurel&Hardy. Bei uns ist das Duo eher unter dem Titel Dick&Doof bekannt. Mit legendären Nummern wie die der beiden als Klavierspediteure haben sich in die Comedygeschichte eingeschrieben. Während der Thomas von Aquin in Sachen Körperumfang nicht unähnliche Oliver Hardy eher vom Vaudeville-Theater kam, war es Stan Laurel, der die Pantomime und die physical comedy mit ins Spiel der beiden brachte. Legendäre etwa seine Geste, den stets auf seinem Kopf thronenden Bowler abzunehmen und sich von oben den Kopf zu kratzen. Mit seinen Gestiken, Mimiken und Gags brachte sich Laurel in das Duo ein und wirkte an vielen Gags und Nummern als Schreiber mit.

Ein seltsames Paar im Dunkeln

Doch um das wichtigste Mittel für diese Gags, nämlich die Sichtbarkeit, bringt Orths seinen Helden gleich zu Beginn des Romans. Denn Stanley erwacht in einem nachtschwarzen Tunnel. Die berühmte Hand vor Augen kann man nicht sehen. Stattdessen allumfassende Schwärze, Wände links und rechts. Ein wenig später lässt Orths Stanley dann über einen weiteren Suchenden in dem Tunnel stolpern – nämlich ebenjenen Thomas von Aquin. Die Männer aus völlig unterschiedlichen Jahrhunderten müssen sich zusammenraufen, wollen sie ans Licht gelangen. Gemeinsam streben sie in der Folge durch die Schwärze, um sprichwörtlich Erleuchtung zu erlangen. Doch warum sind sie in dem Tunnel? Was verbindet die Männer? Und was, wenn da am Ende des Tunnels gar kein Licht ist?

Markus Orths hat sich eine Ausgangslage für seinen Roman erschaffen, die viel Potential bietet. Auf den ersten Blick passt da ja nichts zusammen. Ein Theologe aus dem Hochmittelalter, ein Komiker aus dem 20. Jahrhundert. Noch dazu das surreale Dunkel, das die Männer umgibt. Wie soll daraus ein gelungener Roman werden? Können die Männer über alle Sprachbarrieren hinweg zueinander finden? Oder zerfällt der Roman in seine disparaten Elemente?

Bis zur Mitte des Buchs hätte ich letzterer Lesart den Vorzug gegeben. Denn auf mich wirkte das Ganze, als hätte Orths in seinem Zettelkasten fleißig Material zu Thomas von Aquin und Stanley Laurel gesammelt. Für eine große Biografie fehlte die Idee und der inszenatorische Angriffspunkt, also packt man die beiden Männer zusammen in ein Setting, das eine abstruse Ausgangslage verzeiht. Zwei interessante Leben werden’s schon richten, um daraus einen interessanten Roman entstehen lassen.

So dachte ich, aber wie gesagt – nur zunächst. Denn je weiter das Buch und damit sein Duo wider Willen durch das Dunkel voranschreitet, umso gelungener fand ich die Inszenierungsidee. Denn durch dieses Dunkel und die völlige Abwesenheit von äußeren Faktoren geht es bald um das Innere der beiden Männer. Woher stammen sie? Was hat sie zu dem werden lassen, das sie nun sind? Dabei gelingt Orths im inneren Monolog und äußeren Dialog der beiden Männer ein spannendes Doppelporträt, das dann auch einige Berührungspunkte aufweist.

Denken mit Thomas von Aquin und Stan Laurel

Der Theologe und der Komiker verwickeln sich im Dialog in zahlreiche philosophische Exkurse: Was meint Thomas von Aquin, wenn er von einer Geistseele spricht? Wie bringt man einem Menschen aus dem Mittelalter Humor nahe, der das Lachen ablehnt? Was bringt die Kunst der Logik in einem Raum, in dem keine Gesetze zu gelten scheinen? Warum an die Auferstehung glauben, wenn man doch offensichtlich im schwarzen Nichts feststeckt? Und kann uns unsere Fantasie retten, wenn da nichts mehr ist, nicht einmal Licht?

Markus Orths gelingt es über seine zwei so gegensätzlichen Helden, viel Nachdenkenswertes zu transportieren. Trotz des reichlich absurden Settings schafft er es, Plausibilität in das Picknick im Dunkeln zu bringen – und auch mit dem Schicksal der beiden Männer zu rühren (und mich damit auch zu berühren), ohne zu sehr auf die Kitschtube zu drücken.

Eine Hymne auf die Kraft der Vorstellung

Für mich ist Picknick im Dunkeln eine Hymne auf die Kraft der Vorstellung. Zunächst einmal im literarischen Sinne: hier kommt zusammen, was nicht zusammengehört. Das schwarze Nichts, ein Theologe des 13. Jahrhunderts, ein verstorbener Komiker, vielfach verheiratet und überzeugter Vertreter des Nonsens. Dass Literatur die Grenzen von Gattungen, Zeiten und räumlichen Beschränkungen im Handstreich einzureißen vermag, das demonstriert Orths in seinem Buch auf beeindruckende Weise. Warum nicht einmal Männer aus den Setzkästen des 13. und 20. Jahrhunderts entnehmen und sie in ein schwarzes Nichts setzen? Warum ein großes Szenenbild aufbauen, wenn es ein nachtschwarzer Tunnel auch tut? Hier nimmt sich der Baden-Württemberger alle Freiheiten, die einem die Literatur bietet, und nutzt sie klug.

Und nicht zuletzt ist auch das Buch eine Hymne auf die Kraft der Vorstellungen. So wird das Picknick im Dunkeln zum Symbol für alles, was der Geist erschaffen kann. Im Buch bringt Stan Laurel das Wesen seiner Comedy nahe, indem er Thomas von Aquin zu einem virtuellen Picknick einlädt. Beide Figuren nehmen auf einer nichtvorhandenen Decke Platz und nehmen ein nichtvorhandenes Mal zu sich. So demonstriert Laurel seinem Schicksalsgefährten, was seinen Humor ausmacht und was durch Vorstellungskraft alles möglich wird. Ein starkes Bild, das Orths da in den Mittelpunkt des Romans gestellt hat.

Und besonders gut gefällt mir neben dieser Hymne auf die Vorstellung auch der große Interpretationsspielraum, den er den Lesenden lässt. Wie stehen die beiden Figuren nun zueinander? Wer der beiden Männer ist Geistseele? Was ist echt? Geht es um die Auferstehung? Oder ist Oliver Hardy in die Rolle des Thomas von Aquin geschlüpft und wir wohnen einer letzten Nummer von Laurel&Hardy bei? Wohl jede*r Lesende wird beim Lesen des Romans eine eigene Deutung der Geschehnisse entwickeln. Und diese Vieldeutigkeit ist in meinen Augen auch ein echter Beweis der Qualität von Orths Buch, das durch eine sinnige und durchdachte Buchgestaltung noch einmal aufgewertet wird. Ein philosophisch-nachdenklicher Roman und das Portät zweier gegensätzlicher Männer, außergewöhnlich und gelungen.

Bildquellen:

Statue Laurel&Hardy: Von Hilton Teper – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18475443

Kirchenfenster Thomas von Aquin: Von Westerdam – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35215153

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Jürgen Goldstein – Die Entdeckung der Natur

Etappen einer Erfahrungsgeschichte

Die Reihe Naturkunden zählt in Hinsicht Form und Funktion zum Schönsten, was man momentan auf dem deutschen Buchmarkt so findet. Als Herausgeberin und zugleich Gestalterin ist Judith Schalansky für die Reihe verantwortlich. Den Inhalt liefern verschiedene namhafte Autoren wie etwa Eva Meijer, Robert MacFarlane oder Jean-Henri Fabre. Die Themen dieser bei Matthes & Seitz verlegten Reihe sind so vielfältig wie die Natur selbst, die in diesen Büchern abgebildet wird. Egal ob Nashörner, Symbiosen, Algen oder verlorene Wörter aus dem Bereich Flora und Fauna – zu fast allen Themen der zoologischen und botanischen Welten gibt es hier erkenntnisreiche Bücher.

Wie man diesen einleitenden Worten vielleicht entnommen hat: auch ich bin ein großer Freund dieser außergewöhnlichen Reihe. Daher habe ich mich ad fontes aufgemacht und mich einem der ersten Bände dieser Reihe gewidmet. Genauer gesagt ist es der Band 3 der Naturkunden, der hier im Mittelpunkt stehen soll. Es handelt sich um das Werk Die Entdeckung der Natur – Etappen einer Erfahrungsgeschichte von Jürgen Goldstein. Goldstein lehrt als Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau und begegnete mir zum ersten Mal vor zwei Jahren. Damals stand sein Buch Blau – Eine Erfahrungsgeschichte auf der Nominierungsliste für den Bayerischen Buchpreis. Zwar bekam das Buch damals nicht den Preis verliehen – persönlich hätte ich ihm den Preis allerdings zugesprochen.

Das damalige Leseerlebnis weckte in mir den Wunsch nach mehr Literatur von Goldstein, da er sich in seinem Werk als kenntnisreicher, fein beobachtender und auch literarisch sehr versierter Autor zeigte, der in seinem Buch einen vielgestaltigen Zugang zu seinem Thema schuf. Auch in die Entdeckung der Natur gelingt ihm das einmal mehr.

Der Mensch macht sich die Natur untertan

Die Grundidee hinter seinem Buch ist die Frage, wie der Mensch die Natur im Laufe der Jahrhunderte erfahren hat. Wie hat sich die Wahrnehmung geändert – und welche Faktoren haben das beeinflusst? Goldstein geht dieser Frage nach, indem er ausgehend vom 14. Jahrhundert mit der Besteigung des Mont Ventoux durch den Dichter Petrarca den Bogen bis in die Neuzeit schlägt, hin zu Personen wie Reinhold Messner und Chris McCandless.

Diesen Bogen schafft er, indem er sich 17 Episoden aus der Geschichte herausgreift, an denen sich beispielhaft ein wandelnder Blick auf die Natur ablesen lässt. Er nimmt berühmte und weniger berühmte Menschen in den Blick, die besondere Naturerfahrungen erlebten, und die diese dann in Berichten festhielten, darunter etwa Georg Forster oder Peter Handke. Goldstein gelingt in seinen Episoden eine stimmige Mischung aus Nacherzählung und Originalberichten, die uns als Leser die damaligen Erfahrungen und Erlebnisse nacherleben lässt.


Humboldt und Bonpland am Fuß des Vulkans Chimborazo, Gemälde von Friedrich Weitsch (1810)

Zu den von ihm geschilderten Episoden zählt die Besteigung des Brockens durch den Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1777. Aber auch die Besteigung des Matterhorns durch Edward Whymper, die Reise Maria Sybilla Merians nach Surinam oder die fast geglückte Besteigung des Chimborazo durch Alexander von Humboldt 1802 sind Thema. Generell lässt sich festhalten, dass Goldstein eine maximale Bandbreite an Reise- und Erlebniserfahrungen einfängt. Von Bergbesteigungen bis zu Reisen in exotische Länder wie Amazonien, von Eiswüsten bis hin nach Tahiti. Würden Bücher Bonusmeilen sammeln, der Entdeckung der Natur wäre ein Platz in der Senatourlounge gewiss.

Erkenntnisreiche Episoden mit Kreisschluss

Diese oben schon angesprochene Mischung aus Originalberichten und Nacherzählung ist eine gute Idee, da sie eben ad fontes zu den Eindrücken der Menschen vordringen lässt. So zeigt Goldstein, wie die ersten Wahrnehmungen der großen Entdecker noch stark vorbelastet waren vom eigenen Wissensstand der damaligen Zeit. So konnte Kolumbus seine Entdeckungen rational und sprachlich nur unzureichend verarbeiten – zu verstellt war der eigene Blick. Doch das Sensorium der Menschen wandelte sich im Lauf der Zeit – bis man wieder bei sich selbst ankam.

Eindrucksvoll illustriert Goldstein den Kreis, den die Wahrnehmung der Natur schloss. Galt eins das Streben nach Erfahrung und Eroberung der Natur als verrufen (der Kirchenvater Augustinus drängte darauf, dass die wahren Wunder in uns Menschen lägen), so setzte ab dem 14. Jahrhundert eine gegenläufige Entwicklung ein. Berge wurden bezwungen, Meere überquerte, neue Länder entdeckt. Doch spätestens mit der Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoff durch Reinhold Messner waren alle möglichen unerkannten und unmöglichen Entdeckungen hinfällig geworden. Alles ist zur Variation und Wiederholung geraten. Goldstein konstatiert:

Der Kreis schließt sich. Der Mensch ist bei seinem Vordringen in die Natur wieder bei sich selbst angekommen. Hatter er vor der allmählichen Entdeckung und Erschließung der Natur, wie sie mit Petrarca eingesetzt haben mag, zu wenig von ihr gekannt, scheint er nun zu viel von ihr gesehen zu haben. Hatten die ersten Entdecker noch vor lauter Büchern im Kopf kaum etwas anderes aufnehmen können als das, was sie bereits wussten, sind es nun die imaginierten Bilder, die wir von den entlegensten Erdteilen besitzen, die sich vor die Wahrnehmung schieben und die Frische von tatsächlichen Eindrücken verderben. Die Südsee? Zum Klischee verkommen. Die schneebedeckten Berge? Ein Panorama für Skifahrer.

Goldstein, Jürgen: Die Entdeckung der Natur, S. 273

Geschickt montiert, nachgerade brillant

Die Entdeckung der Natur steckt voller Erkenntnis. Welche Gedanken befielen die Entdecker*innen damals? Was ließ sie zweifeln, war zu immer neuen Ufern aufbrechen? Die Episoden sind klug gewählt. Goldstein gelingt es, diese Schlaglichter auch in einen übergreifenden Kontext gut einzubetten. Seine Nacherzählungen sind hochspannend, im Zusammenwirken mit den Originalberichten entwickeln sie oftmals eine hypnotische Wirkung, nachgerade brillant. Besonderes Highlight für mich waren die Schilderungen der Chimborazo-Besteigung durch Alexander von Humboldt und Fridtjof Nansens Arktisexpedition. Meisterhaft, wie Goldstein uns auf die Berge und in die Extremgebiete dieses Planeten mitnimmt.

Die Entdeckung der Natur ist daneben auch ein Buch, das meinen eigenen ästhetischen Horizont wirklich geweitet hat. Das Buch weckte neue Lust auf die Reiseberichte der behandelten EntdeckerInnen, auf ihre Schriften und ausführlichere Biographien. Vor allem Alexander von Humboldts Schriften werden vielleicht auch auf diesem Blog noch ein Thema sein, nicht zuletzt, da dieser große Entdecker in diesem Jahr seinen 250. Geburtstag feiern würde. Goldsteins Buch bietet hierfür eine wunderbare Einführung. Dass es ebenso toll gestaltet ist, muss bei dieser Reihe nicht eigens erwähnt werden.

Oder um es kurz zu machen: auch dieses Buch selbst ist eine Entdeckung!

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