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Castle Freeman – Ein Mann mit vielen Talenten

Was würden Sie sich wünschen, hätten Sie die berühmten drei Wünsche frei? Taft, der eigenwillige Held von Castle Freemans Roman Ein Mann mit vielen Talenten hat da gleich als erstes einen ebenso konkreten wie unkonventionellen Wunsch: vier neue Radkappen für seinen Pick-Up sollen es sein. Doch wer sich einmal mit dem Teufel einlässt, der wird ihn nur schwer wieder los – selbst wenn man im Hinterland von Vermont wohnt.

Faust in den Wäldern Vermonts

Dabei beginnt in Castle Freemans Erzählung aus dem Jahr 2015 alles schon sehr rätselhaft. Ein Mann namens Dangerfield wird in seinem Auto von einer jungen Polizistin angehalten. Es entwickelt sich ein Rededuell – doch als die Polizistin die Daten des Mannes überprüfen will, ist dieser spurlos verschwunden.

Dafür taucht er daraufhin bei Taft auf. Dieser ist ein Eigenbrötler reinsten Wassers. Abgeschieden lebt er in einem Tal von Vermont, wo er mit Vorlieben mit seinen wenigen Freunden palavert und die Tage gerne im Schaukelstuhl verbringt.

Doch mit der Ruhe im Tal ist es nicht weit her, als Dangerfield als Teufel im Tal (so der Originaltitel des Buchs) auftaucht. Dieser macht ihm ein verlockendes Angebot, das Taft nicht ablehnen kann. Sechs Monate sollen alle Wünsche und Anliegen des Mannes erfüllt werden, danach gehört seine Seele Dangerfields Boss, dem Chief – dem CEO – wie er sich auszudrücken pflegt. Auf Drängen von Taft werden aus den sechs Monaten sieben – mit Stichdatum 12. Oktober, dem Columbus Day.

Seine neugewonnene Macht setzt Taft nun ein, um Schulden zu tilgen und unheilbare Krankheiten von Kindern zu kurieren. Er entwickelt sich zum titelgebenden Mann mit vielen Talenten, was auch Tafts Freunden nicht verborgen bleibt. Und auch Calpurnia, einer hochbetagten aber geistig regen Dame im lokalen Altenheim entgehen Tafts neue Talente keineswegs. Sie wird sich auf besondere Weise für den Eigenbrötler einsetzen.

Eine neue Bearbeitung des Faust-Mythos

Castle Freeman - Ein Mann mit vielen Talenten (Cover)

Im Kern ist Ein Mann mit vielen Talenten eine weitere Bearbeitung des alten Faust-Mythos, die Castle Freeman hier präsentiert. Der Mann, der dem Teufel seine Seele verkauft, um sich Unmögliches doch noch zu erfüllen, dieses Motiv reicht von der bayerischen Version des Boandlkramers und des Brandner Kaspar (Franz von Kobell) bis hin zu Goethe und Christopher Marlowe. Dass ein Zitat aus dessen Faust-Dichtung von 1604 den Auftakt des Buchs bildet, das erscheint nur logisch, so konsequent wandelt Freeman auf diesen Spuren.

Schon seine Krimis rund um den Sheriff Lucian Wing (hier zuletzt Herren der Lage) zeigen einen Autor, der das Skurrile schätzt und dessen Thriller zwischen Komik, Ernst und viel Lokalkolorit aus dem Vermonter Hinterland oszillieren. Dadurch erschrieb sich Freeman eine wachsende Fangemeinde, die sich schließlich auch im Wechsel vom kleineren Nagel & Kimche-Verlag hin zum renommierten Hanser-Verlag manifestierte.

Komik und pointierte Dialoge

Diese Mischung aus Ernst und Komik, versehen mit trockenen und pointierten Dialogen, sie zeigt sich auch in Ein Mann mit vielen Talenten. Hier gelingt es Freeman, den eigentlich recht grotesken und abenteuerlichen Plot um den Seelenhandel von Taft und Dangerfield stringent im Hinterland von Vermont zu inszenieren.

Großartig die Zwiegespräche von Taft und Dangerfield, der ganz als Mephistopheles’scher Geist für andere unsichtbar Taft Dinge eingibt und zuflüstert. Wie Taft diesen dritten Part in Gesprächen mit anderen kaum kaschieren kann, das fasst Castle Freeman gekonnt in Worte, von denen er gar nicht viele braucht, um die Charaktere zu setzen (typisch auch für Freeman die Kürze seiner Geschichten. Diese hier umfasst nur 184 Seiten).

Egal ob die greise aber hellwache Calpurnia im Altersheim, Taft im Gespräch mit dem Geist, der stets verneint, oder die kurzen Szenen mit der jungen Polizeioffizierin. Castle Freeman gelingt eine gewitzte, kurzweilige und besonders in den Dialogen pointierte Neudeutung des alten Fauststoffs.

Fazit

Das passt zur aktuell grassierenden Debatte rund um die Abschaffung des Goethe’schen Faust, der in Bayern nun als verpflichtende Schullektüre von den Lehrplänen gestrichen wurde. Mit Castle Freeman hält man eine neue und moderne Interpretation des Stoffs in den Händen, die zwar auf gar keinen Fall Goethes Epos ersetzen kann, will oder sollte – aber eine gelungene Hinführung auf den Klassiker darstellen kann. Insofern eine Empfehlung auch für diejenigen, die mit Thrillern und Krimierzählungen wenig anfangen können und die hier Castle Freeman außerhalb seines üblichen Schaffens kennenlernen können.


  • Castle Freeman – Ein Mann mit vielen Talenten
  • Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
  • ISBN 978-3-446-27075-6 (Hanser)
  • 184 Seiten. Preis: 20,00 €
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Gabriela Garcia – Von Frauen und Salz

Kuba, Miami und Mexiko sind die Schauplätze von Gabriela Garcias Roman Von Frauen und Salz. Aber vielmehr als die einzelnen Schauplätze ist es das Dazwischen, das die junge Autorin interessiert und von dem sie eindrucksvoll zu erzählen weiß, indem sie ganz unterschiedliche Figuren im Laufe der anachronologisch erzählten Geschichte in ihrer ganzen Zerrissenheit und Sehnsucht nach dem Unerreichbaren schildert.


Im Kern ist Von Frauen und Salz eine feministische Familiensaga, wie es sie insbesondere seit Isabel Allendes Das Geisterhaus dutzendfach auf dem Markt gibt. Frauen aus verschiedenen Generationen stehen im Mittelpunkt solcher Romane und werden bei ihren Kämpfen für weibliche Selbstbestimmung und gegen herrschendes Unrecht und Gewalt inszeniert. Intergenerationalen Traumata und Widerstände, gegen die sie sich die Frauen erwehren müssen, sind dabei stets Thema und werden in solchen Sagas mal gelungener und mal weniger gelungen herausgearbeitet.

Das ist bei Gabriela Garcia nicht anders, wobei ihr Debüt in die Kategorie der gelungenen Bearbeitungen fällt, um dieses Urteil gleich vorwegzunehmen.

Ihr Roman setzt mit einem kurzen Kapitel ein, das Carmen im Jahr 201 in Miami zeigt. Nach wenigen Seiten springt Garcia dann eineinhalb Jahrhunderte zurück in der Zeit, nämlich ins Jahr 1866. Dort lernen wir María Isabel kennen, die als Tabakrollerin ihr Auskommen auf der Insel Kuba bestreitet.

Sie lebt in Camagüey und behauptet sich als einzige Tabakrollerin unter einer ganzen Menge Männern. Während die spanischen Besatzungstruppen den revolutionären Umtrieben der Kubaner*innen ein Ende setzen wollen, erwartet María Isabel ein Kind, das sie mit einem jener kubanischen Revolutionäre gezeugt hat.

Von dieser Episode geht es wieder zurück nach Miami ins Jahr 2014, wo nun Jeanette im Mittelpunkt steht. Sie lebt in prekären Verhältnissen und beobachtet die Razzia der Einwanderungsbehörde bei ihrer Nachbarin. Diese wird von den Behörden festgenommen und weggebracht. An ihr Kind hat allerdings niemand gedacht. Und so nimmt Jeanette das Kind unter ihre Fittiche, um es wenig später dann doch den Einwanderungsbehörden zu melden und zu übergeben.

Eine anachronologische Familiensaga

Gabriela Garcia - Von Frauen und Salz (Cover)

Das sind die ersten drei kurzen Episoden in diesem Roman, die zeigen, dass Gabriela Garcia aus der klassischen Form der weiblichen Familiensaga hier etwas Eigenes macht. Denn statt auf einen linear erzählten Erzählfluss setzt sie lieber auf das Erzählen in Schlaglichtern, die mit der Chronologie brechen. Schlaglichter, die erst im Zusammenhang mit dem ganzen Buch eine logische Abfolge ergeben und die Beziehung der Frauen untereinander herausarbeiten.

Dabei sind die Hauptschauplätze von Von Frauen und Salz die Insel Kuba und Miami sowie das mexikanische Grenzland. An diesen Schauplätzen leben Garcias Frauen, denen aber immer ein permanentes Gefühl des Dazwischen und der Zerrissenheit eingeschrieben ist.

So sehnt sich die in Miami aufgewachsene Enkelin nach dem Kuba ihrer Großmutter oder die Tochter einer Migrantin aus El Salvador nach Amerika, wo sie aufgewachsen ist. Dessentwegen begbit sie sich in die Hände von Schleusern, um mit diesen über den Grenzfluss wieder nach Amerika zu gelangen und so die Sehnsucht nach einem besseren oder zumindest anderen Leben zu stillen.

Erzählen durch Schlaglichter

Fortführen lässt sich dieses Motiv der Zerrissenheit und Dissoziation über das geographische und psychische Spannungsfeld der Figuren hinein bis in die Umbrüche der Geschichte selbst. Dabei bildet die wechselvolle kubanische Geschichte den Schwerpunkt von Gabriela Garcias Erzählung.

Wie die spanischen Kolonialherren in den 1860 Jahren mit blutiger Macht regieren und trotzdem nicht vor den revolutionären Umbrüchen gefeit sind, das beschreibt sie ebenso wie die alte Ordnung unter dem kubanischen Präsidenten Fulgencio Batista, die knapp hundert Jahre später durch die Revolutionäre um Fidel Castro abgelöst wurde.

Auch hier setzt Garcia wie in der gesamten Komposition ihres Buch nicht auf umfassende Darstellung der Hintergründe der jeweiligen Umschwünge, sondern verdichtet diese Momente der Zeitgeschichte auf Schlaglichter, die ihr zur Schilderung der wechselvollen Geschichte genügen.

Fünf Frauen, 150 Jahre Geschichte

Dabei ist das Schöne an Von Frauen und Salz, dass dieses erzählerische Gesamtkonzept bei aller Knappheit aufgeht. Fünf Frauenschicksale und 150 Jahre amerikanisch-kubanischer Geschichte auf gerade einmal etwas mehr als 300 Seiten, das ist eigentlich deutlich zu knapp bemessen. Dass es trotzdem funktioniert, ist der klugen Auswahl entscheidender Kipppunkte im Leben der Frauen und der Geschichte insbesondere in Bezug auf Kuba zu verdanken.

Zwar hätte die ein oder anderen Figur noch etwas mehr Profil vertragen, auch geht es manchmal doch etwas arg schnell mit den anachronologischen Sprüngen, aber doch entwickelt Garcias Geschichte Drive und eine große emotionale Wucht, wenn die Frauen mit ihren Entbehrungen und Leidensgeschichten von gewalttätigen Ehemännern bis zur Drogensucht gezeigt werden. Auch vermittelt die junge Autorin in Von Frauen und Salz gelungen, welche Bedeutung Literatur in ganz unterschiedlicher Ausprägung für Menschen haben kann. So ist es hier Victor Hugos Roman Die Elenden bzw. Les Misérables, der über Generationen weitergereicht wird und der immer wieder Hoffnung und Sinn spenden kann.

Fazit

So ist Von Frauen und Salz ein geradezu prototypischer feministischer Generationenroman, der vom Kampf gegen die Unterdrückung und das Patriarchat durch die Jahrzehnte hinweg erzählt. Durch die anachronologische Erzählweise und die Verdichtung des Materials auf entscheidende Kipppunkte hin bekommt die Prosa von Gabriela Garcia eine eigene Note und stellt die weibliche Widerstandskraft in den Mittelpunkt ihres Erzählens. Prosa mit feministischem und zeitgeschichtlichem Schlag, wie sie gerade im Trend liegt. Prosa, die aber auch unabhängig von aktuellen Moden durch die Themen und Erzählweise überzeugt.


  • Gabriela Garcia – Von Frauen und Salz
  • Aus dem Englischen von Anette Grube
  • ISBN 978-3-546-10011-3 (Claassen)
  • 304 Seiten. Preis: 22,00 €
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Maggie Shipstead – Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit

Solch ein grandioser Titel – und der Inhalt stimmt auch. Maggie Shipstead in Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit über drei Tage Ausnahmezustand im Vorfeld einer Hochzeit – und den unbedingten Wunsch, in den feinen Kreisen dazugehören zu wollen. Eine feine Sezierung der amerikanischen Oberschichtswelt – und das Porträt eines Mannes mit Fehl und Tadel.


Alles ist bereit auf Waskeke Island, einer Insel vor der Küste Maines. In drei Tagen soll die Hochzeit von Daphne Van Meter stattfinden, der Tochter von Winn Van Meter. Deshalb setzt der Familienpatriach auf die Insel über, um seinen Frauen das benötigte Brautkleid und Unterstützung zu liefern.

Vor Ort gleicht das Treiben im Anwesen der Familie auf der Insel einem Bienenstock. Die Brautjungfern müssen zu Kostüm- und Figurproben, die Hochzeitsplanerin will letzte Details durchgehen, die Familie des Bräutigams hat sich angekündigt und dann sind dann da auch noch die Erinnerungen an eine Begegnung mit einer der Brautjungfern, die so gar nicht schicklich und gesittet ablief, wie es sonst die Art von Winn ist.

Ein Leben wie aus dem Upperclass-Bilderbuch

Maggie Shipstead - Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (Cover)

Denn eigentlich lebt Winn ja ein Upperclass-Leben wie im Bilderbuch. Der Nachlass seiner Väter hat ihm finanzielle Unabhängigkeit beschert, mit seiner Frau hat er zwei Töchter (wenngleich ihm Jungen erheblich mehr bedeutet hätten) und Mitglied in den richtigen Clubs und Verbindungen ist er auch noch. Wenn da nur nicht die erstrebte Mitgliedschaft im Golfclub Pequod wäre, die ihm bislang verwehrt blieb und für ihn die Erfüllung seiner Träume bedeuten würde.

Ob diese ausbleibende Einladung in den Golfclub mit alten Rivalitäten zu tun haben könnte, darüber wird er das ganze Buch über nachgrübeln, besonders da seine jüngere Tochter eine Liasion an die Familie eines alten Intimus und Intimfeind band.

Das alles dröselt Maggie Shipstead Stück für Stück auf und verquickt die turbulente Gegenwart der drei Hochzeitstage gekonnt mit der Vergangenheit Winns und dessen Lebensweg, der ihn bis nach Waskeke führte.

Ein Familienpatriach mit Fehl und Tadel

Dabei zeichnet sie das Bild eines Mannes, der sich in der Rolle des Familienpatriarchen gefällt, dessen Leben aber doch mehr Fehl und Tadel bereithält, als die Fassade den Anschein macht. Denn neben seinem Traumhaus, der materiellen Sorglosigkeit und seinem Dasein als Hobbykoch, der für ein Dinner mit der Schwiegerfamilie schon einmal zwanzig respektive 19 Hummer in den Topf wirft, gibt es noch andere, deutlich weniger hell glänzende Punkte in seiner Vergangenheit.

Das seziert Magie Shipstead gekonnt und zeichnet leichtfüßig und mit viel Humor das Treiben auf Waskeke, das mich persönlich an zwei filmische Referenzen erinnerte. Da wäre das chaotische und familiäre Treiben rund um die Hochzeit auf einer Insel, das an das Abba-Musical Mamma Mia erinnert. Ebenso trägt das Geschehen von Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit aber auch Züge des Weihnachtsfilm-Klassikers National Lampoon’s Christmas Vacation beziehungsweise Schöne Bescherung, wie der Film mit Chevy Chase in der deutschen Fassung hieß.

Auch hier gerät die Welt eines Familienvaters gehörig ins Wanken, als in dessen Haus neben der eigenen Familie auch noch die Schwiegerfamilie einfällt uns sich die Ereignisse überstürzen. Alles kommt anders als geplant und am Ende entpuppen sich im Strudel der Ereignisse grundfeste Gewissheiten als durchaus trügerisch, eben Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit.

Fazit

Die komischen Züge dieses filmischen Geschehens trägt auch die Geschichte von Maggie Shipstead ein Stück weit und schafft damit ein leichtes, aber keineswegs belangloses Buch, das gekonnt vom Treiben der Oberschicht an der amerikanischen Ostküste erzählt. Es ist auch das Bild eines Mannes, dessen Leben leicht in Turbulenzen gerät, als sich Gewissheiten verschieben und der Strömungsgeschwindkeit, die ihn bislang durchs Leben trug, nun doch mit Abriss droht. Das ist verngüglich, nah an den Figuren und von daher mehr als ein gelungener Sommerschmöker. Jetzt in der Neuauflage auch nicht zuletzt endlich mit einem annehmbareren Bild als jenem, das die Erstausgabe aus dem Jahr 2012 zierte.


  • Maggie Shipstead – Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit
  • Aus dem Englischen von Karen Nölle
  • ISBN 978-3-423-14837-5 (dtv)
  • 440 Seiten. Preis: 13,00 €
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Naomi Krupitsky – Die Familie

Wenn Elena Ferrante auf Dennis Lehane trifft. In ihrem Debüt Die Familie erzählt Naomi Krupitsky von zwei Frauen, die im Umfeld der Mafia von New York aufwachsen und vor schwierigen Entscheidungen stehen. Lektüre, die leider nicht so wirklich mitreißt und die das Gefühl zurücklässt, dass man aus dem Plot deutlich mehr hätte herausholen können.


Hat man das Typografie-Gewitter mit sage und schreibe fünf unterschiedlichen Schriftarten auf dem Cover überstanden, so findet man sich zu Beginn des Buchs wieder auf den Docks von New York im Jahr 1948. Dort wird ein Schuss abgefeuert. Wer geschossen hat, wer getroffen wurde und wie es zu der Tat kam, das wird sich erst spät im Buch auflösen.

Bis es soweit ist, startet Naomi Krupitsky ihre chronologisch sortierte Erzählung im Jahr 1928, in dem sie die Lebensgeschichte der Freundinnen Sofia und Antonia schildert, die im Red Hook Viertel von Brooklyn aufwachsen:

Sofia und Antonia

Sofia Colicchio ist ein wildes Wesen mit dunklen Augen. Sie läuft schnell und spricht laut und ist die beste Freundin von Antonia Russo, die nebenan wohnt.

Die beiden leben in Brooklyn, in einem Viertel, das Red Hook heißt und an das Viertel grenzt, aus dem Carroll Gardens und Cobble Hill werden wird. Red Hook ist neuer als Lower Manhattan, aber älter als Canarsie und Harlem, diesen gefährlichen Außenposten, wo fast alles erlaubt ist. Viele der Gebäude sind niedrige Holzschuppen nah am Fluss, aber weiter vom Wasser entfernt, in Richtung der immer noch niedrigen, aber beständigeren Stadthäuser, wachsen die Dächer höher. Und alles ist dunkelgrau vom Wind und Regen und vom Ruß in der Luft.

Naomi Krupitsky – Die Familie, S. 11

Noch in der Kindheit muss Antonia den Verlust ihres Vaters verkraften, da dieser seinen Arbeitgeber, den Mafiaboss Tommy Fianzo, um Einnahmen geprellt hat. Sofias Vater hingegen bewährt sich in der Mafiahierachie und sorgt mit kriminellen und gewalttätigen Geschäften für das Auskommen der Familie.

Diffus nehmen die beiden Mädchen schon in der Kindheit wahr, was um sie herum passiert. Je älter sie werden, umso klarer steht ihnen der Charakter der „Familie“ vor Augen, deren Teil auch sie sind.

Beide werden sich verlieben, heiraten und Kinder bekommen – ehe sie sich vor Entscheidungen gestellt sehen, die schon ihre Eltern treffen mussten und die schon einmal tödliche Konsequenzen hatten.

Dem Kreislauf der Familie entgeht man nicht

Naomi Krupitsky - Die Familie (Cover)

Die Familie ist ein Doppelporträt zweier Freundinnen, die in einem tödlichen Umfeld aufwachsen, das ihre Eltern trotzdem so gut es geht vor ihnen fernhalten, ehe man die Gewalt nicht mehr fernhalten kann und diese in den Familienalltag einsickert.

Über die Kindheit und die Jugendzeit bis hinein ins Erwachsenenalter zeigt Krupitsky das Aufwachsen der beiden Frauen – und wie schwer es ist, sie von der Familie zu lösen, in die sich beide auf unterschiedliche Art und Weise wieder einfügen.

So heiratet Sofia einen jüdischen Adlatus, Antonia hingegen ehelicht einen italienischstämmigen Mann. Beide finden auf unterschiedliche Art und Weise in ihre Rollen als Ehefrauen und Mütter hinein – und doch werden die intergenerationalen Traumata und Schrecken auch in der nächsten Generation wieder mal indirekt und mal auch ganz direkt auftreten. Dem Kreislauf der Familie entgeht man eben leider nicht ganz so. Das ist von der Erzählabsicht her ganz gut gemacht und handwerklich lässt sich Naomi Krupitsky nichts vorwefen.

Fast mustergültig beginnt das Buch mit der Spannung eines Schusses, ehe die Situation aufgelöst wird, der Fokus auf die beiden Freundinnen ist stets da – und doch bleibt der Eindruck, dass das Buch über die offensichtlichen Schau- und Erzählwerte hinaus nicht wirklich viel zu bieten hat.

Wo bleibt der USP?

Die Handlung kennt man aus dutzenden Mafiafilmen und Romanen, von Mario Puzo bis hin zu Dennis Lehane, die Beziehung zweier italienischstämmiger Freundinnen und das Aufwachsen inklusive aller Widerstände und Entwicklungen hat Elena Ferrante in ihrem Neapolitanischen Quartett deutlich nuancierter und tiefgreifender erfasst. Das Versprechen eines feministischen Blicks auf die amerikanische Mafiawelt in der ersten Hälfte 20. Jahrhundert, das ich mir nach Aufmachung und Klappentext erhoffte, es blieb leider uneingelöst.

Und so bleibt für mich die Frage, ob es die Lektüre des Buchs braucht, wenn doch andere Bücher in unterschiedlichen Belangen gezeigt haben, dass auch tieferschürfendes Erzählen und Ausleuchten möglich ist, verbunden mit mehr Spannung und Ausdeutung der Figuren. Einen USP, einen Unique Selling Point, also ein Alleinstellungsmerkmal konnte ich zumindest in Krupitskys Debüt nicht ausmachen.

Fazit

Gewiss, Die Familie ist gut gemacht und gut erzählt. Aber gerade im Vergleich zu anderen Titeln fällt es dann eben doch auf, dass Krupitsky etwas an der Oberfläche bleibt und nicht wirklich tiefer in die Strukturen der Familie und der Verfassung ihrer Heldinnen einsteigt. Da helfen nicht einmal die fünf unterschiedlichen Schriftarten auf dem Buchcover.


  • Naomi Krupitsky – Die Familie
  • Aus dem Englischen von Ursula Wulfenkamp
  • ISBN 978-3-423-29025-8 (dtv)
  • 400 Seiten. Preis: 22,00 €
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Hernan Diaz – Treue

Es gibt Buchtitel, die in ihrer deutschen Übersetzung stärker werden. Erschütterung von Percival Everett wäre so ein Fall, ist der Titel doch deutlich vielgestaltiger lesbar als das schlichte Telephone im Original. Und es gibt Titel, die auf dem Weg ins Deutsche an Nuancenreichtum verlieren. Zu letzter Kategorie zählt leider Hernan Diaz Roman Treue, der im Original den doppeldeutigen Titel Trust trägt und damit natürlich auf das Vertrauen und die Ehrlichkeit anspielt. Ebenso bringt das Wort aber auch einen ökonomischen Aspekt ins Spiel, ließe sich doch Trust auch als Treuhand oder Treuhandverwaltung übersetzen.

Auch wenn in der beim Hanser-Verlag erschienen Ausgabe ein Geldbündel auf dem Cover prangt, so lässt sich das Wortspiel doch nicht adäquat auffangen und geht auf dem Übersetzungsweg einmal quer über den Atlantik verloren. Das ist bedauerlich, denn neben der Treue und dem zwischenmenschlichen Miteinander hat Hernan Diaz vor allem einen Ökonomie-Roman in vier Teilen geschrieben, der sowohl Ökonomie im Erzählen als auch Ökonomie im Sinne von wirtschaftlichem Aufstieg beleuchtet und der dabei raffiniert gebaut ist.


Alles beginnt ganz klassisch, wie ein Roman ebenso beginnt. Wir lernen die Lebensgeschichte des Benjamin Rask kennen, die mit folgenden Worten anhebt:

Da er von Geburt an annähernd jeden erdenklichen Vorteil genossen hatte, blieb Benjamin Rask als eines von wenigen das Privileg eines heldenhaften Aufstieges versagt: Seine Geschichte war keine zäher Hartnäckigkeit, keine Chronik eines unbezwinglichen Willens, der sich aus wenig mehr als altem Blech ein goldenes Schicksal schmiedeten.

Hernan Diaz – Treue. S. 15

Ein bisschen was ist allerdings wirklich anders an dieser Geschichte. Denn diese Aufstiegserzählung, die in Anlehnung an die Erzähltradition des Realismus die Entwicklung von Benjamin Rask hin zu einem der reichsten Männer der Welt schildert, sie ist keine Erzählung des Autors Hernan Diaz. Es ist vielmehr ein Autor namens Harold Vanner, der hier zwischengeschaltet ist und der uns diese Geschichte vom Aufstieg Rasks, dem Siegeszug des kapitalistischen Denkens und von einem großen Verlust erzählt.

Ökonomischer Aufstieg und Verlust

Hernan Diaz - Treue (Cover)

Diesem Roman folgt ein zweiter Teil, der erstaunliche Berührungspunkte mit dem zuvor Gelesenen aufweist. Hier ist es allerdings kein Autor, der eine Geschichte schreibt, vielmehr handelt es sich um die Memoiren von Andrew Bevel, der „Mein Leben“ schildert. Diese Memoiren sind aber eher Manuskript denn fertige Erinnerungen. Immer wieder finden sich Lücken und Anmerkungen im Text, der den Aufstieg Bevels nachzeichnet. Inhaltlich kreisen die Memoiren um seinen Aufstieg, bei dem er sich virtuos an der Börse von Million zu Million spekuliert hat.

Die rätselhafte Kongruenz zwischen Roman und Autobiographie erklärt dann der dritte Teil des Romans, in dem wir Ida Partenza kennenlernen, die im New York der 20er Jahre eigentlich als Sekretärin arbeitet. Während Wolkenkratzer in den Himmel schießen, greifen anti-italienische Ressentiments um sich (ähnlich wie bei Eduardo Lago spielt auch hier der Prozess gegen Sacco und Vanzetti eine Rolle).

Die Kommunisten führen Kämpfe gegen den zügellosen Kapitalismus – und inmitten dieser Konflikte findet sich Ida wieder, die als Tochter eines italienischen Anarchisten ausgerechnet bei jenem aus dem zweiten Teil bekannten Milliardär Andrew Bevel Anstellungen findet. Für ihn soll sie dessen Memoiren in Form bringen und aufschreiben. Dieses Vorhaben ist allerdings ein besonderes, denn Bevel will in den Memoiren auch das Leben seiner Frau ins Licht der Öffentlichkeit bringen, deren Ruf er mit dem Projekt aufzupolieren verhofft.

Bei ihrer Arbeit kommt Ida so mit der Lebensgeschichte von Bevels Frau in Berührung, deren Aufzeichnungen den vierten und letzten Teil des Buchs bilden und die damit gewissermaßen die Klammer um die drei vorgehenden Teile formt.

Ein Roman in vier Teilen mit verbindendem Kern

Alle Teile verbindet, dass sie im Kern die Lebensgeschichte von Andrew Bevel, dessen Aufstieg durch Spekulationsgeschäfte und die Verbindung zu seiner Frau Mildred erzählen. Ob in fiktionalisierter Form oder durch Erinnerungen – stets wird titelgemäß die Treue und Ehrlichkeit der beiden verhandelt. Dabei erzählt Hernan Diaz mit einem Binnenblick auf das Miteinander, lässt beide Partner ihre jeweiligen Perspektiven schildern. Daneben ist die Treue und Ehrlichkeit aber auch eine Frage der Öffentlichkeit und des Blicks von außen. Denn notgedrungen muss sich das Paar auch in der Öffentlichkeit zeigen, besonders nachdem die gewinnbringende Ausschlachtung von Börsencrashs durch Bevel zu Gerede führt.

Während sich der Kapitalist aus der Öffentlichkeit zurückzieht, unleidlich nur das notwendigste Pflichtprogramm in Sachen sozialer Repräsentation erfüllt, findet seine Gattin in der Philantropie Erfüllung, die sie immer ausgeprägter verfolgt. Doch stimmt das wirklich? Ist diesen Schilderungen zu trauen, besonders wenn sie von einem Mann kommen, für den die eigene Perspektive gleichbedeutend mit der Wahrheit ist, die er seiner Biografin in den Block diktieren will?

Hier verhandelt Hernan Diaz auch den Trust, als Vertrauen mit der Darstellungen des eigenen Ich, wenn für Bevel nur das eigene Erleben die Richtschnur für richtiges Erinnern darstellt.

Wer hat nun recht mit seinem Blick auf das Geschehene oder welche Perspektive ist die Richtige? Die des kapitalistischen Wunderkinds und Börsengurus, die seiner Frau, die der Biografin oder gar die des spekulativen Romanautors? Oder liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen, zwischen ihm und ihr, zwischen Fakten und Fiktion? Diese Überlegungen machen aus Treue eine nachdenkenswerte Lektüre, die durch die raffinierte Montage der vier Teile Raum für eigene Bewertungen eröffnet.

Aber es ist nicht nur eine Geschichte der unterschiedlichen Blickwinkel, die ihr Blick auf Kapitalismus und Ökonomie eint. Es ist auch ein Roman, der die Erzählökonomie eindrucksvoll in den Mittelpunkt stellt.

Erzählökonomie par excellence

Denn wie oben schon beschrieben weist Hernan Diaz‘ Buch ja vier Teile mit völlig unterschiedlichen Geschichten in unterschiedlichen Stilen auf. Betrachtet man dazu die Länge von 411 Seiten, bleiben ja gerade einmal durchschnittlich gut einhundert Seiten für jede der Geschichte. Folglich muss natürlich die Frage gestellt werden, ob es Diaz gelingt, trotz dieser Länge überzeugende Episoden zu kreieren, die in der Kürze funktionieren.

Hier muss ich konstatieren: ja, in meinen Augen geht das Erzählkonzept auf und Diaz gelingt es, auch nur mit hundert Seiten gute Geschichten zu erzählen, die sich sinnreich untereinander verbinden. Im ersten Teil sind es 120 Seiten, die er braucht, um einen Entwicklungsroman in Erzähltradition des Realismus zu erzählen. Wo die (im Buch auch als Verweis auftauchenden) Klassiker, etwa von Henry James hunderte von Seiten für eine Erzählung von Aufstieg und Niedergang benötigen, schafft es Hernan Diaz hier auch mit guten 120 Seiten, eine ähnlich anmutende Erzählung zu kreieren, die sich trotzdem Zeit nimmt und bei der man nicht das Gefühl von zu sparsamen Erzählen bekommt.

Und auch die anderen Geschichten konzentrieren sich auf das Entscheidende, legen den jeweiligen Episodenkern offen, ohne dabei aufgebläht oder viel zu skizziert zu wirken (außer an Stellen wie Andrew Bevels Memoirenmanuskript, wo dies natürlich erwünscht ist). Eben Erzählökonomie par excellence.

Fazit

Das Ganze ist größer als die Summe aller Teile. Diese Binsenweisheit erfüllt sich bei Treue von Hernan Diaz einmal mehr. Obschon vielleicht der erste Blick ins Inhaltsverzeichnis einen Eindruck von disparat Geschichten oder einer Kurzgeschichtensammlung entstehen lassen könnte, ergibt sich über jede einzelne Episode hinweg ein Bild von zügellosem Kapitalismus, von Dagobert Duck-haftem Streben nach Mehr, aber eben auch von Leid und Verlust.

Gerade im Zusammenwirken der so unterschiedlichen Erzählansätze ergeben sich interessante die Brüche und Leerstellen, die Fragen bezüglich der Ehrlichkeit mit den Lesenden, der Inszenierung des eigenen Ichs und der Verlässlichkeit von geschilderten Lebenswegen aufwerfen. Das macht aus Treue in meinen Augen eine spannende, diskussionswürdige und außergewöhnliche Lektüre, die deutlich mehr anbietet, als nur eine platte Schilderung des Strebens nach ökonomischen Erfolgen zu sein. Dass es Diaz damit auf die Longlist des diesjährigen Booker Prize geschafft hat, erscheint mir nur konsequent.


  • Hernan Diaz – Treue
  • Aus dem Englischen von Hannes Stein
  • ISBN 978-3-446-27375-7 (Hanser)
  • 416 Seiten. Preis: 27,00 €
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