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Arno Frank – Seemann vom Siebener

Ein Tag im Freibad, der zum Brennglas aufs Leben wird. Arno Frank inszeniert in Seemann vom Siebener das Freibad als Wimmelbild und erzählt von Träumen, Tod und dem Wagnis, sich vom Sprungbrett in die Tiefe zu stürzen. Großartige Lektüre, nicht nur für den Sommer!


„Ich will den Seemann nicht vom Einer machen.“

„Sondern?“

Wortlos mache ich mit dem Daumen eine Aufwärtsbewegung.

„Vom Dreier? Respekt!“

Ich schüttele den Kopf: „Nicht vom Brett…“

„Vom Fünfer?“ Er packt mich an der Schulter und dreht meinen Oberkörper, sodass er mir direkt ins Gesicht sehen kann: „Bist du irre?“

Ich schüttele den Kopf, versuche ein Lächeln und schiebe sanft seine Hand von meiner Schulter: „Ich mache einen Seemann vom Siebener“.

Arno Frank – Seemann vom Siebener, S. 126

Es ist geradezu ein prototypisches Schwimmbad, welches Arno Frank in seinem Roman Seemann vom Siebener skizziert und das Erinnerungen an die eigene Kindheit weckt: Eine Liegewiese, Betonplatten, eine alte Linde, die Schatten spendet. Der Schwimmbad-Kiosk, ein Feld mit überlebensgroßen Schachfiguren, eine rote Pilzdusche im Kinderschwimmbereich – und vor allem ein echter Zehn-Meter-Sprungturm.

Das Freibad als Bühne des Lebens

Arno Frank - Seemann vom Siebener

So sieht es aus, das irgendwo in der Pfalz gelegene Freibad, das bei Arno Frank zur Bühne für die größeren und kleineren Dramen des Lebens wird. Wir schreiben Freitagmorgen bei bestem Wetter, es ist der letzte Freitag in den Sommerferien. Dem Freibad steht also ein Besucheransturm bevor, doch hiervon merken die Kassiererin Renate und Bademeister Kiontke, eine Art Faktotum des Bads, früh am Morgen noch wenig. Die Wassertemperatur wird per Kreide auf die Tafel aufgebracht, das Morgenmoderationsteam im Radio treibt seine Scherze – die meisten Gäste sind aber noch zuhause, wovon Arno Frank durch die multiperspektivische Erzählweise seines Romans berichtet.

Erst allmählich finden sie sich im Bad ein. Die schon demente ehemalige Lehrerin und zugleich Gattin des Schwimmbad-Erbauers, die Ich-Erzählerin, die der Plan eines Seemannsköpfer vom 7-Meter-Brett umtreibt. Josefine, der es nach Meinung einiger Badbesucher*innen besser zu Gesicht stehen würde, sich bei den Vorbereitungen der Trauerfeier denn beim Schwimmen im Bad zu betätigen.

Da ist Lennart, der nach Jahrzehnten der Absenz wieder in sein Heimatdorf zurückkehrt und im Freibad auf viele Jugenderinnerungen trifft. Die Kindergartengruppe mit ihrer Kindergärtnerin, der Kioskbetreiber und viele mehr. Wimmelbildgleich ergeben diese von jung bis alt reichenden Figuren an diesem Freitag einen Chor, der in verschiedenen Tonlagen und Stimmungen erzählt.

Leben und Tod, Sonne und Schatten

Da sind nicht ergriffene Chancen für die Liebe, da ist das Vergessen und zugleich Erinnerungen an die zurückliegende Partnerschaft, da sind Vorbehalte gegenüber Geflüchteten, da sind Bienenstiche und da ist Aufbruch. Bittersüß ist sie, diese Hommage an das Treiben im Freibad, die uns Arno Frank präsentiert.

Zwar strahlt die Sonne und das kühle Wasser verheißt Lebenslust, genauso sind aber auch die Schatten in Form von Tod, Suizid und Endlichkeit in diesem namenlosen Freibad präsent. Das ist großartig gemacht und in seiner Vielstimmigkeit ein Buch, das über eine platte Wie-schön-war-das-damals-im-Freibad-Verklärung weit hinausgeht, obwohl es sich natürlich für eine Lektüre im Bad empfiehlt. Aber über so kurze saisonale Dutzendware hinaus besitzt Seemann vom Siebener eben große Qualitäten, auch im literarischen Sinn.

Konnte mich Arno Frank mit seinem Debüt So, und jetzt kommst du, der Aufarbeitung seiner eigenen Biographie als Sohn eines Hochstaplers literarisch nicht wirklich überzeugen, muss ich doch feststellen, dass er sein erzählerisches Instrumentarium im Vergleich zu seinem Erstling deutlich geschärft hat. Souverän spielt er mit Motiven und Weiterführungen von Erzählfäden, bietet sein chorisch erzählter Episodenroman immer wieder kleine Aha-Momente, wenn zuvor Angeklungenes weitergeführt wird, wenn Menschen und Schicksale plötzlich ein Bild ergeben und selbst vermeintlich kleine Dinge auf Großes rückschließen lassen.

Ein Brennglas aufs Leben

Seine indirekten Porträts der Menschen, die Charakterisierung des Freibads als Brennglas der Gesellschaft, die genaue Schilderung aller Figuren im ganzen möglichen Altersspektrum, die Spannung ob des riskanten Sprungversuchs, die sich immer weiter steigert – und das alles innerhalb eines einzigen Tags inszeniert. Das wusste mir ausnehmend gut zu gefallen. Mal besitzt Seemann vom Siebener einen Hauch von „Tatsächlich… Liebe“, dann erinnert Franks Erzählung wieder an andere multiperspektivische Erzählprojekte wie etwa Robert Seethalers Das Feld.

Es ist ein Roman, aus dem man endlich lernt, dass es sich beim Sprungturm fälschlicherweise von einem Siebenmeter-Brett spricht, handelt es sich eigentlich einen 7,5-Meter hohes Brett. Zudem funktioniert das Buch aufgrund des detailliert beschriebenen Freibads wie eine Zeitkapsel, die eigene Erinnerungen an sonnendurchglühte Nachmittag mit Schwimmbad-Pommes, Slush-Eis und dem Hinfiebern auf die Freigabe des Sprungturms durch den Bademeister weckt.

Fazit

Seemann vom Siebener ist ein Roman für den Sommer – aber auch für weit darüber hinaus. Literarisch ambitioniert, groß in Sachen Emotionen und Kindheitserinnerung. So muss sie aussehen, die perfekte Freibadlektüre!


  • Arno Frank – Seemann vom Siebener
  • ISBN: 978-3-608-50180-3 (Tropen)
  • 240 Seiten. Preis: 24,00 €
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Agnes Krup – Leo und Dora

Das ist nun wirkliches Pech. Nach einer langen Überfahrt aus Tel Aviv nach New York möchte Leopold Perlstein eigentlich bei seiner bei seiner Agentin Alma und deren Mann absteigen. Doch ein Feuer hat deren Haus und Auto vernichtet. Beide sind abgereist und haben ihm stattdessen eine Unterkunft im Roxy organisiert. Das im Bundestaat New York an der Grenze zu Connecticut gelegene Hotel hat schon bessere Tage gesehen. Die Hotelbesitzerin Dora und der unter Schreibblockaden leidende Perlstein gewöhnen sich langsam aneinander und entdecken dort in Neuengland Gemeinsamkeiten. Leo und Dora von Agnes Krup.


Man muss unweigerlich an zwei der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts denken, wenn Agnes Krup auf den ersten Seiten ihren Protagonisten Leopold Perlstein einführt. Ein schreibender Versicherungsangestellter, der nach seiner Flucht aus Wien in Tel Aviv eine Anstellung gefunden hat. Ein Mann, der bei seiner Überfahrt in ein neues Leben im Jahr 1948 von einem Schachbrett und seiner Leidenschaft für das Spiel der Könige begleitet wird. Und ein Mensch, der im Exil wieder schriftstellerische Erfüllung sucht und auf Drängen seines Verlegers ein neues Werk vorlegen soll, um sich endgültig von seiner Herkunft und seinem Brotberuf freimachen zu können. Das sind die Nöte und biographischen Hintergründe, mit denen Krup ihren Helden versieht und die mich an Franz Kafka und Stefan Zweigs Schachnovelle erinnerten – wenngleich, so viel so schon verraten, Agnes Krup literarisch nicht in deren Nähe kommt.

Ein Hotel mit eigenen Regeln

Agnes Krup - Leo und Dora (Cover)

Das heruntergekommene Hotel Roxy fordert den frisch angekommenen und auf Konstanz bedachten Perlstein nun ganz gehörig heraus. So stehen die Tische mal zusammen, mal am Wochenende allein, das Essen, von einer aus Plochingen stammenden Schwäbin zubereitet, ist nahezu ungenießbar. Und vom Esprit der gehobenen europäischen Boheme ist die Hotelgemeinschaft so weit entfernt wie New York von Tel Aviv.

Nur das Ehepaar Geringer mit der jungen Asha und ihrem deutlich älteren Professoren-Gatten, dessen Passion inzwischen der Klematiszucht gilt, verheißt Perlstein Ansprache und intellektuellen Austausch. Allmählich lernt er die Hintergrundgeschichte des Hotels, die seiner Besitzerin und die der Geringers kennen. Er fährt Automobil, geht baden und versucht sich sogar einer Geisteraustreibung, da es im Hotel immer wieder spukt.

Eine nette Geschichte

Agnes Krup hat mit Leo und Dora eine nette und unterhaltsame Geschichte geschrieben. Sie erzählt von der langsamen Annäherung der unterschiedlichen Figuren Leopold und Bernstein, sie lässt ein Exilantenschicksal aufscheinen, reißt die Geschehnisse in Wien an, die Leo zur Flucht gezwungen haben. Auch als Sommerbuch oder Hotelroman lässt sich Krups Roman lesen. Und doch vermisste ich das gewisse Etwas an der Erzählung, das mir Leo und Dora über das Buchende hinaus im Kopf verankert.

Krups Sprache passt, die formale Gestaltung ist durch die chronologische Einteilung in Tage gediegen, die innere Struktur ist durch die Annäherung von Leo und Dora vorgegeben und wird gut befolgt. Dagegen lässt sich wirklich nicht viel einwenden – und doch hätte ich mir etwas mehr gewünscht, damit dieses Buch aus dem guten Mittelmaß herausragt. Besondere Figuren mit Ecken und Kanten, eine Sprache, die sich nicht nur mit der Auskleidung der Erzählung begnügt, ein überraschendes Ende oder etwas anderes Unerwartetes.

Fazit

Aber das Unerwartete blieb leider aus, sodass ich nicht davon ausgehe, die Leo und Dora lange über die Lektüre hinaus im Kopf zu behalten. Das mag vielleicht ungerecht erscheinen, macht das Buch doch nichts falsch und ist als Roman wirklich nicht schlecht. Nur das Besondere, das Bedenkenswerte, ich habe es hier leider nicht gefunden. Und so bleibe ich immer noch ins Sachen Hotelroman bei James Gordon Farrells Troubles, in Sachen Exilantenschicksal bei Ulrike Draesners Schwitters oder bei Ulrich Becher mit seiner Murmeljagd, die sich für mich intensiver im Lesegedächtnis verankerten, als das, was Leo und Dora bietet. Gewiss, es ist kein schlechtes Buch, aber es hält eben auch nur das bereit, was Cover und der Titel schon andeuten und versprechen. Wem das genügt, der dürfte zufrieden sein. Ich hätte mir mehr gewünscht.


  • Agnes Krup – Leo und Dora
  • ISBN 978-3-351-03899-1 (Aufbau)
  • 285 Seiten. Preis: 22,00 €
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Miranda Cowley Heller – Der Papierpalast

Die Stufe biegt sich seufzend unter meinem Schritt, und mit einem leichten Ächzen, das ich Tausende von Malen gehört habe, springt sie zurück. Diesen Ort mit seinem Tuscheln und Wispern trage ich in meinen Knochen. Das sanfte Rascheln der Kiefernadeln unter meinen bloßen Füßen, die Schwimmbewegung der Karpfenfische, den würzigen Geruch von nassem Sand und Seewasser. Dieses Haus, aus Papier gebaut, aus geschredderter und gepresster Pappe, ist zu etwas Festem geworden, das der Zeit, den langen, einsamen Wintern standhält. Es droht zu verfallen und bleibt doch stehen, steht noch, Jahr um Jahr, wann immer wir zu ihm zurückkehren. Dieses Haus, dieser Ort, all meine Geheimnisse sind hier. Ich bin in seinem Gebälk.

Miranda Cowley Heller – Der Papierpalast, S. 440

Gerne wird bei Büchern heutzutage ja der Vergleich mit Fernsehserien herangezogen, wenn die Soghaftigkeit des Geschriebenen unterstrichen werden soll. Die Kurzbiografie von Miranda Cowley Heller führt diese Engführung von Fernsehserie/Buch fort, wenn schon in den ersten Absätzen betont wird, wie viele Erfolgsformate Cowley Heller beim Fernsehsender HBO verantwortet hat. The Sopranos, Six Feet Under, The Wire sind preisgekrönte Serien, für die sich die Autorin kenntlich zeichnete.

Doch ist eine gute Serienmacherin auch eine gute Autorin? Im Fall von Miranda Cowley Heller ist diese Frage einigermaßen einfach und klar zu beantworten, nämlich ja! Denn mit Der Papierpalast gelingt der Autorin ein großartiger, intensiver, bisweilen erschütternder Roman über Liebe, Treue und die Frage, wie viel Geheimnisse man einer Beziehung zumuten kann.


Dabei beginnt alles an einem frühen Morgen im Papierpalast irgendwo an der Küste von Neu-England. Das so getaufte Feriendomizil ist Flucht- und Ankerpunkt der Familie von Eleanor. Ihre Mutter verbringt die Sommer dort, genauso wie ihre Tochter mitsamt deren Familie. Grillabende, Schwimmen und viel Lektüre geben dort in den Wäldern nahe der Atlantikküste den schläfrigen Sommertakt vor, dem sich alle gerne anpassen und ergeben.

Ein verhängnisvoller Fehltritt

Miranda Cowley Heller - Der Papierpalast (Cover)

Eleanor beschließt in der Früh eine Runde schwimmen zu gehen. Eine Feier am gestrigen Abend ist ausgeartet, die Kinder und ihr Mann liegen noch in ihren Betten, aber Eleanor findet keinen Schlaf mehr. Die Erinnerung an einen Fehltritt am gestrigen Abend treibt sie um. Ihr alter Jugendfreund Jonas und dessen Frau haben Eleanors Familie in deren Sommerdomizil besucht und gemeinsam hat man einen anregenden Abend mit Diskussionen, Alkohol und Erinnerungen verbracht. Im Laufe des Abends hat Eleanor heimlich mit Jonas geschlafen. Doch was eigentlich Schuldgefühle in ihr auslösen müsste, löst doch nur Verwirrung und Sehnsucht nach mehr aus.

Während nun Cowley Heller in kurzen Episoden in die Biographie Eleanors einsteigt, wird diese in der Gegenwart von Gewissensbissen und Fragen gequält. Wie wird sie Jonas und dessen Frau begegnen, umgeben von der eigenen Familie? Wie umgehen mit dem Fehltritt des gestrigen Abends – und war es überhaupt ein Fehltritt?

Interessant montiert und erzählt

Langsam ergründet Miranda Cowey Heller in den folgenden Abschnitten des Buchs die Geschichte Eleanors, ihre Beziehung zu Jonas (die von einem erschütternden Geheimnis geprägt ist) und die zu ihrem Mann Peter, den sie in England kennengelernt und anschließend geheiratet hat.

Das ist gut erzählt und überzeugt in der etwas verschachtelten Erzählweise des Buchs. Zudem vermag es Miranda Cowey Heller, ungemein bildstark und direkt zu erzählen, was schon auf der ersten Seite des Buchs mit einem Stilleben der gestrigen Festtafel beginnt und sich in die Schilderung der Natur Neuenglands mit ihren unergründlichen Toteisseen und den tiefenscharfen Figuren selbst fortsetzt (übersetzt durch Susanne Höbel)

Das plausible und vielgestaltige Bild einer Frau

Der Amerikanerin gelingt es, das plausible und vielgestaltige Bild einer Frau zu zeichnen, die zwischen der Vergangenheit und Gegenwart, zwei unterschiedlichen Männern und damit zwischen der Sicherheit und Vertrautheit ihrer Familie und der aufregenden Liebe ihres Lebens steht.

Dabei ist Der Papierpalast deutlich mehr als nur ein Sommerbuch oder die Geschichte einer Frau zwischen zwei Männern. Denn das Buch erzählt von verdrängten Lügen aus der Vergangenheit und der Frage, wie viel Wahrheit und Ehrlichkeit man seiner Ehe zumuten kann. Cowley Heller erkundet den Grenzbereich zwischen dem Wunsch nach Sicherheit und dem Wunsch nach Aufregung und Neuem. Was ist einem ein Aufbruch wert und was ist man bereit, dafür zurückzulassen? Für das Buch spricht auch, dass uns Cowley Heller diese Frage mit ihrem offenen Ende selbst überantwortet und sich so einer eindeutigen Antwort entzieht.

Fazit

Der Papierpalast ist ein Sommerbuch, das eine Frau vor einer richtungsweisenden Entscheidung ihres Lebens zeigt. Das Buch erzählt auch von sommerlichen Irrungen und Wirrungen, ist ein Familienroman – aber dabei ebenso überraschend wie das verborgene Leben in den Toteisseen an der Küste Neuenglands.

Denn das Buch ist eben auch brutal, erzählt von Übergriffen, tödlichen Entscheidungen und der Frage, wer der richtige Partner im Leben ist. Ein tiefgründiges Buch, interessant montiert und mitreißend erzählt.

Ist auch eine Vita im Serienumfeld nicht automatisch der Garant für gute Unterhaltung, gelingt es Miranda Cowley Heller, mit ihrem Buch ebenso gut und kurzweilig zu erzählen und dabei überzeugendes Kopfkino zu erschaffen. Eine große Überraschung, die ich so nicht auf dem Schirm hatte und deren Lektüre mich sehr überzeugt hat.


  • Miranda Cowley Heller – Der Papierpalast
  • Aus dem Englischen von Susanne Höbel
  • ISBN 978-3550-20137-0 (Ullstein)
  • 444 Seiten. Preis: 23,00 €
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Una Mannion – Licht zwischen den Bäumen

Noch einmal Coming of Age, noch einmal Rückschau auf die eigene Kindheit und einen entscheidenden Sommer, der alles veränderte. Und auch wenn ich gerade an völliger Übersättigung dieser Art von Romanen leide (siehe hier, hier, hier, hier oder hier) – Licht zwischen den Bäumen ist doch ein prima Roman in High-End-Ausfertigung. Bibliophil gestaltet in der kundigen Übersetzung von Tanja Handels entführt Una Mannions Buch in die Wälder Pennsylvanias in einem Sommer in den 80er Jahren.

Die Ich-Erzählerin Libby Gallagher nimmt uns mit auf den Valley Forge Mountain, auf dem sie zusammen mit ihren vier Geschwistern und ihrer Mutter ein abseits gelegenes Haus bewohnt. Der dicht bewaldete Berg ist bekannt für das Lager, das George Washington damals dort während des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs aufschlagen ließ, um den Winter zu überstehen. Fast 2500 Soldaten fanden dort den Tod, verhungerten und erfroren. Nicht weit von diesem historischen Ort entfernt liegt das Haus der Familie, dessen umgebender Wald für Libby eine ideale Spielwiese darstellt.

Eine Familie unter Druck

Una Mannion - Licht zwischen den Bäumen (Cover)

Für das junge Mädchen bedeutet der Wald Rückzug und Entspannung von der Familie. Denn Libbys Familie gleicht oftmals einem unter Druck stehenden Kessel. Alle Geschwister sind höchst unterschiedlich, die Mutter verheimlicht ihren neuen Freund vor der Familie und man streitet und debattiert, bis die Fetzen fliegen. In einer solchen angespannten Lage lernen wir auch die Gallaghers zu Beginn des Buchs kennen, als ein Streit im Auto auf der Rückfahrt nach Hause eskaliert. Libbys Mutter setzt daraufhin Ellen am Straßenrand aus, damit diese zu Fuß nach Hause läuft.

Diese Entscheidung ist der Auslöser aller weiteren Ereignisse im Roman. Denn auf dem langen Weg nach Hause will Ellen per Anhalter etwas erträglicher machen und steigt zu einem Mann ins Auto, dem sie später nur mit Mühe und Not entkommen kann. Die Zeiten sind eh beängstigend für Libby und ihre Geschwister, die Morde von Charles Manson und seiner Gruppe liegen gerade einmal ein paar Jahre zurück, der Vietnamkrieg ebenfalls, das Massaker in Amityville ist auch in den 80er Jahren noch sehr präsent und befeuern die kindliche Fantasie. Als nun auch noch Ellen von dem gruseligen Mann erzählt, in dessen Auto sie sich wiedergefunden hat und in dem sie sexuell belästigt wurde, sitzt der Schock vor allem bei Libby tief.

Coming of Age und Familienporträt

Der Bericht von Ellen setzt Entwicklungen in Gang, die sich nicht mehr so leicht einfangen lassen. In jenem Sommer zwischen Lagerfeuer-Parties, Einbruch ins Schwimmbad und erster Liebe entspinnen sich gefährliche Dynamiken, die für Ellen und ihre Geschwister handfeste Gefahr bedeuten.

Licht zwischen den Bäumen ist ein klassischer Coming-of-Age Roman, das Porträt eines Mädchens, das nach einer Richtung im Leben sucht und der Blick in das turbulente Innere einer Familie.

Aus den klassischen Genre-Zutaten (ein junges Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, ein entscheidender Sommer, der Einbruch von Gefahr und Verderben in die vormals heile Welt) vermengt Una Mannion mit einem genauen Porträt der Familie Gallagher, die seit dem Tod des aus Irland stammenden Vaters zunehmend auseinanderdriftet. Sie erzählt bildreich vom Leben der Familie am Berg dort im County Schuylkill, das sich eher am unteren sozialen Rand abspielt.

Auch wenn man die Familie nicht unbedingt als sozial randständig bezeichnen kann – Armut und Vernachlässigung haben sie trotzdem erfahren. Das Gras wird nicht geschnitten, das Haus nicht mehr gepflegt, die Mutter schleicht sich zu ihrem Liebhaber davon, Libby muss mit Babysitten das Einkommen aufbessern. Alles Anzeichen dafür, dass auch diese Familie unablässig auseinandertreibt, ehe sie die Ereignisse um Ellens Anhaltererlebnis schlussendlich wieder zusammenführen.

Fazit

Irgendwo zwischen den popkulturellen Phänomenen „Stand by me“ oder „Stranger Things“ angesiedelt erzählt Una Mannion eine spannende Geschichte aus dem amerikanischen Hinterland und zeigt eine Familie im Auflösungszustand. Ein unterhaltsames Buch, das einen Sommer in den 80er Jahren dort in Pennsylvania noch einmal zurückholt.

Mehr Meinungen zu Licht zwischen den Bäumen gibt es bei Zeichen&Zeiten und im Blog der Buchhandlung Die Insel.


  • Una Mannion – Licht zwischen den Bäumen
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-95829-973-3
  • 344 Seiten. Preis: 24,00 Euro
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Benjamin Myers – Der perfekte Kreis

Es war einer der großen Überraschungshits des vergangenen Jahres: aus dem Nichts gelang dem Briten Benjamin Myers mit Offene See ein durchschlagender Erfolg, der das Buch bis in die Top10 der Bestsellerlisten katapultierte. Ein Buch, das in der Tradition der Romantik stand, in der die Natur das Seelenleben des Protagonisten abbildete und das von Entgrenzung und der Sehnsucht nach Individualität erzählte. Ein Buch, das einen Nerv traf und sogar zum Lieblingsbuch des Unabhängigen Buchhandels 2020 gewählt wurde.

Nachdem auch ich dem Buch viel abgewinnen konnte, herrschte bei mir große Vorfreude, als ich die Ankündigung für Benjamin Myers neues Buch entdeckte. Ebenso schön gestaltet wie der erste Roman des Briten kommt nun auch Der perfekte Kreis daher. Darin erzählt Myers die Geschichte zweier gegensätzlicher Freunde und ihrer großen Mission: den perfekten Kornkreis anzulegen.


Benjamin Myers - Der perfekte Kreis (Cover)

Redbone und Calvert sind gegensätzliche Freunde. Der eine Kriegsveteran mit vielen Erlebnissen, über die er sich ausschweigt. Der andere ein Hippie mit einer Schwäche für halluzinogene Drogen, der Cider schätzt und die Polizei verachtet. Sie beide verbindet die Leidenschaft für Kornkreise beziehungsweise eher Korngemälde. Nachts ziehen die beiden los, um im ganzen Landstrich ihre Kreationen in die Felder zu walzen. Planvoll drücken sie im Schutz der Nacht die Ähren nieder und erschaffen so ausgefeilte Kunstwerke. Was zunächst als spleeniges Hobby beginnt, beschert den beiden Freunden schon bald viel Aufmerksamkeit. Im Laufe des Sommers werden die beiden zu einer Art Banksy der Kornkreise.

Wie schon im ersten Roman von Benjamin Myers spielt auch hier die Natur wieder eine entscheidende Rolle. Auch hier verheißt sie den beiden Männern Erlösung und Freiheit. Während Calvert in einem Häuschen lebt, in dem man nicht einmal wirklich aufrecht stehen kann, ist es bei Redbone ein zugemüllter Bus, in dem sich der Hauptteil seines Lebens abspielt. Während der Nacht ist dann allerdings alles anders, wenn sie sich die Natur untertan machen, Eindrucksvoll fängt Myers die Vielfalt der Gerüche, Farben und Reize der Nacht ein. Was dem Briten hier wie schon bei seinem Debüt wieder großartig gelingt, wird dann aber auch leider zum großen Problem dieses Buchs. Denn irgendwann ist die Nacht dann auch auserzählt und die großzügig verwendeten Metaphern werden schal und in ihrer Fülle manchmal unfreiwillig komisch:

Wenn ihn schließlich die Müdigkeit überkommt, drückt er sich zwei Kissen auf die Ohren. Wenn er dann schläft, bohren sich leicht zu vergessende Träume wie Rüsselkäfer durch seinen Schlaf in das faulige Holz seines ruhenden Unterbewusstseins. Es sind unsinnige Geschichten, die sich in ruckartigen Bewegungen abspulen wie die Laterna-magica-Vorführungen von früher.

Benjamin Myers – Der perfekte Kreis, S. 165 f.

Immer gleiche Abläufe und Abenteuer

Der Plot leidet unter einem Schablonenhaftigkeit, die jedem nächtlichen Kornkreis-Abenteuer zugrunde liegt. Jedes Mal fahren die beiden mit ihrem Bus los, stellen ihn vom Einsatzort entfernt ab und machen sich an die Arbeit. Dabei gibt es dann zwei Möglichkeiten, wie das Szenario weitergeht. Szenario Eins: Alles klappt, die beiden Freunde konversieren im Kornkreis, schmausen und machen sich nach getaner Arbeit wieder auf den Heimweg. Oder alles mündet in Szenario Zwei: Calvert und Redbone erleben eine Gefahr, die aber immer wieder gleich abläuft. Egal ob sie einem Bullen, einem versoffenen Adeligen oder einer greisen Dame im Korn begegnen – die Begegnungen lösen sich in Wohlgefallen auf, alle gehen ihrer Wege und in den nächsten Tagen berichtet die Zeitung über das neue Kornkreismuster. Damit hat es sich und alles beginnt mit der nächsten Nacht wieder von vorne.

Das macht zunächst noch Freude, irgendwann erschöpft sich aber alles in der Schablonenhaftigkeit der Abenteuer. Eine Entwicklung ist nicht bemerkbar. Und auch wenn das finale Abenteuer ganz leicht vom übrigen Schema abweicht – insgesamt gesehen ist mir das doch alles zu monoton gestrickt.

Hätte Myers nur ein wenig mehr von der Energie, die er in seine Fülle von Metaphern gesteckt hat, für einen abwechslungsreicheren Plot aufgewendet, hätte das dem Buch in meinen Augen gutgetan.

Fazit

So bleibt Der perfekte Kreis qualitativ leider hinter Benjamin Myers Erstling Offene See zurück. Die Schilderung der Natur beherrscht der Brite zweifelsohne. Leider ist der Rest des Buchs zu statisch und entwicklungsfrei, als dass man den Charakteren in diesem Sommer nahekommt und Bindung zu ihnen entwickeln kann. Gewiss kein schlechtes Buch, aber Benjamin Myers kann eben auch deutlich mehr.


  • Benjamin Myers – Der perfekte Kreis
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN 978-3-8321-8158-1 (Dumont)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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