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Ulrich Woelk – Mittsommertage

Beim aktivistischen Protest von Gruppen wie der Letzten Generation oder Extinction Rebellion ist häufig von den Kipppunkten die Rede, die wir als Gesellschaft nicht überschreiten dürfen, um die schlimmsten Auswirkungen der sich abzeichnenden Klimakatastrophe abzumildern. In Ulrich Woelks neuem Roman Mittsommertage steht eine Frau vor einer ganzen Menge solcher Kipppunkte. Kipppunkte, die sie auch mit ihrer eigenen aktivistischen Vergangenheit in Berührung und an den längsten Tagen des Jahres gehörig ins Schwitzen bringen.


Ruth Leber, 54 Jahre, Philosophieprofessorin, wohnhaft in Berlin, steht kurz vor dem größten Triumph ihrer akademischen Karriere. Sie hat den Ruf in die Ethikkommission der Bundesregierung erhalten, jenem Gremium, das die Bundesregierung in komplexen Sachverhalten berät und Stellungnahmen zu ethischen Grundsatzfragen abgibt. Ruth Leber ist hierfür die perfekte Kandidatin. Zwar nicht parteipolitisch eingebunden, dafür aber der Partei der Grünen in ihren Positionen zugeneigt steht sie für eine profunde Auseinandersetzung in Fragen des Miteinanders, die sie in ihren Vorlesungen lehrt und die auch Student*innen zu ihr locken, die sie gerne für die Betreuung ihrer Promotionen gewinnen möchten.

Liiert ist sie mit Ben, einem aufstrebenden Architekten, dessen unkonventionelle Entwürfe irgendwo zwischen Bauhaus und Luigi Colani für Interesse sorgen. So blickt er zusammen mit seinem Architekturbüro in jenen Tagen des Juni 2022, in denen Mittsommertage spielt, ebenfalls ganz genau auf eine Kommission. In seinem Fallen handelt es sich bei der Kommission aber um ein Gremium, das über die Neuplanung der Siemensstadt in Berlin entscheidet, für die auch Ben einen Entwurf eingereicht hat.

Und dann ist da auch noch Jenny, die Tochter ihres Lebensgefährten, derentwegen sie sich Ruth fast selbst als Mutter fühlt, obschon keine biologische Verwandtschaft zwischen den beiden Frauen besteht. Als Studentin der Kommunikationswissenschaft wohnt Jenny mittlerweile fern von Ruth und Ben in Leipzig – und doch ist da eine Verbindung zwischen der Philosophieprofessorin und ihrer Ziehtochter.

Ein Hundebiss mit Folgen

Kurz vor dem entscheidenden Karriereschritt will Ruth nun mit einer Joggingrunde zu morgendlicher Stunde den Kopf freibekommen für die anstehenden Ereignisse. Dabei wird Ruth von einem freilaufenden Hund angefallen, der die Professorin beißt. Die Wunde scheint nicht allzu gravierend, sodass sich Ruth entschließt, angesichts der vor ihr liegenden ereignisreichen Woche auf eine Anzeige und eine ärztliche Untersuchung zu verzichten. Ein Fehler, wie sich noch herausstellen wird.

Ulrich Woelk - Mittsommertage (Cover)

Wie ein Vorgriff auf die kommenden Ereignisse wirkt dieser unerwartete Zwischenfall. Die Wunde beginnt im Lauf der nächsten Stunden zu schmerzen und kostet Ruth einiges ihrer Energie. Dabei wäre diese Energie an anderer Stelle deutlich dringender nötig. Denn nach einer Begegnung im Hörsaal und in der S-Bahn macht Ruth die Bekanntschaft mit einem alten Freund, den sie schon fast vergessen hatte. Dieser erinnert sie im Gespräch an ihre eigene aktivistische Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die mit Bildern und Erinnerungen verbunden ist, die Ruth jetzt eigentlich überhaupt nicht brauchen kann.

Gerade richtet sich das öffentliche Interesse angesichts der Berufung in die Ethikkommission sowieso schon auf Ruth, deren makellose Reputation entscheidenden Anteil an ihrer Berufung hatte. Nun fordert ihr alter Bekannter eine Entscheidung von Ruth ein, wie sie zu ihrer eigenen, nicht ganz so makellosen Vergangenheit steht.

So findet sich die Professorin gleich vor einem doppelten Kipppunkt wieder. Zum einen ist da die Entscheidung, wie sie mit ihrer eigenen Vergangenheit umgehen soll. Zum anderen ist da auch plötzlich wieder die Erinnerung an die Vergangenheit, in der es schon einmal einen Kipppunkt gab, der Ruths weiteren Lebensweg entscheidend beeinflusste. Eigentlich möchte sie in diesem Fall die gleiche Lösungsstrategie wie nach dem Hundebiss anwenden. Aber weder die Wunde noch die eigene Biografie mit all ihren Volten lassen sich so einfach ignorieren.

Aktivismus in verschiedenen Formen und Facetten

Mittsommertage ist ein Buch, das den Aktivismus in verschiedenen Formen und Facetten spiegelt. So legt Ulrich Woelk in den Figuren von Ruth und ihrer Ziehtochter Jenny die zwei unterschiedlichen Protestgenerationen ein, die doch mehr eint, als es zunächst den Anschein hatte. Während Ruth einst mit waghalsigen Aktionen in Frankfurt-Hoechst oder auf dem Land gegen das Ozonloch und die drohende Klimakatastrophe aufmerksam machen wollte, ist es nun der Protest auf Fahrbahnen, der Jenny angesichts der auch jetzt im Sommer 2022 unverändert dringlichen ökologischen Gesamtlage geboten erscheint, um die entscheidenden klimatischen Kipppunkte nicht zu überschreiten.

Während Ruth den Marsch durch die Institutionen angetreten hat und nun als theoretische Denkerin auf dem Gipfel ihres Erfolgs angekommen scheint, sind es doch auch die alten Bekannten und die eigene Familie, die sie an ihre Graswurzel-Vergangenheit und damit auch die eigene aktive Vergangenheit und ihren Wandel erinnern. Die heile und makellose Welt Ruths bekommt zunehmend Risse und erscheint immer unsicherer, während Ruth und Jenny beide für sich um einen eigenen Umgang mit dem aktivistischen Dasein ringen.

Protest, Corona-Nachwehen und steigende Temperaturen

Das führt zu vielen Dialogen und Abwägungen, die manchmal vom professoralen Dozieren auch zu sehr statischen Gesprächswechseln führen. Das gerät besonders in jenen Passagen zu trocken, die quasi-dokumentarisch die Zustände des Abflauens der Corona-Pandemie im vergangenen Sommer noch einmal aufgreifen. Könnte man Woelk zugutehalten, dass die sachliche und faktuale Erzählweise ganz dem rationalen Charakter Ruths nachspürt, rückt das Ganze in einigen Passagen wie der folgende für meinen Geschmack doch etwas zu nah an eine Dokumentation denn wirklich lebendiges Erzählen heran:

Die Stimmung im Büro ist entspannt, aber nicht mehr ausgelassen. Die Phase des Korkenknallens ist vorüber. Eine Maske trägt niemand, was bei einem Umtrunk verständlich ist. Es ist auch nicht mehr vorgeschrieben. Ben hat sich in den vergangenen zwei Jahren an alle Vorschriften gehalten, hat ein Hygienekonzept erstellt und seine Angestellten so weit wie möglich von zu Hause aus arbeiten lassen. Er hat Luftreinigungsgeräte angeschafft und ein neues Abluftsystem einbauen lassen. Jetzt ist es jedem freigestellt, eine Maske zu tragen oder nicht.

Ulrich Woelk – Mittsommertage, S. 67 f.

Obschon es erst ein Jahr her ist, liest sich das (gottseidank wie ich meine) schon wieder wie etwas Vergangenes – der eigenen selektiven Erinnerung sei Dank. Aber dennoch ist Mittsommertage auch höchst aktuell, indem Woelk den anschwellenden Protest der Klimabewegung in seinem Buch aufgreift, während nicht nur die Außentemperaturen in jenen Junitagen stark steigen.

Fazit

Hier schreibt ein Autor mit einem vitalen Interesse für persönliche und gesellschaftliche Verwerfungen, die die Debatten um die Klimakatastrophe und die Kipppunkte aufgreift und die Debatten unserer Tage um Moral, Ethik und gebotenes Handeln interessant verhandelt. Er rafft das ganze Leben Ruths mitsamt der entscheidenden Wendungen in die Form weniger Tage, in denen sich alles wandelt. Das ist in der Form und den erzählerischen Mitteln zwar nicht besonders neu oder innovativ – im Großen und Ganzen aber wirklich gut gemacht und ruft Erinnerungen wach an den Post-Corona-Sommer 2022.

Eine kleine Randnotiz zum Schluss: Besonders nett für Woelk-Leser ist die der kleine interreferenzielle Gastauftritt, den der Autor im Text versteckt hat. So dürfte Leserinnen und Lesern die Ärztin, die Ruth nach einem Schwächeanfall in einem Krankenhaus im Wedding behandelt, aus Woelks letzten Roman Für ein Leben bekannt vorkommen.


  • Ulrich Woelk – Mittsommertage
  • ISBN 978-3-406-80652-0 (C. H. Beck)
  • 284 Seiten. Preis: 25,00 €
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Steph Cha – Brandsätze

Ein erschossener schwarzer Jugendlicher. Polizeigewalt, Proteste, Black Lives Matter. Es ist kaum möglich, näher an die amerikanische Gegenwart heranzukommen als in diesem Roman. Steph Cha erzählt in Brandsätze von zwei Familien, deren Schicksal durch eine verhängnisvolle Tat miteinander verknüpft ist. Und von Rassismus und Gewalt, die eine ganze Nation nicht zur Ruhe kommen lassen (übersetzt von Karen Witthuhn).


Es herrscht eine feindselige und aufgeheizte Stimmung in Los Angeles dieser Tage. Ein schwarzer Junge wurde erschossen. Die Polizei behauptet, der Junge wollte in eine Wohnung einbrechen. Dabei hatte er die Schlüssel für seine Wohnung vergessen und wollte an der Rückseite des Gebäudes in seine Wohnung einsteigen. Nach dem gewaltsamen Tod kocht nun die Stimmung über. Polizeigewalt, struktureller Rassismus, Proteste vonseiten der Black Lives Matter-Bewegung. Was sich wie eine Blaupause der jüngsten Vorfälle in Kenosha oder Wisconsin liest, hat sich die amerikanische Autorin Steph Cha in Wahrheit schon 2019 ausgedacht und veröffentlicht. 2019 spielt auch der Hauptteil ihres Romans Brandsätze, der um zwei ganz unterschiedliche Familien kreist.

Steph Cha - Brandsätze (Cover)

Da ist die Familie von Grace Park. Koreanische Einwanderer, die sich mit einem kleinen Laden im koreanischen Bezirk der Stadt eine eigene Existenz aufgebaut haben. Und da ist die Familie von Shawn Matthews. Die beiden Familie verbindet eine Bluttat, die sich kurz vor den Rodney King-Unruhen 1991 in Los Angeles zutrug.

Shawn sollte zusammen mit seiner Schwester Ava Milch für die Familie besorgen. Seit Monaten herrschte in der Stadt eine angespannte Lage zwischen den verschiedenen Ethnien, insbesondere zwischen Koreaner und Schwarzen. Nach einem Handgemenge im Laden erschoss die Ladenbesitzerin Ava, die das benötigte Geld noch in der Hand hielt, mit einer Handfeuerwaffe. Bei der Ladenbesitzerin handelte es sich um Grace Parks Mutter, die nach dem Vorfall mit einer Bewährungsstrafe davonkam.

Zwei gegensätzliche Familien

Diese Geschichte erfährt Grace erst stückweise, nachdem ihre Mutter niedergeschossen wurde. Der oder die Täter sind flüchtig. Für die Polizei steht aber schnell fest, wo sie nachforschen muss. Die Matthews geraten in das Blickfeld der Polizei, insbesondere, da man in Shawns Familie schon öfter mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Derweil nehmen die Spannungen in Los Angeles immer weiter zu, nicht zuletzt auch aufgrund des eingangs geschilderten Todes eines weiteren schwarzen Jungen.

Abwechselnd blickt Steph Cha in ihrem Roman immer wieder auf die beiden gegensätzlichen Familien. Da die Familie Matthews, die mit Rassismus und einem schweren Erbe hadert. Und da die Familie Park, die sich anpassen und den amerikanischen Traum zu ihrem eigenen machen wollte, die aber auch trotz aller Assimilierungsversuche mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen hat.

Steph Cha selbst hat einen Migrationshintergrund, vermeidet in ihrem Roman allerdings geschickt, für eine der beiden Familien Partei zu ergreifen. Sie erzählt ihre Geschichte, die auf einer wahren Begebenheit basiert, völlig ausgewogen und weckt für beide Seiten dieser Tragödie Verständnis. Das ist erzählerisch ungemein klug gemacht und besitzt eine Relevanz, die dieser Tage immer größer zu werden scheint. Ein literarisch gut ausbalancierter Sprung mitten hinein in die Gräben, die die amerikanische Gesellschaft durchziehen. Ein souveränes Buch, das auch Leser*innen von Celeste Ng, Alexi Zentner oder Leonard Pitts jr. begeistern dürfte. Diese Brandsätze haben es in sich!

Das sieht auch Marcus Müntefering bei Spiegel Online so. Und auch die Frankfurter Rundschau ist vom Roman begeistert. Jetzt dürften gerne noch ein paar Blogger*innen nachziehen. Das Buch hätte es verdient!


  • Steph Cha – Brandsätze
  • Aus dem Englischen von Karen Witthuhn
  • ISBN 978-3-7472-0115-2 (Ars Vivendi)
  • 336 Seiten. Preis: 22,00 €
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Nathan Hill – Geister

Die Geister, die ich rief …

Was für ein Buch – Nathan Hills Debüt Geister bringt es auf stattliche 864 Seiten und verlangt dem Leser einiges an Kondition ab. Ins Deutsche übertragen wurde der Titel vom Übersetzerduo Werne Löcher-Lawrence und Katrin Behringer. Erschienen ist es im Münchner Piper-Verlag.

In seinem Roman entfaltet Hill das Panorma zweier Existenzen – zum einen das des Englisch-Professors Samuel Anderson und zum anderen das seiner Mutter Faye Anderson-Andresen.

geister

Verbunden sind diese nicht nur durch ihre Herkunft, sondern auch durch ein Geheimnis, das Samuel nun endlich ergründen möchte. Eines Tages verließ seine Mutter einfach ihn und seinen Vater und verschwand ohne ein weiteres Lebenszeichen aus deren Leben.

Und nun tritt sie Jahre später mit einem Knall erneut in Samuels Welt. Sie wird nämlich gerichtlich dafür belangt, einen republikanischen Präsidentschaftsbewerber attackiert und mit Steinen beworfen zu haben. Da Samuel finanziell mehr als in der Klemme steckt, soll er nun eine alte Bringschuld für seinen Verleger einlösen und ein Buch über diesen Vorfall und damit über seine Erzeugerin schreiben. Er beginnt mit seiner Recherche, und dringt dabei auch tief ins Jahr 1968 vor. Damals versetzten die Studentenunruhen und Proteste ganz Amerika in Aufregung und im Leben von Samuels Mutter spielten sich entscheidende Dinge ab, die sie für immer prägen sollten.

864 abwechslungsreiche Seiten

864 Seiten, das klingt auf dem Blatt erst einmal nach einem wirklichen Ziegelstein von Buch. Doch Nathan Hill ist ein zu guter Schriftsteller, als dass er seine LeserInnen wirklich zu so vielen Seiten verpflichten wollte, wenn er nichts zu erzählen hätte. Seine Doppelbiografie zweier kantenreicher Persönlichkeiten liest sich ausnehmend kurzweilig, was auch der Montagetechnik des Romans geschuldet ist. Immer wieder springt er zwischen den Jahren 2011 und 1968 hin und her und variiert auch seine Schreibe.

So berichtet er von Computerspiel-Episoden, ersinnt eine Entscheide-Dich-Geschichte und liefert mit einer brillant choreografierten Schilderung der Antikriegs-Demonstrationen in Chicago 1968 den für mich überzeugendsten Teil der Geister ab. Diese variantenreiche Erzählweise macht den großen Reiz aus und sorgt dafür, dass man sich gut in Hills Protagonisten einfühlen kann.

Besonders sticht bei diesem Buch auch hervor, dass der junge Autor nicht alles zwangsläufig auserzählen muss.

Ein verheißungsvoller Literat macht sich warm

Entscheidende Passagen oder Schlüsselszenen spart er manchmal auch aus und überlässt deren Inhalt der Fantasie des Lesers. Immer wieder bringt er neue Facetten zum Vorschein oder legt den Fokus auf unterschiedliche Protagonisten (darunter auch Personen der Zeitgeschichte wie etwa Allen Ginsberg). Dies lässt aus diesem toll gestalteten Buch eine spannende und abwechslungsreiche Lektüre werden.

Ein großer amerikanischer Roman für diesen Herbst. Hier macht sich ein neuer Literat am Seitenfeld warm, der schon bald altgedienteren und etablierten Great-American-Novel-Schreibern den Rang ablaufen könnte!

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