Hannah Lühmann – Heimat

Raus aus der Stadt, rein ins Grüne. Das Einfamilienhaus mit genug Platz für die Kinder und keinem Raum mehr für die Anonymität der Stadt, dafür nachbarschaftliche Verbundenheit und den Wald vor der Haustür. So sieht auch der Traum von Jana aus, die zusammen mit ihrem Mann Noah und den zwei Kindern den Traum eines Eigenheims auf dem Land in die Tat umgesetzt hat. Doch eine neue Heimat findet die junge Frau in Hannah Lühmanns gleichnamigen Roman auf andere Weise als gedacht.


Während die AfD weiter in schwindelerregende Zustimmungsregionen emporklettert (zumindest den Prognosen der Demoskopen nach), steht die deutschsprachige Gegenwartsliteratur dem Phänomen weiter recht hilflos gegenüber. Die Journalistin Hannah Lühmann unternimmt nun einen literarischen Versuch, um die Anschlussfähigkeit an das Gedankengut der in Teilen rechtsextremen Partei zu beleuchten. In ihrem Roman Heimat ist es aber zunächst weniger der Partei, als die neue Nachbarin Karolin, die eine Faszination auf ihre Heldin Jana ausübt.

Zusammen mit ihrem Mann Noah lebt Jana in einem Neubaugebiet fern der Stadt. Zwei Kinder hat Jana bereits und ein drittes ist auf dem Weg. Grund zur Freude bietet das allerdings weniger. Die Schulden für das neue Heim drücken, ihr Mann, Lehrer, glänzt durch Abwesenheit und ist bis abends in der Schule, während Jana ihren Job in einer Agentur für die Kinder aufgegeben hat. Die von ihr zu leistende Care-Arbeit sorgt bei Jana für regelmäßige Überlastung – und so ist die Begegnung mit Karolin eine Wohltat. Sie, ebenfalls Mutter, zieht Jana schon beim ersten Treffen in ihren Bann.

Das Tradwife nebenan

Hannah Lühmann - Heimat (Cover)

Ebenfalls Mutter erkennt sie Janas Schwangerschaft mit einem Blick und ist so anders im Umgang mit ihren Kindern als Jana, die sich oft überfordert fühlt. Die Faszination Janas für sie und ihre Familie ist mit Händen zu greifen. Erst folgt sie Karolins erfolgreichem Auftritt auf Instagram – und sucht auch im echten Leben immer mehr Karolins Nähe. Sie, die mit ihrem Mann Clemens und den Kindern einen so ganz anderen Umgang pflegt, die Jana zum Mütter-Lesezirkel einlädt und der alles scheinbar mühelos zu gelingen scheint, sie wird zum Vorbild für Jana.

Auch seltsame Ansichten zu Themen wie Kindergarten, Impfung oder Überfremdung irritieren Jana nicht. Immer mehr lässt sie sich in den Dunstkreis von Karolin ziehen und entwickelt fast so etwas wie eine Abhängigkeit zu dieser Frau, deren Ansicht unmerklich auch Janas eigene Wahrnehmung und Verhaltensweisen ändern.

Heimat zeichnet die schleichende Übernahme von reaktionärem Gedankengut bei Jana nach. Karolins traditionelles, um nicht zu sagen erzreaktionäres Familienbild, demnach etwa der Wald ein deutlich besserer Lehrer für die Kinder als ein Kindergarten sei oder die Frau dem Mann untertan sein sollte, sie fallen bei Jana in ihrer Überforderung und Suche nach Orientierung auf fruchtbaren Boden.

Vom Lesekreis zum Standdienst für die AfD

Was mit einem Lesekreis beginnt, setzt sich bei Hannah Lühmann bis hin zum Standdienst für die AfD fort, bei der Clemens und Karolin aktiv sind. Morde von Tätern mit Migrationshintergrund und die geplante Asylbewerber-Unterbringung im Dorf stacheln die Menschen auf – und Jana wird zunehmend zur Verfechterin der Werte, die Karolin mit ihren digitalen Auftritten und im echten Leben propagiert.

Dabei ist es manchmal vielleicht etwas arg plakativ, wenn der Aufstieg der AfD immer wieder mit Bildern wie der vom Titelblatt lächelnden „kaltblonden“ Parteivorsitzenden ins Bild geschoben werden oder passenderweise in einem Kapitel die Titelseite mit den neuesten Umfragewerten aus einer Tasche herausblugt. Stilistisch ist das Buch doch eher schlicht gehalten und ist auf der sprachlichen Ebene das Äquivalent zum biederen Einfamilienhaus (auch wenn Emily Dickinsons Poesie eine Rolle im Buch spielt).

Aber Heimat zeigt eben auch, wie vermeintlich harmlos eine Radikalisierung erfolgen kann. Über Vorbilder wie die Tradwife Karolin und deren Einfluss auch auf Gebildete und emanzipierte Frauen wie Jana, die doch empfänglich sind für das Gedankengut, das langsam aber stetig in die Gesellschaft und in die Köpfe einsickert – dazu eine klare und ungeschönte Beschreibung familiärer Überforderung, die die Suche nach Halt und die Orientierung an fragwürdigen Vorbildern schlüssig erklärt.

Fazit

Die großen Erkläransätze für die Faszination AfD für Teile der Bevölkerung kann Heimat freilich nicht liefern – und will es auch nicht. Aber gerade weil Hannah Lühmann hier eher aufs Privatleben denn die große Politik blickt, zudem keine einfachen Wahrheiten anbietet und lieber den schleichenden Weg Janas in die Radikalisierung zeigt, ohne sich wertend einzumischen, hat Heimat für mich Qualitäten. Das Buch ist mit dem klaren Blick auf familiäre Dynamiken und Verschiebungen im Kleinen auch Sinnbild für das Große, das sich in diesem Land verändert, befeuert durch mediales Dauerfeuer und vermeintlich harmlose Gesichter wie die Karolins, deren Ziel Rückschritt anstelle von echtem Fortschritt ist.


  • Hanna Lühmann – Heimat
  • ISBN 978-3-446-28282-7 (Hanser Blau)
  • 176 Seiten. Preis: 22,00 €
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Leon Engler – Botanik des Wahnsinns

Was tun, wenn es in der ganzen Familie psychologische Erkrankungen und wahnhaftes Verhalten gibt? Der Erzähler in Leon Englers Debüt Botanik des Wahnsinns tut das Konsequente: er geht in die Psychiatrie. Das allerdings als Arzt und nicht als Patient.


Viel ist es nicht, das vom Leben übrigbleibt. War es bei Ricarda Messners Debüt Wo der Name wohnt nur das Klingelschild, das nach der Wohnungsauflösung den sichtbaren Hinweis auf die Existenz der eigenen Großmutter lieferte, so ist der Erzähler in Leon Englers Debüt nun mit einigen Kisten an Hinterlassenschaften beschäftigt, die sich ihm sieben Jahre nach ihrer Einlagerung wie eine Zeitkapsel präsentieren. Beim Öffnen wird er mit der eigenen Familiengeschichte und deren Besonderheiten konfrontiert.

Am Ende bleiben sieben Kartons. In diesen Kartons, gestapelt in einem dunklen Lagerabteil in Wien, befinden sich ausgerechnet die Dinge, die meine Mutter aussortiert hatte: alte Rechnungen, Steuererklärungen, Müll.

Ich gehe die Kartons durch. Einer davon ist randvoll mit ungeöffneten Briefen. Schreiben von Inkassobüros und Anwälten, Vollstreckungsbescheiden und fristlose Kündigungen. Ihre Bedrohlichkeit haben die Briefe längst verloren. Die Poststempel darauf sind sieben Jahre alt. Ich setze mich auf den Boden, öffne den ersten Brief. Das Licht geht aus. Ich hebe meinen Arm. Das Licht geht wieder an.

Leon Engler – Botanik des Wahnsinns, S. 7

Alle Plagen aus den Bibeln der Psychiatrie

Die eingelagerten Kisten sind Spuren eins zunehmend aus den Fugen geratenen Lebens, das nicht das einzige in der Familie des Erzählers ist. Denn in Botanik des Wahnsinns spürt der Erzähler den einzelnen Figuren seiner Familie bis in die Großelterngeneration hinein nach – und allem, was sie dabei verband. Denn psychologischen Krankheiten und auffälligen Symptome ziehen sich durch die Generationen. Die Aufzählung der psychologischen Auffälligkeiten, die der Erzähler seinem Wiener Nachbarn offenbart, gerät so mehr als eindrücklich:

Eines Tages erzähle ich ihm von meiner Furcht, verrückt zu werden. Der Nachbar lacht nur. Wir zeichnen einen Stammbaum und überschlagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit mich welches Schicksal ereilen könnte: Schizophrenie? Sucht? Depression? Bipolare Störung? Mein Stammbaum ist befallen von so ziemlich jeder Plage, die in den Bibeln der Psychiatrie zu finden ist. In wessen Fußstapfen soll ich treten? Welche verirrte Linie weiterführen? Die Depression meines Vaters? Die Schizophrenie meines Großvaters? Die Todessehnsucht meiner Großmutter? Die Abhängigkeit meiner Mutter?

Leon Engler – Botanik des Wahnsinns, S. 22

Doch nicht nur die Familie ist schon längst zerfallen, auch sein kurzer Text springt von Vergangenem zur Gegenwart, vom eigenem Erleben des Erzählers hin zu den Erinnerungen an seine Familie. Dadurch zerfällt der Text zwar strukturell, bildet aber dennoch ein Ganzes.

Depressionen, Schizophrenie und suizidale Tendenzen

Leon Engler - Botanik des Wahnsinns (Cover)

In seinen kurzen Kapiteln widmet sich der Erzähler all den familiären Figuren und nimmt ihre Eigenheiten und ihre jeweiligen Wesen und Kämpfe mit ihren Krankheiten in den Blick.

Die Mutter, die als Journalistin reüssierte, ein mondänes Leben führte und dann doch in einer zwangsgeräumten Wohnung in Wien endet, der Vater, der sich von der Mutter trennt und Zeit seines Lebens mit den eigenen Dämonen der Depression kämpft, all diese Figuren aus dem familiären Kosmos stellt der Erzähler in seinem Buch vor, blickt dabei aber auch auf seine eigene Position in diesem Kosmos und seine Befürchtungen, den psychologischen Dispositionen ebenfalls zu erliegen.

Sein Lebenswandel hin zu einem Studium der Psychologie (was den Erzähler mit dem Autor Leon Engler selbst verbindet), der dann folgende Alltag als Therapeut in einer psychiatrischen Einrichtung (was wiederum an Joachim Meyerhoffs Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war erinnert), verbunden mit allgemeinen Reflektionen über das „Normale“ und das „Verrückte“, all das fügt sich zu den Porträts seiner Familie und gibt einen Eindruck vom breiten Spektrum psychischer Verfasstheit, auf dem sich Englers Figuren an ganz unterschiedlichen Stellen einsortieren.

Die Überwindung der Sprachlosigkeit

In seinem manchmal fast ein wenig zu sehr auf Pointe oder eine markante Punchline geschriebenen Text gelingt dem Erzähler das, was er am Ende des Buchs als sein erzählerisches Anliegen formuliert. Die Sprachlosigkeit, in der sich die Mitglieder seiner Familie immer wiederfanden, er überwindet sie mit seinem Erzählen und verschafft ihr so eine Geschichte, weit über bloße sieben Kisten in einem Abstellraum in Wien hinaus.

Botanik des Wahnsinns ist der Blick auf eine besondere Familie und ihre Kämpfe und Probleme – und der Beweis, wie Literatur Stigmata überwinden, Verständnis schaffen und ein literarisches Familienalbum schaffen kann, das für die dunklem Töne ebenso Raum vorsieht wie für das Helle.


  • Leon Engler – Botanik des Wahnsinns
  • ISBN 978-3-7558-0053-8
  • 206 Seiten. Preis: 23,00 €
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Mario Desiati – Spatriati

Rastlos bezüglich der eigenen Identität, rastlos bezüglich des Lebensziels, rastlos bezüglich der Bindung, rastlos bezüglich des Lebensortes und des eigenen Platzes im Leben. In seinem preisgekrönten Roman Spatriati zeigt Mario Desiati die Rastlosigkeit eines jungen Mannes, der in seinen Jugendtagen in Claudia eine Freundin findet, deren Beziehung zueinander aber auch eines bleibt – rastlos.


Es ist ein Wort, das sich kaum übersetzen lässt: Spatriati. Die Rastlosigkeit, die Unruhe und Bindungslosigkeit schwingt in diesem Wort mit, wie Mario Desiati bei der Vorstellung seines Buchs im Rahmen der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Herbst erklärte. Die Ruhelosen, die Außenseiter, die Spinner und nicht ganz in die Norm passenden Menschen werden im apulischen Dialekt so bezeichnet. In Desiatis Roman erklärt es der Erzähler wie folgt.

„Zurückgekehrt, aber immer noch spatriato“, sagen sie, eine Anspielung darauf, dass ich keine Frau, keine Kinder und auch keinen festen Job habe, dass ich immer auf gepackten Koffern sitze. Ich bin ein Verlorener. Ein Unbehauster, zumindest in ihrem Weltbild. Einer meiner wenigen Freunde ist etwas umsichtiger und bezeichnet mich als scapulèta, was ein bisschen besser ist als spatrièta, man verwendet den Ausdruck für Rinder, die sich von ihrem Joch befreien.

Mario Desiati – Spatriati, S. 240

Dass der Erzähler sonderlich sesshaft wäre, sowohl in Bezug auf seinen Platz im Leben als auch seinen Platz in einem sozialen Gefüge, man könnte es wirklich nicht behaupten. Denn dieser Francesco „Frank“ Veleno, der im kleinen Ort Martina Franca im Südosten Italiens aufwächst, bekommt das Unvollständige, das Unperfekte schon qua Familienstatus mit auf den Lebensweg gegeben.

Aus Apulien nach Berlin

Ich heiße Francesco Veleno, ich bin das einzige Kind von Elisa Fortuna und Vincenzo Veleno, zweier ehemaliger Amateursportler, die sich bei einer Folge von Spiel ohne Grenzen ineinander verliebt und mich in der Hoffnung großgezogen hatten, ich würde sie eines Tages aus dem rätselhaften Unglück erlösen, mich in die Welt gesetzt zu haben.

Noch war ich weit entfernt von der Erkenntnis, dass viele Beziehungen lediglich „aus Gründen der Staatsräson“ aufrechterhalten werden, wie Claudia es einmal ausdrücken sollte. Und dank ich würde ich zudem begreifen, dass es keine noch so zwingende Staatsräson gab, die drei derart unterschiedliche Menschen dazu verpflichtete, zusammenzuleben, es sei denn, es ginge darum, eine Strafe abzusitzen.

Mario Desiati – Spatriati, S. 7

Die Tradition der unorthodoxen und dysfunktionalen Beziehung überträgt sich bei ihm auch auf sein Leben, wie Desiatis Roman zeigt. Doch Halt verheißt dem durchs Leben Taumelnden die Freundschaft mit Claudia, die schon in Schulzeiten ihr Außenseitertum verbindet. Doch könnte da noch mehr sein zwischen den beiden – oder fühlt er sich doch zu Männern hingezogen, wie es eine erste Begegnung in der Sakristei der örtlichen Kirche verheißt? Alles ist spatriati – unscharf, quecksilbrig, fluide.

Dynamische Beziehungen und unklare Verhältnisse

Anziehung und Eifersucht, Distanz und Nähe, über die ganzen Jahre seit dem ersten Kontakt, es verbindet die beiden Menschen – und auch ihre Eltern. Denn Francescos Mutter pflegt eine Affäre mit Claudias Vater, eine weitere Verbindung in dem Netz, in dem sich die beiden jungen Italiener*innen befinden.

Auch ein Wegzug Claudias aus Apulien nach Mailand, während Francesco gleichzeitig vor Ort in Apulien verharrt, löst die Bindung nicht, im Gegenteil. Später werden beide nach Berlin und durch die Nachtclubs wie das Berghain oder den KitKat-Club ziehen. Affären mit Männern und Frauen, ein mehr als nur chaotisch zu nennendes und von Mario Desiati explizit geschildertes Liebesleben, doch keine Klarheit, wie man zueinander eigentlich wirklich stehen will. Es ist alles reichlich dynamisch in ihren Leben.

Ähnlich wie Vincenzo Latronico in seinem (jüngst mit einer Nominierung beim International Booker Prize geehrten) Roman Die Perfektionen spürt auch Desiati hier in großen Passagen der Rastlosigkeit italienischer Expats in der deutschen Hauptstadt nach. Auch wenn Claudia und Francesco weit entfernt von der oberflächlichen Perfektion und Sorglosigkeit von Latronicos Figuren Anna und Tom sind, so verbindet das Dasein als Spatriati sie alle doch auch irgendwie.

Neben der Rastlosigkeit und Ratlosigkeit über die Macht der Anziehung ist Spatriati auch ein Buch, das von Literatur gesättigt ist. Besonders Claudia ist eine leidenschaftliche Leserin, die in Zitaten von Alba de Céspedes bis zu den Werken von Maria Marcone, Naomi Klein, Italo Calvino oder Banana Yashimoto viel Identifikationsräume für sich ausmacht – und Mario Desiati lässt die Leser*innen in vollen Zügen daran teilhaben.

Fazit

Spatriati erkundet eingehend das Lebensgefühl der Orientierungslosigkeit, sowohl im zwischenmenschlichen, als auch auf ganze Leben bezogen. Die sexuelle Identität ist hier genauso unscharf auszumachen wie das Verhältnis, in dem die Figuren zueinander stehen.

Übersetzt durch Martin Hallmannsecker ist Mario Desiatis Roman in Italien bereits mit dem Premio Strega ausgezeichnet worden und lässt sich nun auch im Deutschen dank der vorzüglichen italophilen Arbeit des Wagenbach-Verlags entdecken.


  • Mario Desiati – Spatriati
  • Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker
  • ISBN 978-3-8031-3368-7 (Wagenbach)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €
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Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit

Um die Wahrheit ist es nicht bestellt in diesen Tagen. Fake News, alternative Fakten und eine Flut von KI generiertem Müll bedrohen die Wahrheit und machen die Verständigung auf eine gemeinsame Realität immer schwerer. In Raphaela Edelbauers Roman Die echtere Wirklichkeit probt eine Gruppe namens Aletheia den Widerstand dagegen. Wie dieser Kampf aussieht, davon erzählt die österreichische Autorin in ihrem Buch und zielt dabei mitten hinein in unsere Gegenwart.


Wir wollen keine konkreten Reformen vorschlagen, wofür wir andere, mit uns kooperierende Gruppen als zuständig erachten. Wir sind philosophische Revolutionäre, deren sogenannter Terror gewissen Denkbewegungen die Waffe an die Schläfe drückt

Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit, S. 376

So formuliert es die Vereinigung namens Aletheia in ihrem thesenstarken Manifest, das die in Wien beheimatete Gruppe gemeinsam erarbeitet hat. Mit einer gehörigen Portion Revoluzzer-Nostalgie angefertigt in einer besetzten Wohnung per Matrizendruck sind es 71 Thesen, die für die Gruppe entscheidende Bedeutung besitzen.
Man liest Heidegger, nur ist es diesmal die Musik von Depeche Mode anstelle von Ton, Steine, Scherben, die aus den Lautsprechern dröhnt, während man diskutiert und streitet. Aber nur bei Diskursgewittern soll es nicht bleiben – denn Aletheia ist mehr als ein philosophischer Lesekreis und steht damit in der Tradition des Terrors einer RAF: mithilfe eines Anschlags will mit einem sprichwörtlichen Knall auf die eigenen Thesen hinweisen und die eigene Mission zum Erfolg zu führen.

Terror und Philosophie

Raphaela Edelbauer - Die echtere Wirklichkeit (Cover)

Doch wie kam es so weit, das inmitten Wiens der bewaffnete Aufstand und Terror geprobt wird? Und was will die Gruppe eigentlich? Das erzählt nicht nur das immer wieder aufgegriffene thesenreiche Manifest, das den Leser*innen von Raphaela Edelbauers neuem Roman gleich als Einstieg um die Ohren gehauen wird. Auch die im Rollstuhl sitzende Romy alias Byproxy nimmt uns zurück an die Anfänge, als das mit Aletheia begann – beziehungsweise, als sie zur Gruppe stieß. Denn Byproxy ist der jüngste Neuzugang der Gruppe, die sich aus Paul, Bernward, Brigitte und der Chirurgin konstituiert.

Nachdem sie aus ihrer Wohngruppe hinausgeflogen ist, stößt Romy in den kalten Straßen Wiens auf die Spur der Revolutionäre – und findet Anschluss bei denen in einer besetzten Wohnung beheimateten Gruppe. Als Einstieg in die Welt der Wahrheitsverfechter muss sie durch die ganz große Denkschule durchfräsen und die Lektüre von Parmenides, Husserl oder Hegel nebst Hausarbeit erledigen, um bei Aletheia Aufnahme und Anerkennung zu finden.

Mithilfe des philosophischen Rüstzeugs soll die gehbehinderte Byproxy die Gruppe in ihrem großen Kampf unterstützen. Diesen führt die nach der griechischen Göttin für die Wahrheit benannte Gruppe für die Wahrheit. Denn die Wahrheit, sie gerät seit dem Erfolg des Poststrukturalismus zunehmend in Gefahr – und das von höchster Stelle.

Längst schon arbeiten Kräfte auf dem ganzen Kontinent gegen die Wahrheit an. Man erfindet Begriffe wie alternative Fakten und hat gar kein Interesse mehr, sich zu verständigen und eine gemeinsame Verständnisbasis auszumitteln. Die Verbindlichkeit dieser gemeinsamen, verbindenden Wahrheit ist in Gefahr – doch Aletheia will sie verteidigen.

Der Kampf für die Wahrheit

Es ist ein Kampf, der mehr mit Worten und Gedanken als mit echten Taten geführt wird. Zwar besuchen Paul und Byproxy eine Wahlveranstaltung der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs oder planen einen Anschlag auf die Kronenzeitung, die in den Augen der Gruppe eine Schleuder für Fake News darstellt (und die in der Alpenrepublik trotz ihres boulevardesken und unterkomplexen bis rassistischen Charakters eine Zielgruppe von über drei Millionen Menschen erreicht) – das Ergebnis dieser Anstrengungen bleibt aber kärglich. Eine schlampig gemauerten Mauer vor dem Universitätsbüro von Wahrheitsfeinden, sie ist alles, was bleibt. Dass dieses Bauwerk dann fast von alleine kollabiert ist sinnbildlich zu sehen.

Vieles bei Aletheia bleibt allein beim Wollen, ehe der Roman auf den letzten Seiten doch noch seinen explosiven Charakter entfaltet.

Und dann erlöste Brigitte uns aus dieser Totenstille: „Ich glaube, Byproxy hat recht. Moment mal, lasst uns nachdenken, vielleicht hat sie wirklich recht.“
„Seid ihr beide wahnsinnig geworden?“, fragte Bernward.
„Eine Geiselnahme? Glaubt ihr, wir wollen RAF spielen? Wir sind eine philosophische Gruppe.“
„Eine philosophische Terrorgruppe.“
„Eine philosophisch-aktionistische Gruppe!“, schrie Bernward.

Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit, S. 213

Theorie und Diskussion

Über weite Strecken erschöpft sich die Gruppe in der Planung und Diskussion ihrer Aktionen – und steht damit stellvertretend für die Leistungsschwäche der Linken angesichts eines globalen Rechtsrucks und der Tendenz hin zu Autoritärem. Die Protagonisten dieses Rechtsrucks von der medialen Öffentlichkeit (Kronenzeitung) über akademischen Betrieb bis hin zu den politischen Mitspielern (FPÖ) beleuchtet Edelbauer immer wieder als einen großen Komplex, gegen den Aletheia gar nicht ankommen will und kann.

Verlockender scheinen die Dialoge über Wahrheit und der Blick der Philosophen auf den kaum zu greifenden Komplex. Was ist Wahrheit, auf welche Wahrnehmung der Wahrheit kann man sich verständigen? Die echtere Wirklichkeit geizt dabei nicht mit Thesen und Denkern. Immer wieder verliert sich die Gruppe in Diskussionen zwischen Poststrukturalismus und Pläneschmieden und strapaziert damit auch die Geduld der Leser*innen. Edelbauers Faible für Philosophie und die Widersprüche des Denkens scheinen in diesem Roman wohl so deutlich auf wie nie.

Das macht ihren Roman bisweilen zu einer zähen Lektüre, die mit den 71 Thesen, Theorietexten und Dauerstreitereien Hingabe der Konsument*innen erfordert. Dafür belohnt der Roman auch etwa mit der großartigen Bierzelt-Szene, die die Agitation rechter Kräfte ohne Fakten aber mit ganz viel Gefühl dokumentiert. Auch ist ihr Roman wieder ein großes Sprachfest, da Byproxy eine sprachstarke Erzählerin mit gewähltem Vokabular ist. Man verabsentiert sich, ist spornstreichs unterwegs oder befleißigt sich verschiedenster Dinge. Auch geizt die Autorin nicht mit hinreißenden Austriazismen der Marke Spom­pa­na­deln oder Gleich spielt’s Granada.

Fazit

So ist Die echtere Wirklichkeit ein wilder philosophischer wie sprachliche Tanz, der sich auf dem schwindenden Grund einer gemeinsamen Realität unserer Gesellschaft vollzieht. Edelbauers Buch zielt mitten hinein in die Gegenwart und das brüchig gewordene Vertrauen in Staat – und die Erzählerin.
Trotz eines klaren Österreich-Fokus ist das Buch damit doch auch universell übertragbar. Wackere Leser*innen, die sich nicht von vielen Thesen und Denkgirlanden und Diskussionsdauerfeuern abschrecken lassen, die finden in Raphaela Edelbauers Buch höchst gegenwärtige Lektüre zwischen Philosophie und Bombenanschlag.


  • Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit
  • ISBN 978-3-608-96630-5 (Klett-Cotta)
  • 448 Seiten. Preis: 28,00 €
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Louise Doughty – Deckname Bird

Bis nach Island schickt die Autorin Louise Doughty ihre Heldin Heather Berriman, die als Spionin für den Britischen Sicherheitsdienst unter dem Deckname Bird tätig ist. Brisante Erkenntnisse sorgen dafür, dass sie untertauchen muss. Dafür muss sie vom Radar ihrer Arbeitgeber verschwinden – und vor allem überleben.


Heather Berriman ist eine unauffällige Frau. Anfang fünfzig versieht sie ihren Dienst im Verbindungsbüro 2.6 des britischen Geheimdienstes. Zusammen mit ihrem Vorgesetzten Kieron und den Kolleg*innen ist sie mit internen Ermittlungen befasst und soll die Verlässlichkeit der Geheimdienstmitarbeitenden überprüfen. Doch schon auf den ersten Seiten tritt Heather eine schnelle, aber keineswegs kopflose Flucht an. Sie begibt sich aus dem Verbindungsbüro in Birmingham und tritt eine Flucht an, die sie über Schottland und Norwegen bis nach Island führen soll. Doch was die Hintergründe für ihre plötzliche Flucht sind, das zeigt sich erst deutlich später in Louise Doughtys Text.

Mit Deckname Bird hat die Britin einen geradezu klassischen Spionageroman geschrieben, der die Welt der Geheimdienste und vor allem die Welt des Untertauchens und spurlosen Gangs durch die Welt zelebriert. Sonderlich innovativ ist der Stoff der Agentin auf der Flucht dabei natürlich nicht.

Eine Agentin auf der Flucht

Louise Doughty - Deckname Bird (Cover)

Dass Geheimdienstmitarbeiter untertauchen müssen und sich gegen ihre früheren Arbeitgeber und deren Überwachungsapparat zur Wehr setzen müssen, ist ja essenzielles Handwerk von Agenten und wird dementsprechend immer wieder in Romanen aufgegriffen. Drehbuchautor Anthony McCarten strickte aus der Idee des Untertauchens gar einen ganzen temporeichen Thriller, in dem er die Möglichkeiten heutiger Überwachungstechnik auslotete und damit nicht gerade dazu beitrug, die Skepsis angesichts dieser Technik zu verringern. Ganz so temporeich ist Doughtys Thriller nicht, der sich lieber auf andere Aspekte des Untertauchens konzentriert.

Bei ihr hat besitzt das Untertauchen nämlich keinerlei Glamour und Nervenkitzel, sondern ist harte Arbeit. Der Weg nach Schottland ist von Entbehrungen gekennzeichnet und bringt Doughtys Agentin in Kontakt mit Obdachlosen oder übergriffigen Männern. Stets mit der Angst nach Überwachern in ihrem Nacken treibt es die Frau von Versteck zu Versteck, wobei ganz basale Probleme wie Hunger oder die Probleme bei der Toilettenbenutzung verhandelt werden. Da geraten selbst toll eingefangene Schauplätze wie ein Cottage in Schottland, die Berge in Norwegen oder die überwältigende Schönheit der Natur Islands ins Hintertreffen.

Rauer und realitätsnäher als ihre Kollegen

Wer sich Hochglanz-Action und reinen Thrill mit Finten und ausgeklügelten Manövern erhofft, der ist bei Deckname Bird fehl am Platz. Das Untertauchen hier bedeutet Angst, Einsamkeit, Unsicherheit und Entbehrung, vor allem aber immer Arbeit. Damit ist Louise Doughtys Thriller deutlich rauer und realitätsnäher als die Thrillerprodukte eines John Le Carré oder Robert Ludlum.

Die Spannung ihres Romans zieht sich aus der Frage des Überlebens einer Heldin, die als Frau mittleren Alters zudem deutlich abweicht vom üblichen Casting solcher Spionageromane. Damit gelingt Louise Doughty ein Roman, der dann eben doch herausstechen kann aus dem Vielerlei anderer Bücher mit ähnlichem Plot.

Schade ist allein die an manchen Stellen recht nachlässige Übersetzung des Buchs. So gibt es „Nordlichter“ anstelle von Polarlichtern zu bestaunen, den Finger schmückt ein „Hochzeitsring“ anstelle eines Eherings oder jemand kennt die „Raffiniertheit“ von Heathers Vater anstelle von dessen Raffinesse (obgleich beide Formulierungen im Deutschen zulässig sind, sich letztere aber zumindest für mich idiomatischer und runder liest als die etwas gequält klingende Nominalisierung, die im Buch Anwendung gefunden hat).

Fazit

Das anstrengende und entbehrungsreiche Versteckspiel einer Frau vor ihrem ehemaligen Arbeitgeber wird bei Louise Doughty zu einer spannenden Angelegenheit. die durch ihre Realitätsnähe und die für derartige Thriller ungewöhnliche Heldin besteht. Diese Heather Berriman ist eben kein James Bond und kein George Smiley, die locker flanierend durch die Handlung des Buchs schreitet. Diese Heldin kämpft, zittert, leidet. In Sachen Ungebügeltheit in puncto Plot und Personal ist das eher an Mick Herrons Slow Horses dran als an weltläufigem Agentenkitzel.

Das macht aus Deckname Bird einen zeitgenössischen und realistischen Agententhriller, der eine eigene Note in das weite Feld dieser Art von Spannungsliteratur einbringt – und der mit einer sorgfältigeren Übersetzung vielleicht noch etwas mehr geglänzt hätte.


  • Louise Doughty – Deckname Bird
  • Aus dem Englischen von Astrid Arz
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47494-5 (Suhrkamp)
  • 390 Seiten. Preis: 18,00 €
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