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Anthony Marra – Die niedrigen Himmel

Mein Lieblingsbuch des Jahres

Noch nie ist es mir passiert, dass ich ein Buch in der Mitte abbrach, um gleich noch einmal mit der Lektüre zu beginnen – bis ich auf Anthony Marras Debüt Die niedrigen Himmel stieß. Bei diesem Buch ist es mir zum ersten Mal passiert, dass ich die Welt, die der amerikanische Schriftsteller in seinem Buch schildert, nicht früher als unbedingt notwendig verlassen wollte und so einen Neustart in der Mitte des Buchs vornahm. Und das obwohl die Welt in diesem Roman alles andere als hell oder strahlend ist. Vielmehr geht es an einen Ort, der von Düsternis, Verzweiflung und Grausamkeit geprägt ist – die Rede ist von Tschetschenien.
 

 

Dort kulminiert das Schicksal mehrerer Menschen. Da ist zum Einen Achmed, der die kleine Hawah vor Soldaten rettet. Diese versteckt sich, als das Militär das Haus ihres Vaters überfällt und vernichtet. Achmed kann sie retten und macht sich zusammen mit ihr auf den Weg Richtung Grosny. In einem Hospital kommt er unter und findet bei der Ärztin Sonja Asyl. Dieser kommt es zupass, dass Achmed auch ein studierter Arzt ist, allerdings ein wirklich schlechter, dessen Talent eher beim Porträtieren von Menschen mit dem Zeichenstift liegt. Während die Versehrten im Hospital versorgt werden, droht im Dorf von Hawah und Ahmed ein Verräter alle in ein noch größeres Unglück zu stürzen.
 
Anthony Marra hat ein Figurenensemble entworfen, dessen Abhängigkeiten erst langsam im Lauf des Romans auffächern. Alle Charaktere bleiben glaubhaft und werden vom Autoren mit Tiefe und Widersprüchlichkeit versehen. Hilfreich bei der Geschichte auch die Zeitleiste, die immer wieder zu Beginn der Kapitel markiert, in welchem Zeitraum sich die Geschichte gerade befindet. Immer mehr wird offenbar, wie dicht das Netz zwischen den Figuren ist und welche Geheimnisse sie verbindet. Dies ist meisterhaft erzählt und ließ mich an einigen Stellen staunend innehalten.
 
Auch wenn ich nun Die niedrigen Himmel erneut lesen würde (was ich sicher auch tun werde) – es wird sich immer Neues in diesen Seiten entdecken lassen, kleine Details, Querverbindungen, Motive. Wie eine sorgsam komponierte Fuge eröffnen sich bei der erneuten Lektüre Details, die beim schnellen Lesen so erst gar nicht auffallen.
Neben aller schriftstellerischen Raffinesse vergisst Marra bei seiner Lektüre auch das Herz nicht und zeigt, wie Mitmenschlichkeit und Erbarmen auch unter schwierigsten Bedingungen von Menschen aufrecht erhalten werden. Sein Buch ist ein Fanal wider die Gleichgültigkeit und spendet Hoffnung bei aller Tristesse, die einem beim Anblick der Lage Tschetscheniens überkommen könnte.
 
Wenn man mich nun nach der Lektüre von Die niedrigen Himmel fragen würde, welches mein Lieblingsbuch ist – ich wäre geneigt die Frage genau mit diesem Titel zu beantworten. Ein Buch, das zum Wieder-Lesen einlädt und das einfach ein Genuss ist.
 
 
Ein besonderes Augenmerk verdient auch die Sonderseite, die sich der Suhrkamp-Verlag zum Buch Anthony Marras ausgedacht hat.
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Mechtild Borrmann: Der Geiger

Verbrechen der Vergangenheit

Es ist eine der wohl düstersten Epochen der jüngeren Vergangenheit, in die Mechthild Borrmann die Leser ihres neuen Romans Der Geiger entführt. Im Mittelpunkt des Buches steht nämlich die unmenschliche Diktatur der Sowjetunion unter Stalin in den Jahren ab 1948.
Generell hat Mechthild Borrmann offensichtlich ein Faible für die düsteren Kapitel der Geschichtsschreibung, behandelte nicht zuletzt Wer das Schweigen bricht die Zeit der Naziherrschaft in Deutschland. Für diesen Roman heimste sie den Deutschen Krimipreis in der Kategorie National ein und durfte folglich nun ihr neues Buch auch als gebundenes Hardcover bei Droemer veröffentlichen.
Auf genau 300 Seiten erzählt Borrmann aus drei Perspektiven die Geschehnisse, die im Mai 1948 dazu führten, dass der begnadete und bejubelte Geiger Ilja Grenko seine kostbare Stradivari, seine Familie und seine Freiheit verlor. Sein Enkel Sascha wird im Köln des Jahres 2008 plötzlich mit den damaligen Geschehnissen konfrontiert, als er auf brisante Dokumente stößt, die das Verschwinden seines Großvaters erklären.
„Der Geiger“ verlangt dem Leser einiges an Aufmerksamkeit ab: 300 Seiten, 36 Kapitel, drei verschiedene Protagonisten und jede Menge russischer Namen und Ausdrücke. Dankenswerterweise ist am Ende des Buches ein Personenverzeichnis und ein Glossar der im Roman gebrauchten Begriffe angefügt, damit man sich schnell noch einmal einen Überblick verschaffen kann. Borrmann springt nämlich munter in den Zeiten und Perspektiven umher und ich hatte an manchen Stellen Mühe, die Beziehungen und Geschehnisse miteinander zu verknüpfen.
Dass die Autorin schreiben kann, steht außer Frage. Allerdings muss ich bemerken, dass mich der in der Gegenwart spielende Handlungsstrang von den drei Perspektiven am wenigsten überzeugen konnte.
Dagegen gelingt es der Krimipreisträgerin in den Episoden, die in der Sowjetunion spielen, hervorragend, den Leser mitleiden- und bangen zu lassen. Ähnlich wie in den Romanen von Tom Rob Smith zeigt sie plastisch die Terrorherrschaft des Stalinregimes auf, bei dem sich jeder Unschuldige von einem Tag auf den anderen in Gefangenschaft oder Verbannung wiederfinden konnte.
Mit kleinen Abstrichen eine wirklich fesselnde Lektüre und eine spannende Familiensaga, der es auf wenigen Seiten gelingt, wofür andere Autoren deutlich mehr Seiten benötigen: In ein fernes Land entführen, Atmosphäre und Spannung zu erzeugen und den Leser nachdenklich zu stimmen!

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