Thomas Melle – Haus zur Sonne

Wie wäre es, andere Leben anprobieren zu dürfen und einmal einen Blick in mögliche Versionen des eigenen Leben zu werfen? Der Erzähler in Thomas Melles Roman darf genau das im Haus zur Sonne erleben – doch können alternative Leben helfen, Manien und Depression zu überwinden – oder führt das in Konsequenz doch zum Tod? Vor dieser Frage sieht sich der Erzähler und wir als Lesende mit ihm.


In Die Welt im Rücken, seinem ebenfalls für die Endrunde des Deutschen Buchpreises nominierten Roman erzählte Thomas Melle von seiner bipolaren Erkrankungen, die ihn immer wieder peinigt und in peinliche Situationen zwang. Auch in seinem neuen Buch Haus zur Sonne spielt diese Erkrankung eine entscheidende Rolle. Denn der Erzähler möchte nicht mehr. Ein neuer Schub seiner Krankheit hat alle Fortschritte zunichte gemacht, in seiner Wohnung zwischen beschmierten Wänden und ausgepackten Kartons vegetiert er mehr vor sich, als wirklich zu leben.

Ich hatte meinen Tod schon oft durchgespielt, ihn mir vorgestellt, und dazu auch, leider, die kleinen Reaktionen darauf: die Trauer von manchen, das Abwinken von anderen, das kurz von einem nostalgischen Impuls durchzuckte Desinteresse wohl auch ehemaliger Freunde. Dann weiter im Text des Lebens, es ist halt so, verloren, vergessen, nichts zu machen.

Thomas Melle – Haus zur Sonne, S. 19 f.

Ein Aufenthalt im Haus zur Sonne

Thomas Melle - Haus zur Sonne (Cover)

Da kommt die Einladung zu einem Aufenthalt im neuartigen Haus zur Sonne gerade zur rechten Zeit. Denn für den selbstbezeichneten dead man walking bietet sich so die Möglichkeit, mittels Halluzination letzte Wünsche vor seinem Abschied von der Welt zu durchleben um dann nach dem Ausprobieren dieser Wünsche aus dem Leben zu scheiden.

Unter Anleitung eines Ärzteteams findet er sich im Sanatorium ein, das sich seltsam abgeschieden von der Welt präsentiert. Kontakte zur Außenwelt existieren eh kaum und so kann der Erzähler noch einmal frei von allem Ballast neu beginnen. Die Therapie öffnet ihm die Möglichkeit, in alternative Lebensentwürfe seiner selbst zu blicken und seine größten Wünsche zu erleben.
Von einem Dasein als Rockstar auf der Bühne bis zu einer Orgie, vom perfekten Hühnerfrikassee aus Kindheitstagen bis hin zu Erfolgen als Forscher im Kampf gegen den Krebs bietet das Haus zur Sonne alle nur denkbaren Varianten und Entwicklungen, die das Leben bereithalten kann. Doch den größten Wunsch mag man dem Erzähler dort zumindest vorerst noch nicht erfüllen – den seines eigenen Todes.

Ein Möglichkeitenroman

Thomas Melle hat mit Haus der Sonne einen Möglichkeitenroman geschrieben, der die Vielzahl von eventuellen Verläufen einfängt, die ein Leben bedeuten kann. Immer wieder wird der Erzähler in eine neue Simulation geschubst – und kann doch die schwarzen Hunde nicht vergessen, die ihn unbarmherzig quälen.

So liest man den Roman unter dem Paradox, das auf der inhaltlichen Ebene wahnsinnig viel passiert, wenn Melles Protagonist immer wieder neue Varianten von Leben und Eindrücken anprobiert, er aber doch auf der Stelle tritt, was das Vorankommen mit der Krankheit und die äußere Handlung anbelangt. Denn obschon er neue Menschen im Haus zur Sonne trifft -so wirklich kommt er dort nicht los und sitzt damit fest im Sanatorium wie Hans Castorp einst im Berghof oder Jack Torrance in Stephen Kings Shining im Overlook-Hotel.

Das Buch schwankt zwischen der Traum-Therapie und der eigenen Trauma-Therapie, der sich der Erzähler hier literarisch unterzieht. Es geht weniger vorwärts und vielmehr hinein in die Verarbeitung der eigenen Depression und die darin erlebten Exzesse und Peinlichkeiten als zentrales Thema des Buchs.

Zwischen Trauma-Therapie und Traum-Therapie

So beschreibt Melle den Bann der erdrückenden unsichtbaren Krankheit, unter der der Erzähler steht. Zumindest in Ansätzen macht der Roman nachvollziehbar, wie sich die Manie anfühlt und wie der Erzähler immer wieder zwischen Euphorie und Glücksgefühlen und tiefster Niedergeschlagenheit oszilliert. Ähnlich wie zuletzt Svealena Kutschke versucht auch er durch das Erzählen die Wahrnehmung der Welt infolge einer psychischen Krankheit nachzuzeichnen – und überzeugte zumindest mich damit etwas weniger als Kutschke in ihrem maximal dichten und zwingenden Gespensterfische.

Ohne Zweifel ist das Buch in der Fülle an Psychiatrieromanen in diesem Literaturjahr aber nicht nur aufgrund des dystopisch-rätselhaften Schauplatzes herausstechend. Im Spiel mit Fiktion und Fakt, Wahn und Aberwitz ist das Buch bemerkenswert – verlangt den aber Lesenden doch nicht nur angesichts der Suizid-Thematik sondern auch aufgrund des hochnervösen Tretens auf der Stelle einiges an Resilienz und Kraft ab.

Fazit

Ich selbst stehe etwas ratlos vor diesem Buch, dessen ganzes Erzählen für mich etwas von einer dunklen Zeitschleife hat, in der immer wieder der Wunsch des eigenen Suizids variiert wird und in der sich die kurz aufblitzenden Momente des Glücks angesichts der zirkulären Rückfalls in die Todessehnsucht irgendwann abgenutzt haben. In Verbindung mit der Statik des Plots wurde aus dem Buch für mich eine zu zähe Angelegenheit, als dass ich mich als Entscheider (im Gegensatz zum hier fast unisono begeisterten Hochfeuilleton) schwertäte, für Melles Buch den sicheren Gewinn des Deutschen Buchpreises auszurufen.

Anders sieht das beispielsweise auch Blogger Stefan Härtel alias Bookster HRO, der das Buch auf seinem Blog als grandios lobt.
Empfehlen möchte ich auch die Analyse von Alexander Carmele, der sich auf seinem Blog Kommunikatives Lesen ebenfalls Thomas Melles Text widmet.

Ein Hinweis sei auch auf heute Abend gegeben. Denn dann wird bei der alljährlichen Preisverleihung im Frankfurter Römer entschieden, wer der sechs nominierten Autor*innen den Preis für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres mit nach Hause nehmen darf und sich auf der im Anschluss beginnenden Frankfurter Buchmesse der größten Öffentlichkeit sicher sein darf (außer es kommt wie im letzten Jahr zu einem Eklat).
Besprechungen zu den nominierten Werken von Jehona Kicaj, Christine Wunnicke, Dorothee Elmiger und Thomas Melle sind zumindest schon auf dem Blog vertreten.


  • Thomas Melle – Haus zur Sonne
  • ISBN 978-3-462-00465-6 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €

Paul Gallico – Der Krönungstag

Wir schreiben den 2. Juni 1953 und ganz Großbritannien steht Kopf. Denn heute ist er gekommen, Der Krönungstag, an dem Elizabeth II. zur Königin ausgerufen wird. Das möchte sich auch die Familie Clagg aus Sheffield nicht entgehen lassen – und stolpert in Paul Gallicos nostalgischer Geschichte in ein Abenteuer in der britischen Hauptstadt.


25 Guineen, so viel hat jedes der Tickets gekostet, das Familienvater Will Clagg für seine zwei Kinder Johnny und Gwendoline, seine Frau Violet und die griesgrämige Schwiegermutter erworben hat. Es ist ein halbes Vermögen für die Familie aus der Arbeiterschicht, das der Vater in Tickets investiert hat, um mit dabei zu sein, wenn Geschichte geschrieben wird und die frisch gekrönte Elizabeth II. am Krönungstag auf dem Weg vom Buckingham Palast hin zur Westminster Abbey mit einer großen Parade gefeiert wird.

Er sagte bloß an einem Sonntagnachmittag Anfang April, als sie in dem bescheidenen Haus in der Imperial Road Nr. 52 in Little Pudney am Esstisch saßen: „Hört mal, was würdet ihr sagen, wenn wir alle zur Krönung nach London fahren?“
Die Frage hatte seine Familie erschüttert, verblüfft, aufgewühlt, hypnotisiert, erschreckt und verzaubert. Er hatte sie wie eine glimmende Zündschnur auf den Tisch geworfen, wo sie brannte und sprühte und den Rauch und die Flammen des Abenteuers entfachte.

Paul Gallico – Der Krönungstag, S. 20

Für die Familie bedeuten die Tickets eine echte Entscheidung, denn um sich die Kosten leisten zu können, hat der Familienrat getagt und entschieden, anstelle des jährlichen Urlaubs am Meer diesmal das Geld in die Krönungstickets zu investieren.

Eine Familie im Krönungsfieber

Paul Gallico - Der Krönungstag (Cover)

Doch dann das: als sich die Familie übermüdet nach einer nächtlichen Bahnfahrt von einem Vorort in Sheffield im vibrierenden London wiederfindet, folgt auf die Euphorie schnell die Ernüchterung. Denn die über einen Verwandten besorgten Karten sind eine dreiste Fälschung. Das Haus, von dem aus sie in der ersten Reihe einen Blick auf die Parade werfen wollten, erweist sich als Brandruine. Die Familie ist Betrügern aufgesessen.

Und so gibt es statt der erhofften Blicke auf Kutsche und Königin, Champagner und Parlando mit Menschen von Welt nur lange Gesichter im Nieselregen der britischen Hauptstadt. Doch davon lassen sich die Claggs nicht unterkriegen und verbringen den Krönungstag trotzdem in London, das vor Erregung über die kurz bevorstehende Krönung zu vibrieren scheint.

Gelungen erzählt der 1897 geborene US-amerikanische Sportreporter und Schriftsteller Paul Gallico in dem ursprünglich 1962 erschienenen Roman Der Krönungstag von der einzigartigen Atmosphäre in der britischen Hauptstadt. Es ist das Nebeneinander von großen Enttäuschungen und kleinen Dingen, die den Tag dann doch unvergesslich machen, das anrührt.

Ein ganz besonderer Tag

Denn trotz der großen Enttäuschungen des aufgesessenen Ticketbetrugs erlebt die Familie immer wieder kleine besondere Momente, die für sie den Tag besonders machen und die zumindest kurzzeitig die im Alltag stets manifesten Klassenschranken an diesem Tag als überwindbar erscheinen lassen:

Denn der Korken stand in gewissem Sinne für das Durchbrechen des Musters der Enttäuschungen in ihrem Leben

Paul Gallico – Der Krönungstag, S. 177

Ein Fläschchen Champagner im Bordbistro, ein Regimentsabzeichen, ein Schluck Gin für die miesepetrige Großmutter – es sind die kleinen Dinge, die für die Claggs doch so viel bedeuten, wovon Paul Gallico anschaulich zu erzählen vermag. Ähnlich wie in R. C. Sherriffs Roman Zwei Wochen am Meer ist es auch hier eine durchschnittliche Arbeiterfamilie, die trotz materieller Beengtheit einem Tag etwas ganz Besonderes abzuringen vermag.

Fazit

Das Besondere in einfachen Leben und der Moment, wenn Momente in Leben unvergesslich werden, Paul Gallico vermag in diesem nostalgischen Roman rührendend davon zu erzählen und erinnert damit auch an andere Erzähler wie den schon erwähnten R. C. Sherriff, Reginald Arkell oder J. L. Carr.


  • Paul Gallico – Der Krönungstag
  • Aus dem Englischen von Robert Lucas
  • ISBN 978-3-311-70422-5 (Oktopus)
  • 192 Seiten. Preis: 16,99 €

Dorothee Elmiger – Die Holländerinnen

Ein Theatermacher auch den Spuren Werner Herzogs oder Christopher Schlingensiefs, verschwundene Holländerinnen im Dschungel Panamas, eine Autorin im Erzählrausch, dazu schwangere Ziegen, dressierte Pferde, fiktive Autorinnen und die große Frage, um was es hier eigentlich geht: willkommen im Textdschungel namens Die Holländerinnen, die die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger ersonnen hat.


Es läuft bei Dorothee Elmiger. Auch wenn sie es mit ihrem neuen Roman Die Holländerinnen „nur“ auf die Shortlist für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis geschafft hat und final ihrem Schweizer Landsmann Jonas Lüscher den Vortritt lassen musste, befindet sie sich in der Auswahl für den Bayerischen Buchpreis, den Schweizer Buchpreis und steht zudem auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Ein Umstand, der schon vor fünf Jahren zu beobachten war, als Dorothee Elmiger mit ihrem Werk Aus der Zuckerfabrik ebenfalls das Triple gelang und sie es in die Endauswahl für den Deutschen, Schweizer wie auch den Bayerischen Buchpreis schaffte.

Verschwundene Holländerinnen in der Wildnis Panamas

Nun also Die Holländerinnen, die – um es gleich vorwegzunehmen – eine literarische Herausforderung darstellen. Das beginnt schon bei der Geschichte, die sich verkapselt im Zentrum des Romans befindet. Um diese erzählerische Kapsel herum ist die Geschichte einer namenlosen, gefeierten Schriftstellerin gebaut, die eigentlich eine Vorlesung zu ihrer Poetik und Schreiben vor einem Auditorium halten wollte. Doch die Worte zerfielen ihr wie weiland Lord Chandos als modrige Pilze im Mund. Es wollte sich nichts Vorzeigbares mehr ergeben und so wähnt sie sich die Autorin in der Tradition von Penelope, die immer wieder den gewebten Stoff auftrennen musste, wie es der Autorin mit ihrem Textgewebe nun ergeht.

Doch dann findet sich doch etwas, worüber es sich zu reden lohnt. Angesiedelt ist das Thema der Autorin in der Vergangenheit vor drei Jahren. Damals machte sie die Bekanntschaft mit einem experimentierfreudigen Theaterregisseur, der den Fall zweier im Dschungel verschwundener Holländerinnen theatral bearbeiten wollte. Mitsamt seinem Kreativteam und der Autorin ging es ebendort hin in den Dschungel Panamas, wo man den Fall erkunden, inszenieren oder vielleicht sogar aufklären wollte. Doch mit der Wahrheit und der Aufklärung ist das so ein Ding. Statt eine Lösung für das Verschwinden zu finden, produziert die Autorin in ihren geschilderten Erinnerungen immer wieder Abschweifungen und Arabesken.

Willkommen im Textdschungel

Dorothee Elmiger - Die Holländerinnen (Cover)

So geht es mal um Ziegen, die eine dem Team angehörige Schweizerin einst im St. Galler Rheintal hüten sollte. Aufgrund der Abwesenheit des Ziegenbauers musste diese selbst die unerwartete Niederkunft von Ziegen betreuen. Ein andermal kommt die Rede auf die fiktive Autorin Marilyn Trappenard und deren Werke; dann wiederum schiebt sich ein Ehepaar in den erzählerischen Vordergrund, das die Kostümbildner Liese einst kennenlernte und mit dem es ein mysteriöses Ende nahm. Immer wieder begibt sich der Text zu Nebenschauplätzen, während man sich an der Rekonstruktion des Falls der verschwundenen Holländerinnen versucht und die Erzählerin zu einem neuen Ansatz angebt.

In durchgehend indirekter Rede erzählt die Autorin von ihren Erlebnissen, Eindrücken und Erinnerungen, die mit dem Team und dem unerschrockenen Regisseur verknüpft sind.

Ein Bezug ist dabei nicht immer leicht auszumachen – und auch interpretatorische Schneisen muss man sich in diesem Textdschungel selbst schlagen. Die Holländerinnen wartet auf mit einer Fülle an Motiven und Anspielungen – von Joseph Conrads Herz der Finsternis bis hin zu Werner Herzogs Filmen, der als Zitat auch den Roman eröffnet. Mal luzide, mal verwirrend, dann wieder theatral und erzählerisch verschachtelt bietet sich das Elmiger’sche Lesewucherwerk dar.

Eine erzählerische Herausforderung

Das ist durchaus eine Herausforderung, etwas weniger gnädig gestimmt könnte man auch von einer Zumutung sprechen. Leicht macht es einem dieses Buch nicht, sodass sich folgendes Zitat aus dem Buch über das Leseerlebnis des Buchs selbst übertragen lässt.

Am frühen Nachmittag hätten sie zum ersten Mal eine kurze Rast eingelegt, aber es sei ungemütlich gewesen, sie alle hätten es vorgezogen, weiterzugehen, vorwärtszukommen, vor allem die Mädchen seien unruhig gewesen, zappelig, und also seien sie schon kurze Zeit später wieder aufgebrochen. Der Pfad, dem sie noch immer gefolgt seien, habe sich auch jetzt fortlaufend verzweigt, der Theatermacher habe sich auf gut Glück, aber ohne triftige Gründe jeweils für die eine oder andere Richtung entschieden, und es sei ihr spätestens in diesem Moment, als sie so ziellos durch den Wald geirrt seien, bewusst geworden, dass es hier keine Pointe geben, dass die ganze Geschichte auf keine Auflösung, kein Ende zulaufen würde.

Dorothee Elmiger – Die Holländerinnen

Ein konsistenter Text ist dieser zerklüftete Text- und Motivdschungel nicht. Eher sind es die Worte des Zappeligen und Verwirrenden, die den Charakter des Buchs treffen. Elmigers Text verweigert sich einer klaren Lesart und eindeutigen Zuordnung – vielmehr ist die Stärke dieses Buchs tatsächlich das Offene, das Numinose und das Ausbleiben einer klaren Einordnung – wer Eindeutigkeit von einem Text erwartet, der wird hier freilich enttäuscht werden.

Fazit

Die Holländerinnen, das ist Literatur, die neue Formen ausprobiert und tastet, die andere Wege zu gehen versucht, was nicht immer zu einem leicht konsumierbaren Ergebnis führt – aber durchaus auch das eigene ästhetische Empfinden weiten kann, wenn man sich auf diese Art des sprunghaften und verrätselten Erzählens einlässt. Besonders Freunde der indirekten Rede dürften ihren Spaß mit diesem Buch haben, bei dem der Erzählerin trotz aller Zweifel an den eigenen Sätzen und dem eigenen Erzählen dann doch etwas Außergewöhnliches gelungen ist – ein ganz eigenständiges Kunstwerk.


  • Dorothee Elmiger – Die Holländerinnen
  • ISBN 978-3-446-28298-8 (Hanser)
  • 160 Seiten. Preis: 23,00 €

Nirit Sommerfeld – Beduinenmilch

Während die Debatte um das Vorgehen der israelischen Regierung im Gazastreifen heiß läuft und die erschütternden Bilder von dort fast jeden Tag zu neuen Diskussionen führen, kommt dieses Debüt der deutsch-israelischen Autorin Nirit Sommerfeld zur genau rechten Zeit. Denn Beduinenmilch gibt Einblicke in das tägliche Leben und Miteinander in Israel auf israelischer wie palästinensischer Seite . Damit liefert der Roman damit einen wichtigen Beitrag für Verständnis und Versöhnung und damit genau das, was dem Konflikt dort im Nahen Osten gerade so sehr fehlt.


Können Bücher die Welt besser machen? Ich meine eher nein, wie ich es in diesem vor fünf Jahre erschienenen Artikel schon einmal dargelegt habe. Wobei uns die Literatur aber helfen kann, ist ein besseres Verständnis für die Welt und ihre Bewohner*innen zu entwickeln. Geradezu ein Paradebeispiel für diese These liefert der Roman Beduinenmilch der Schauspielerin und Sängerin Nirit Sommerfeld, die damit ihr literarisches Debüt im ars vivendi-Verlag vorlegt.

Bei dem Roman handelt es sich um ein Buch, das sich der Gattung eines sommerlichen coming of age-Romans zuschlagen lässt und das auch als Jugendbuch funktioniert. Die Ich-Erzählerin Talia steht kurz vor ihrem 18. Geburtstag und gedenkt diesen nicht mit ihren Eltern in Berlin zu feiern, sondern stattdessen nach Israel zu fliegen, wo sie ein paar Wochen verbringen will. Ähnlich wie ihrer Erschafferin Nirit Sommerfeld hat auch Talia deutsch-israelische Wurzeln, die sie im Lauf des Romans immer eingehender erkunden wird.

Familiäre Wurzeln in Tel Aviv

Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch (Cover)

Ihr Urgrovater Sigfried Edelman floh einst aus Chemnitz nach Israel. Hatte sein eigener Vater im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft, wurde dieser dennoch kurz darauf von den Nazis in einem Konzentrationslager umgebracht. Sein Sohn entgang der Ermordung durch die Flucht nach Israel.

Dort gründete Talias Großvater dann wieder eine Familie, zu der die junge Frau nun reist. Doch nicht nur das Wiedersehen mit der Familie und die Feier ihres 18. Geburtstags steht auf der Liste von Vorhaben, die Talia dort in Tel Aviv erleben will. Vor allem möchte sie zum Militär, um dort ihren Dienst genauso wie ihre Cousine und ihre Freunde abzuleisten. Zwar kann sie aufgrund ihrer doppelten Staatsbürgerschaft eine Brefreiung vom Dienst an der Waffe vorweisen, dennoch möchte sie diesen Dienst ableisten und fordert so schon bei der Einreise ohne das Wissen ihrer Familie einen Einberufungsbefehl an.

Das Wissen um ihr Vorhaben und die gleichzeitige Unkenntnis ihrer Familie von diesen Plänen bildet für die folgenden Tage in Israel einen moralischen Konflikt, der sich im Lauf des Buchs immer weiter verstärken wird. Während die ersten Tage vor Ort ganz unbeschwert sind, bringen zufällige Begegnungen Talia immer stärker ins Grübeln. Denn obschon ihre Cousine oder ein Schwarm von ihrem letzten Besuch in Israel den Dienst als patriotische Pflicht sehen, lernt Talia während ihrer Tage dort auch den Palästinenser Haytham kennen. Dieser muss sich als illegaler Bauarbeiter in einem Rohbau gegenüber des Hauses von Talias Familie verdingen.

Sie freunden sich an, doch die aufkommende Freundschaft wird rüde durch eine Verhaftung Haythams unterbunden. Ihm soll als illegaler Flüchtling in Israel der Prozess gemacht werden – nur einer von tausenden Illegalen, die zwar rechtlich in Israel unerwünscht sind, aber trotzdem für das Funktionieren der Gesellschaft gebraucht werden.

Es wird nicht der einzige Konflikt und Widerspruch bleiben, auf den Talia während ihrer Zeit dort stößt. Und auch die anfängliche Euphorie über den Wehrdienst soll im Laufe des Romans einer immer größeren Skepsis weichen. Das hat mit dem Geschehen vor Ort, aber auch ihrer eigenen Familiengeschichte zu tun. Denn diese hängt mit einem palästinensischen Geisterdorf in der Wüste zusammen, auf das die junge Frau per Zufall stößt…

Tiefe und Erkenntnisreichtum

Beduinenmilch ist ein Roman, der aufgrund seiner Erzählhaltung und der unbedarften Erzählerin Talia zunächst leicht daherkommt. Dennoch entfaltet Sommerfelds Roman schnell eine Tiefe und Erkenntnisreichtum, weil man mit Sommerfelds Heldin Talia dazulernt und neue Einsichten gewinnt. Zwischen radikalen Siedlern, gegängelten Palästinensern, Erinnerungen an die Nakba wie auch die Perspektive der jüdischen Zivilbevölkerung gelingt es Nirit Sommerfeld, die vielen widersprüchlichen, geschichtlich gewachsenen und ihrer Komplexität nicht immer leicht zu durchdringenden Gemengelagen dort in Israel zwischen Palästinensern und Israelis verständlich zu schildern.

Ähnlich wie zuletzt Dana Vowinckels Gewässer im Ziplock bricht auch in Nirit Sommerfelds Roman eine junge Frau von Berlin aus nach Israel auf, um im Kulturclash vor Ort neue Perspektiven zu gewinnen und sich auch mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Bei Sommerfeld hat das Ganze auch noch eine historische Komponente, denn immer wieder unterbrechen Briefe von Talias Großvater den Lesefluss, deren Schilderungen sich mit der Gegenwart (vielleicht eine Spur zu gerade und glatt, aber durchaus sinnreich) mit den aktuellen Geschehnissen verbinden.

So entsteht ein Roman, der einen historisch informierten und angenehm differenzierten Blick auf das Miteinander von Palästinensern und Israelis wirft. Das Ganze mag manchmal im Erzählton eine Idee zu didaktisch und zu plakativ sein, doch solcherlei Kritik verstummt angesichts des Leids und der teilweisen Ignoranz im Israel-Gaza-Konflikt dieser Tage wieder schnell.

Fazit

Auch wenn Beduinenmilch hauptsächlich 2014 spielt, ist Sommerfelds Roman aber ein Buch, das über diese konkrete Jahreszahl hinaus auf das grundsätzliche Miteinander und viel zu oft auch Gegeneinander der Völker dort blickt. Themen wie Raketenangriffe auf Israel, Sympatie für die Agitationen der Hamas, Hass und Hetze sind eben leider 2025 genauso präsent wie im von Nirit Sommerfeld beschriebenen Jahr 2014.

Diese traurige Aktualität und Zeitlosigkeit der Themen macht das Buch zu einem wichtigen und höchst niedrigschwelligen Beitrag, der neben seiner literarischen Unterhaltung auch unangestrengt viel Wissen und Perspektiven vermittelt, hin zu einem hoffentlich besseren Miteinander, das von Verständnis geprägt ist, ganz wie es Sommerfelds Protagonisitin Talia vormacht. Man wird ja wohl noch träumen dürfen…


  • Nirit Sommerfeld – Beduinenmilch
  • ISBN 978-3-7472-0716-1 (Ars Vivendi)
  • 344 Seiten. Preis: 22,00 €

Sophia Klink – Kurilensee

Düngen oder nicht düngen, dass ist hier die Frage. In ihrem Debütroman Kurilensee beschreibt Sophia Klink das Leben einer jungen Naturwissenschaftlerin am russischen Kurilensee, die sich mit ihrem Forschungsteam mit einer schwierigen Frage auseinandersetzen muss. Soll man als Mensch in das Ökosystem im See eingreifen, indem man den See mit Phosphat düngt, um so das System zu erhalten – oder macht man damit alles nur schlimmer?
Bei dieser Entscheidungsfindung blickt die Autorin auf das Innere des Sees genauso wie auf das Innenleben ihrer Erzählerin.


Dass die Lachse zum Laichen und Sterben den Fluss hinaufziehen, das besang nicht nur Thees Uhlmann in einem Lied – auch aus Naturdokumentationen ist dieses Faktum hinlänglich bekannt. Wie komplex allerdings die Einbettung des Lachses in das Ökosystem ist, das ist ein Thema, dem die Autorin Sophia Klink in ihrem Debütroman Kurilensee detailliert nachgeht. Denn sie erzählt von der jungen Naturwissenschaftlerin Anna, die an einem Forschungsprojekt beteiligt ist, das seine Zelte beziehungsweise seine Forschungsstation am Kurilensee aufgeschlagen hat.

Weitab jeglicher Zivilisation ist der See auf der russischen Halbinsel Kamtschatka gelegen, wo tausende von Lachsen der Sorten Nerka oder Gorbuscha im See laichen und den zahlreichen Braunbären als Futterquelle dienen. Der Klimawandel aber macht selbst vor solch abgelegenen Regionen wie dem Kurilskoye, wie der See auf Russisch heißt, nicht halt. Und so führen Anna und ihre Kolleg*innen vor Ort detaillierte Messungen durch, um diese Veränderungen zu dokumentieren.

Lachse im Kurilensee

Sophia Klink - Kurilensee (Cover)

Deutlich zeigt sich bei diesen Studien, dass die Zahl der Lachse dramatisch zurückgeht, weswegen bei Projektverantwortlichen die Idee gereift ist, mit einer Ausbringung von Phosphatdünger im See in den ökologischen Kreislauf einzugreifen. So will man die Produktion von Algen anregen, um darauf aufbauend die Nahrungsketten im See zu unterstützen.

Doch nicht nur das Forschungsteam vor Ort ist sich uneins, auch Anna treibt die Frage einer potentiellen Düngung und den Folgen dieses Eingriffs in die Natur um quält sie stetig.

Immer wieder bleibe ich an neuen Informationen hängen. Dabei habe ich diese Studien schon tausendmal gelesen. Die berühmten Nutrient Enrichment Programmes im Kootenay-Reservat. Salmon Management im Great Central Lake. Fast alle Studien berichten von einem positiven Effekt. Die Algen wachsen immer besser. Aber anschließend kann das Nahrungsnetz unendlich viele Wege nehmen. Reine Glückssache, ob die Fischerträge steigen. Ob die Grundannahmen stimmen. Algenblüten sind erst recht unkontrollierbar. Selten habe ich Studien gelesen, die ihre Knowledge Gaps so deutlich zugegeben haben.
Sobald wir mit dem Düngen aufhören, wird eh alles nur noch schlimmer werden. Neunundneunzig Prozent des Düngers wird niemals bei den Lachsen ankommen. Er landet irgendwo im System, wird sich erst in Jahrhunderten bemerkbar machen. Nichts, was jemals untersucht worden wäre. Wie soll ich mich da für eine Seite entscheiden?

Sophia Klink – Kurilensee, S. 129

Diese Zwiespalt beschreibt Sophia Klink eindringlich, indem sie höchst detailliert von den biologischen Abläufen und dem Forschungsalltag dort am Kurilskoye erzählt. Schwitzen in der Sauna, Erkundungsgänge rund um die Forschungsstation, dazu wissenschaftliche Papers und ein Blick der Erzählerin, der sogar auf die Zellebene zielt und der die Ganzheitlichkeit und die Fragilität von ökologischen Systemen über ganze Monate hinweg in den Blick nimmt.
Das führt unter anderem dazu, dass Kurilensee mit der genauesten und vielleicht auch schönsten Beschreibung eines Moskitostichs seit Christian Krachts Imperium aufwarten kann.

Nature Writing und Science Writing

Es ist eine Mischung aus Nature Writing und Science Writing, der den wissenschaftlichen Hintergrund seiner Autorin gar nicht verhehlen will. Denn Sophia Klink promovierte selbst über die Symbiose von Bakterien und Pflanzen und verbrachte einen Forschungsaufenthalt in Russland, was sich alles deutlich in ihrem Debüt niederschlägt. Manchmal kippt das Ganze dabei fast in den Ton eines wissenschaftlichen Papers, zeigt aber auch den strukturierten und mikroskopisch feinen Blick der Erzählerin, wenn es etwa um die Frage eines Eis geht, der diesen Blick vom Allgemeinen zum Feinen deutlich zeigt.

Manchmal vermisse ich ein hartgekochtes Ei zum Frühstück oder ein verlorenes Ei in der Suppe. Als Studentin habe ich oft ein Ei in meine Suppe geschlagen und zugeschaut, wie das Eiweiß von den Rändern ausgehend milchig wird. Ich stelle mir die Albumine vor, die unwiderruflich denaturieren. Wie sich die Tertiärstruktur verändert, oder was auch immer die optische Dichte erhöht. Die Wasserstoffbrücken brechen auf, hydrophobe alpha-Helices krümmen sich nach außen. Die Proteine bleiben aneinanderkleben, flocken aus zu einem gestockten Mantel aus Eiklar.

Sophia Klink – Kurilensee, S. 88

Das Ei ist dabei ein hervorragendes Symbol nicht nur für die Erzählweise des Romans, es stellt auch das zentrale Thema der Fertilität in den Mittelpunkt, das mit zunehmender Dauer im Roman Einzug hält. Denn obschon die ersten hundert Seiten des Romans in ihrer Beschreibungsfülle Gefahr laufen, dass mit fortschreitender Dauer wieder das dem Genre Nature Writing innewohnende Problem der Spannungslosigkeit auftritt, entgeht Sophia Klink diesem Problem geschickt. Denn nicht nur, dass mit dem Thema der möglichen Düngung des Sees ein Dilemma etabliert wird, zu dem sich die Figuren verhalten müssen. Auch ist die Frage des eigenen Nachwuchses ein Thema, das immer wieder in Kurilensee mitschwingt.

Fertilität und Fragilität

Kann man als Naturwissenschaftlerin mit genauem Blick für die Zerbrechlichkeit unseres Lebens und unserer Existenz im ökologischen Kreislauf guten Gewissens Kinder bekommen? Ist ein Kinderwunsch legitim, was macht ein solcher Wunsch mit einem, wie verändert sich der Körper – und ist es vernünftig, sich selbst fortzupflanzen? Mit dem Blick der auch sich selbst sezierenden Biologin nähert sich Klinks Erzählerin dieser Frage und setzt dabei noch eine Spur vor anderen, wie dem jüngst mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Roman Halbinsel von Kristine Bilkau an, in dem diese subtil die Frage von der Erziehung von Kindern in Zeiten kollabierender Ökosysteme umkreiste.

Das alles macht aus Kurilensee einen Roman, der vielschichtiger ist, als es zunächst den Anschein hat. Mit dem mikroskopisch genauen Blick- und Denkapparat seiner Erzählerin tauchen wir immer tiefer in die Welt des Calderasees dort in der russischen Einöde ein und bekommen ein Gespür für die Komplexität und Fragilität der ökologischen Systeme, in denen wir uns als Menschen eigentlich nur falsch verhalten können. Wer Freude an dem präzisen und ausgreifenden Erzählen von Autor*innen wie Esther Kinsky, Ulrike Draesner oder Marion Poschmann hat, dem dürfte auch Kurilensee ausnehmend gut gefallen!


  • Sophia Klink – Kurilensee
  • ISBN 978-3-627-00330-2 (Frankfurter Verlagsanstalt)
  • 224 Seiten. Preis: 24,00 €