David Park – Reise durch ein fremdes Land

Wieder einmal führt eine Reise nicht nur zu einem Ziel, sondern vor allem ins Innere des Reisenden selbst. Im Roman Reise durch ein fremdes Land schickt der nordirische Autor David Park einen Vater auf die tiefverschneiten Straßen Schottlands, um seinen Sohn zum Weihnachtsfest nach Hause zu holen. Die Motivation dieses halsbrecherischen Weihnachtskommandos offenbart sich erst später, dann aber mit aller Wucht.


Weihnachten, das ist noch immer das Fest der Familie. Unzählige Filme, Romane und Lieder variieren das Thema des Nachhause Kommens, allen voran der jüngst verstorbene Chris Rea hat mit seinem Evergreen Driving home for christmas das Topos der Weihnachtsreise musikalisch verewigt.

Menschen machen sich auf den Weg, um im Kreise ihrer Familie Weihnachten zu feiern, mal harmonischer, mal chaotischer. Aber immer ist es eine Reise, die Menschen wieder in ihre Heimat zurückbringt und dabei auch Erinnerungen an früherere Weihnachtsfeste weckt.
Eine Variante dieses Motivs liefert David Park in seinem Roman Reise durch ein fremdes Land, der allerdings nicht die jüngere Generation nach Hause reisen lässt, sondern einen Vater in den Mittelpunkt stellt, der sich aufmacht, seinen Sohn nach Hause zu bringen.

Von Nordirland nach Schottland und zurück

Dieser liegt krank an seinem Studienort in Sunderland an der Ostküste Großbritanniens danieder und so ist es am Vater, den verlorenen Sohn nach Hause zu bringen. Eine Reise mit dem Flugzeug scheidet aufgrund der starken Schneestürme aus und so macht sich der Vater am Steuer seines Autos von Nordirland aus auf den Weg, um seinen Sohn von der britischen Insel zu sich nach Hause nach Nordirland zu holen.

„Ich fahre ganz vorsichtig. Hauptsache, sicher hinkommen, ganz egal wie lang es dauert, und ihn wieder nach Hause bringen.“
„Er darf an Weihnachten nicht allein sein, besonders dieses Weihnachten nicht.“, sagt sie ebenso sehr zu sich wie zu mir. „Nicht mal, wenn es ihm gut gehen würde. Und wenn es ihm jetzt so schlecht geht … Wir müssen ihn nach Hause bringen.“
Wir müssen ihn nach Hause bringen“ Der Satz kann in dem vereisten Wagen nirgendwohin, hängt in der Luft und erstarrt zu Schweigen.

David Park, Reise in ein anderes Land, S. 14

So kämpft sich der Vater nun über verschneite Straßen, setzt mit der Fähre von Nordirland nach Schottland über und frisst Meile um Meile in der vereisten und verschneiten Landschaft dort im Norden Großbritanniens. Unterbrochen von Anrufen seiner Frau Lorna und seinem Sohn Luke reist er immer weiter, seinem Ziel entgegen. Warum aber die Dringlichkeit geboten ist, den kranken Sohn just zu diesem Weihnachtsfest zu sich nach Hause zu holen, das entfaltet sich erst langsam in diesem reflexiven Text, der mindestens in dem Maß eine Reise zu Toms Gefühlen und Empfindungen ist, wie er auf seiner Reise Meile um Meile hinter sich bringt.

Eine Reise nach England – und eine Reise zu sich selbst

David Park - Reise durch ein fremdes Land (Cover)

Immer wieder gleiten die Gedanken Toms ab, landen bei seiner Familie und den Fliehkräften, denen diese ausgesetzt ist und war. Seine Herkunft, sein Werden zu einem Vater und die Gefahren, die das Leben als Familie bereithält, all das umkreist Reise durch ein fremdes Land.

Ohne an dieser Stelle zu viel verraten zu wollen, ist David Parks Text einer, der sich trotz des weihnachtlichen Rahmens und der nur vordergründigen Harmonie des Weihnachtsfest auch mit Traurigkeit und der Macht des Schicksals befasst.

Je länger man mit Tom an Bord seines Autos über verschneite Straßen reist, umso besser lernt man ihn kennen und ist aufgrund des reflexiven Charakters ganz eng dran an ihm. Parks Text kennt nämlich keine Kapitel und so manches Mal nicht einmal einen Punkt, stattdessen ist sein Text ein wirklich intensiver Strom an Gedanken und Meilen, bei dem sich die äußere Reise und inneren Gedanken immer wieder ablösen und ineinander übergehen.

Fazit

Wer weihnachtliche Besinnlichkeit und Plätzchenromantik sucht, der sieht sich bei Reise durch ein fremdes Land schnell getäuscht. Denn David Parks Text verweigert sich allzu wohlfeiler Harmonie und blickt lieber auf den Kern von Weihnachten, der sich ja mit der Familie, dem Zusammenhalt und dem Ausgestoßensein befasst.

Sein von Michaela Grabinger übersetzter Text ist ein anspruchsvolles Buch, das keine einfachen Botschaften bereithält, sondern stattdessen mit existenzialistischer Tiefe und Einsicht überzeugt, während man sich mit seinem Helden über die verschneiten Straßen der britischen Insel kämpft.


  • David Park – Reise durch ein fremdes Land
  • Aus dem Englischen von Michaela Grabinger
  • ISBN 978-3-8321-6652-6 (Dumont)
  • 192 Seiten. Preis: 13,00 €

Fjodor M. Dostojewski – Weiße Nächte

Vier Nächte lang treffen sich ein Mann und eine Frau in Fjodor M. Dostojewskis Erzählung Weiße Nächte in Sankt Petersburg. Dabei müssen beide feststellen, dass es ganz schön kompliziert sein kann, das mit der Liebe.


Weiße Nächte ist eine kurze Erzählung Fjodor Michailowitsch Dostojewskis, die aus dem Frühwerk des 1821 geborenen Autoren stammt. Der Insel-Verlag hat das Büchlein nun in einer schmucken Neuausgabe in Übersetzung durch Christiane Körner neu aufgelegt, die nicht nur die Übersetzung sondern auch das Nachwort zu Dostojewskis Text beisteuerte.

Kennt man den in Moskau geborenen Autor heute eher für voluminöse Werke wie Die Gebrüder Karamasow, Schuld und Sühne oder Der Spieler, so fällt dieses frühe Werk schon durch seinen schmalen äußeren Rahmen auf. Gerade einmal knapp 110 großzügig gesetzte Seiten weist die Erzählung auf, die auf vielen Seiten von Bildern der Künstlerin Stella Dreis ergänzt wird.

Sommer in Sankt Petersburg

Fjodor M. Dostojewski - Weiße Nächte (Cover)

Wir befinden uns in Sankt Petersburg, das sich als fast menschenleer präsentiert. Aufgrund des anstehenden Sommer haben sich fast alle der Stadtbewohner bereits auf ihre Datschen verabsentiert und so durchstreift der Erzähler alleine die Straßen und hält Zwiesprache mit den Häusern.

Nach eigenem Bekunden ist der Mann ein Flaneur und Träumer, der sich nicht nur in den Straßen, sondern sich ein ums andere Mal auch in seinen Gedanken und Sätzen verheddert.
Bei einem dieser Streifzüge trifft der Erzähler nun auf ein junges Mädchen, das nicht nur aufgrund ihres gelben Hütchens die Neugier des Mannes weckt. Vor allem ihr Schluchzen beschäftigt ihn, weshalb der Träumer den Grund für ihre Traurigkeit erfahren will.

Ein Mann ist es, der für den Zustand des Mädchens verantwortlich ist, wie die junge Frau im Gespräch gesteht. Denn eigentlich steht das Mädchen namens Nastenka unter dem Pantoffel ihrer alten Babuschka. Dies hat sogar so weit geführt, dass die blinde Alte das Mädchen an ihre eigene Kleidung angenäht hat, um eine Annäherung an das andere Geschlecht zu vermeiden. Doch wie es so ist mit den Plänen, so erwies sich auch die Absicht der Babuschka als nicht praktikabel. Denn Nastenka ist in unsterblicher Liebe zu einem jungen Mann aus der über ihr befindlichen Wohnung entbrannt und hat diesem ihre Liebe gestanden.

Liebeswirren in den weißen Nächten

Doch nun wartet sie auf Rückmeldung des Herren in Form eines Briefs und gerät darüber in höchste Erregung. Nicht leichter wird die Situation dadurch, dass der Erzähler zwar verspricht, bei der Kontaktaufnahme mit dem jungen Herren behilflich zu sein, anstelle reiner Nächstenliebe nun aber selber in Liebe zu der jungen Frau entbrennt, derer beider Lebenslinien (beziehungsweise derer drei, den Nebenbuhler eingeschlossen) sich nun in vier Nächten begegnen.

Zwischen Friendzone und unausgesprochenem Begehren mäandert die Handlung des Textes, den Übersetzerin Christiane Körner zurecht eher als Dramentext denn als wirklichen Roman charakterisiert. Denn die Handlung von Weiße Nächte besteht weitestgehend aus Gedanken und Dialogen, die das Gefühlschaos illustrieren, in dem sich Dostojewskis Figuren verfangen haben.

„Bleiben Sie, hören Sie mir zu: können Sie warten?
„Warten? Worauf?“
„Ich liebe ihn; doch das vergeht, das muss vergehen, es kann nicht anders sein; es vergeht schon jetzt, das spüre ich… Wer weiß, vielleicht vergeht es heute schon, weil ich ihn hasse, weil er über mich gelacht hat, während Sie hier zusammen mit mir geweint haben, weil Sie mich nicht abgewiesen hätten wie er, weil Sie mich lieben und mich nie geliebt hat, und schließlich, weil ich Sie liebe… Ja, ich liebe Sie auch! So, wie Sie mich lieben; ich habe es Ihnen ja schon einmal gesagt, Sie haben es selbst gehört – ich liebe Sie, weil Sie besser sind als er, weil Sie edler sind als er, weil er, weil er…“
Die Ärmste war so aufgewühlt, dass sie nicht zu Ende sprach, ihren Kopf auf meine Schulter, dann an meine Brust legte und bitterlich weinte.

Fjodor M. Dostojewski – Weiße Nächte, S. 96

Mit gelungener künstlerischen Ebene

Wer liebt nun wen und wem gilt die wirkliche Sympathie Nastenkas? Aus diesem Chaos in den Sommernächten Sankt Petersburgs strickt Dostojewski einen schon fast hektisch zu nennenden Text, der von den ruhigen Bildern Stella Dreis kontrastiert und ergänzt wird.

Mit fast scherenschnittartigen Silhouetten setzt sie ihre Figuren vor Hintergründe mit Farbverlauf, die so manches Mal an das nordische Spektakel der Polarlichter erinnern. Zuneigung, Einsamkeit und Fantasie, es steckt alles drin in den Bildern der in Bulgarien geborenen Künstlerin, die mit ihrer Arbeit vor zwei Jahren bereits für den renommierten Astrid Lindgren-Bilderbuchpreis nominiert war.

Mit ihrer Arbeit verleiht die Künstlerin dem 1848 erstmals erschienen Text eine Zeitlosigkeit, die Weiße Nächte gut zu Gesicht steht und die das kleine Büchlein vollends zu einem bibliophilen Kunstwerk macht.

Möchte man in den Kosmos Fjodor M. Dostojewskis mal hineinspitzeln oder eine andere Facette des russischen Schriftstellers abseits der bekannten Werke kennenlernen, dann empfiehlt sich die Lektüre von Weiße Nächte unbedingt. Und wer in Liebeswirren verstrickte Charaktere schätzt, für den ist die Lektüre sowieso ein Gewinn!


  • Fjodor M. Dostojewski – Weiße Nächte
  • Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Christiane Körner
  • ISBN 978-3-458-19537-5 (Insel-Bücherei)
  • 117 Seiten. Preis: 15,00 €

Anselm Oelze – Die da oben

Das junge Paar unten, die alteingesessenen Mieter darüber. In seinem Roman Die da oben blickt der Autor Anselm Oelze in das Leben zwei unterschiedliche Paare in einem Mietshaus in Leipzig – leider mit zu wenig Erkenntnisgewinn, als dass das Buch überzeugen könnte.


Mit seinem Debüt Wallace ließ der junge Schriftsteller Anselm Oelze aufhorchen. Damals erzählte er mithilfe von schrulligen Figuren von Alfred Russel Wallace, dem Mitentdecker der Evolutionstheorie, der heute dem Vergessen anheimgefallen ist. Sein Debüt weckte zumindest bei mir Assoziation zu Christian Krachts Imperium und Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt — nicht die schlechtesten Assoziation für ein literarisches Debüt.

Auf das Debüt folgte der Krisenroman Pandora sowie die Reportage Die Grenzen des Glücks über das Flüchtlingselend auf Lesbos und unsere Implikationen mit der himmelsschreienden Situation vor Ort. Mit Die da oben legt Anselm Oelze nun wieder Roman vor, mit dem er im Göttinger Wallstein-Verlag eine neue literarische Heimat gefunden hat.

Leider muss man nach der Lektüre des Romans konstatieren, dass Oelze auf dem Weg des Verlagswechsels leider auch irgendwo sein erzählerisches Gespür für Krisen und Konflikte und deren politische Dimension abhandengekommen sein muss. Denn Die da oben ist auf erschreckende Weise literarisch harmlos und schwach.

Zwei Paare im Leipziger Mietshaus

Die erzählerische Grundanlage ist dabei eine durchaus spannende. Ein Jahr bildet den erzählerischen Rahmen des Romans, der mit dem Einzug des jungen, queeren Paares Tess und Moyra in ein Mietshaus in der Leipziger Lisztstraße seinen Lauf nimmt. Nun endlich der Zusammenzug in eine gemeinsame Wohnung im hippen Leipzig, dazu die Verheißung der Räumlichkeiten im Erdgeschoss, die früher einen Getränkeladen beherbergten und in dem Tess nun als Schneiderin durchstarten möchte. Der Frühling hält viele Verheißungen bereit, bei denen sogar das Touchieren des blauen Twingos mit dem Umzugswagen das junge Glück nicht sonderlich trüben kann.

Im Leben der Twingobesitzer selbst ist jenes Glück allerdings schon lange nicht mehr in diesem Maße zuhause, wie es noch für das junge Paar den Anschein hat. Bei den Autobesitzern handelt es sich um Rolf und Heike, die die Wohnung über Tess und Moyra bewohnen, und das schon seit Zeiten vor der Wende.

Mit der eigenen Tochter ist es schwierig, obwohl Heike gerne mehr Kontakt mit ihr und den Kindern hätte. Rolf musste sich mit der Geschäftsaufgabe seiner Getränkeoase abfinden, die durch die neue Konkurrenz von Discountern und Lieferdiensten bedingt ist – nur um jeden Tag direkt vor der eigenen Nase Tess nun als Schneiderin in den Räumlichkeiten werkeln zu sehen, die für ihn so lange sein Leben bedeuteten.

Während der Roman nun im Jahreszeitenlauf voranschreitet, wohnt man dem Leben im Mietshaus bei, sieht Affären, Annäherungen und Enttäuschungen, verfolgt den Wunsch nach Kindern ebenso wie die Folgen der Verknappung des Wohnraums.

Alles bleibt hinter den Erwartungen zurück

Anselm Oelze - Die da oben (Cover)

Was sich dabei in der Theorie durchaus verheißungsvoll liest, bleibt in der Realität leider hinter allen Erwartungen zurück. Das Nebeneinander der zwei Paare, in dem so viel Potential geruht hätte, findet leider über das Niveau einer buchgewordenen Episode Lindenstraße nicht hinaus.

Unterschiedliche Generationen im Boomtown Leipzig, das parallele Leben von Alteingesessenen und Neuhinzugezogenen, die jungen Frauen und die schon Dagewesenen, der begehrte Wohnraum als Raum der Entfaltung und Spiegel des Selbst, die Verdrängungsbewegungen, all das hätte alles so viel Möglichkeiten geboten, diese Aspekte in ihrer Vielschichtigkeit herauszuarbeiten, auf die soziologischen bis historischen Dimensionen dieses Miteinanders zu blicken, womöglich sogar das Politische im Privaten und umgekehrt herauszuarbeiten: aber nichts da.

Das Buch bleibt die literarische Bearbeitung der gesellschaftlichen „Spaltung“, die der Klappentext verspricht, völlig schuldig. Zwar ist die Schwarze Identität von Moyra ein kleines Thema im Buch und in einer Szene vor Gericht kommt es zu einem Dirk Oschmann-haften Wutausbruch Rolf vor Gericht, ansonsten nutzt Oelze das innewohnende Konfliktpotential zwischen den beiden Generationen, den Lebensentwürfen zwischen Heteronormativität und Queerness, Ost und West, den Erfahrungen zwischen DDR und neuer Lebens- und Arbeitswelt, in keiner Weise aus.

Kein Gefühl von Vielschichtigkeit

Stattdessen bleibt der Schauplatz ebenso wie die Sprache austauschbar, schreitet das Buch ohne rechte Höhepunkte voran und beschränkt sich auf die Beschreibung von abgeschnittenen Koniferen, Dellen im Lack und der Tradition der Kurrende-Sängern des Thomanerchors. In interessante Tiefen stößt dieser Text leider zu keinem Zeitpunkt vor und verpasst es leider so auch, wenigstens das Gefühl von Vielschichtigkeit zu vermitteln.

Das ist besonders schade, da Anselm Oelze sein Gespür für Krisen und deren Kulminationspunkte ja mit seinen früheren Werken unter Beweis gestellt hat. Die da oben bleibt leider zahnlos und hinter anderen, schon erschienen Werken zurück.

Von den (vermeintlichen) Spaltungen der Gesellschaft mögen die Soziologen besser zu erzählen, die Brüche zwischen DDR und der Nachwendewelt haben andere Autor*innen wie Annett Gröschner oder Christoph Hein in diesem Jahr schon überzeugender herausgearbeitet. Blickt man statt der thematischen Ebene auf die literarische Ebene des Buchs, wird es auch nicht besser, denn sprachlich kann Anselm Oelzes Buch sich vom Gros der deutschsprachigen Literatur ebenfalls nicht abheben.
Obschon die Konstruktion des Buchs ein wenig vom Erwartbaren abweicht, zeigen sich im Ganzen dann auch Unklarheiten, was die Personenführung und -entwicklung anbelangt.

Fazit

So ist das alles deutlich zu wenig, als dass Die da oben irgendwelche neuen oder besonders gut herausgearbeiteten Themen überzeugen könnte. Vielleicht hat die Kurzbeschreibung des Buchs bei mir auch nur falsche Erwartungen geweckt, so oder so kann ich nur sagen: Schade um das nicht genutzte Potential dieser Geschichte.


  • Anselm Oelze – Die da oben
  • ISBN 978-3-8353-5977-2 (Wallstein)
  • 275 Seiten. Preis: 24,00 €

Lili Cassel-Wronker – A London Diary

Ein bemerkenswertes Kunst-Stück hebt der unabhängige Verlag Das kulturelle Gedächtnis mit Lili Cassel-Wronkers A London diary. Denn darin zeichnet und beschreibt die gerade einmal fünfzehn Jahr alte Lili einen Aufenthalt während des Kriegsjahres 1939/1940 bei ihrem Vater in London – und zeigt damit den Alltag im Krieg aus kindlicher Perspektive. Neben der Gestaltung des Buchs ist auch die Geschichte der Autorin selbst beeindruckend.


Ein Mädchen kommt zu Besuch in die Hauptstadt Großbritanniens und führt darüber Tagebuch. Was so alles andere als außergewöhnlich klingt, ist es im Falle von Lili Cassel-Wronker durchaus. Denn nicht nur, dass das Buch als grafisches Gesamtprojekt konzipiert ist, auch die Begleitumstände des Buchs und die Vita von seiner Verfasserin sind außergewöhnlich.

Denn wir schreiben das Jahr 1939, das sich langsam seinem Ende zuneigt. Hitler hat Großbritannien den Krieg erklärt und überzieht die britische Insel mit Angriffen. Kurz zuvor hatte Lili mit ihrer Schwester ihre Heimat in Deutschland verlassen müssen, da die Nazis jüdische Familien spätestens seit den Nürnberger Rassegesetzen immer stärker verfolgten.

Ihr Vater Josef Cassel, eigentlich ein in Berlin ansässiger Arzt, hatte sich 1938 entschlossen, zusammen mit seiner Familie aus Deutschland zu fliehen. Die Ausreise gestaltete sich allerdings schwieriger als gedacht und so wurde die Familie in verschiedene Richtungen zerstreut.

Während sich Josef Cassel als Arzt in London ein neues Leben aufzubauen versuchte, blieben seine Frau und die Großmutter in Brüssel. Die beiden Töchter indes besuchten eine Schule in Surrey, die speziell für junge jüdische Geflüchtete aus Österreich und Deutschland eingerichtet worden war.

Ein Besuch in London 1939

Lili Cassel-Wronker - A London diary (Cover)

Zumindest partiell gelang die Familienzusammenführung im Winter 1939/1940, als Lili und ihre Schwester ihren Vater in London besuchten. Zum Glück für die Nachwelt hielt die damals fünfzehn Jahre alte Lili diesen Besuch in Form eines Tagebuchs fest, indem sie mit klarer Schrift und gespitztem Zeichenstift ihre Eindrücke des Großstadtlebens und der Auswirkungen des Kriegs im Stadtbild und Alltag auf Papier bannte.

Nun hat der Peter Graf, verdienter Bergungsspezialist außergewöhnlicher Bücher, diesen im Deutschen Exilarchiv 1933 – 1945 schlummernden Schatz erstmals der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht.

In der Übersetzung von Beate Swoboda und mit einem Vorwort der Büchner-Preisträgerin Ursula Krechel versehen gibt es die bunt illustrierten Seiten zu entdecken, die von den Freuden eines Kinobesuchs erzählen, bei der die Cassels einem amerikanischen Spielfilm mit der jungen Gloria Jean beiwohnen, Weihnachten mit Gesellschaftsspielen feiern oder bei der Hochzeit ihrer Englischlehrerin zugegen sind.

Neben allen touristischen und gesellschaftlichen Eindrücken finden sich inmitten der bunt illustrierten Seiten aber auch immer wieder Echos des Kriegs, der sich zum Entstehungszeitpunkt des Tagebuchs schon zu einem Weltkrieg ausgewachsen hat. Die Verdunklung oder die Sperrballons am Londoner Himmel zeichnet Lili Cassel-Wronker ebenso wie die Anprobe einer Gasmaske, bei der das junge Mädchen hoffnungsvoll notiert, dass sie hoffentlich nie in die Verlegenheit kommen möge, diese Maske anzulegen.

Eindrücke aus einer Hauptstadt im Krieg

Hellsichtig auch, wie sie mit nur wenigen Strichen den Propagandisten Lord Haw-Haw alias William Joyce als distinguiert-dümmlichen Esel darstellt. Dieser überzog von Deutschland aus die Briten mit Falschmeldungen und Propaganda, um deren Moral zu schwächen. Stattdessen ruft der Agitator bei der aus Deutschland geflohenen Lili eher Abscheu und Lächerlichkeit hervor.

Großartig — nicht nur in persönlich-beruflicher Hinsicht — auch die Seite, in der sich Lili Cassel-Wronker den Vorzügen der britischen öffentlichen Büchereien widmet und neben einer zum Schmunzeln anregenden Zeichnung auch die Erkenntnis festhält, dass das Großartige an diesen Bücherhallen ist, dass „du […] die wunderbarsten oder teuersten Bücher lesen und anschauen [kannst] – ganz ohne Geld.“

Schon früh zeigt sich hier eine Künstlerin, deren Strich das genaue Studium von Modezeitschriften verrät und schon in jungem Alter eine enorme künstlerischer Ausdruckskraft an den Tag legt.
In späteren Jahren verfestigte sich dieses Talent nur noch mehr und Lili Cassel-Wronker wurde in den USA zu einer erfolgreichen Illustratorin und Zeichenlehrerin, die gleich für ihr erstes offizielles Buch mit einem Preis als eines der jahrgangsbesten durch das American Institute of Graphic Arts ausgezeichnet, wie Ursula Krechel in ihrem Vorwort erklärt.
Auch später sollte sie sich in ihren Arbeiten immer wieder auch mit ihrem jüdischen Erbe auseinandersetzten.

Eine Fluchtgeschichte mit Happy End

Und auch wenn das junge Mädchen in ihrem Buch angesichts des in der britischen Hauptstadt nicht gefeierten Silversterfests resignierend festhält, dass ihr angesichts des bevorstehenden Jahres eh nicht zum Feiern zumute ist, so erfreut doch die historische Erkenntnis, dass es ebenjenes Jahr 1940 war, das zumindest für Lili und ihre Familie selbst durchaus Positives bereithielt.

In jenem Jahr gelang nämlich die Familienzusammenführung der Cassels, die gemeinsam die Flucht nach New York antreten konnten. So wurde dann auch wahr, was sie ihrem Buch voranstellt.

Gewidmet ist A London diary nämlich einem Ehepaar in New York, ihren „noch unbekannten Freunden“, wie Lili schreibt. Dass sich diesem Abstand mit der Ankunft der Familie in den USA vielleicht dann Abhilfe geschaffen werden konnte, es ist eine schöne Hoffnung, die die Publikation des Buchs zumindest weckt.


  • Lili Cassel-Wronker – A London diary
  • Aus dem Englischen übersetzt von Beate Swoboda
  • Herausgegeben von Peter Graf
  • ISBN 978-3-946990-86-4 (Verlag Das kulturelle Gedächtnis)
  • 32 Seiten. Preis: 22,00 €

Maria Messina – Sterne, die fallen

Da wohnt ein Sehnen tief in uns, so heißt es in einem populären evangelischen Kirchenlied. Und auch viele der Figuren, die Maria Messinas Erzählungen Sterne, die fallen bevölkern, kennen das in ihnen ruhende Sehnen sehr gut. Die sizilianischen Autorin erkundet dieses Sehnen, indem sie von unglücklichen Verliebten, von Eltern und Kindern, von Auswanderern und Daheimgebliebenen erzählt. Mit einem Auge für Details besieht sie gescheiterte Lebensträume und das Glück, das sich einfach nicht einstellen will.


Die sizilianische Katherine Mansfield, so nannte sie ihr Wiederentdecker Leonardo Sciascia. Der italienische Autor setzte sich sehr für die Autorin ein, die zum Zeitpunkt von Sciascias Entdeckung völlig aus dem literarischen Bewusstsein Italiens verschwunden war. Ein Brand im Archiv hatte sein Übriges dazu getan, das Vergessen der 1887 in Palermo geborenen Autorin zu befördern, bei der lange Zeit noch nicht einmal ihr Sterbedatum feststand, wie das Nachwort von Messinas Roman Das Haus in der Gasse erklärte.

Seit den 1990er Jahren gibt es aber Bestrebungen, Messina diesem Vergessen zu entreißen – und auch der Verlag der Friedenauer Presse tut in Zusammenarbeit mit der Übersetzerin Christiane Pöhlmann sein Übriges dazu, die Wiederentdeckung Maria Messinas hierzulande zu befördern. Neben einer Publikation des bereits erwähnten Romans Das Haus in der Gasse erschien im vergangenen Jahr auch der Roman Eine Blume ohne Blüte, auf das nun die Kurzgeschichten in Sterne, die fallen folgen.

Diese Kurzgeschichten plausibilisieren den Vergleich mit Katherine Mansfield, da beide Schriftstellerin die Kunstfertigkeit in Sachen Erzählungen auf kleinem Raum eint.
Abermals von Christiane Pöhlmann aus dem Italienischen übersetzt bietet der Band sechzehn Erzählungen auf, bei denen es sich in einigen Fälle um deutsche, wenn nicht sogar weltweite Urübersetzungen handelt, die die erzählerische Kraft von Maria Messina unter Beweis stellen.

Figuren im Korsett gesellschaftlicher Konventionen und nicht gelebter Leben

Maria Messina - Sterne, die fallen (Cover)

Sie zeigen eine Autorin mit einem genauen Gespür für die Lebenswelten ihrer Figuren, die sich oftmals in ein Korsett von gesellschaftlichen Konventionen geschnürt sehen. Immer wieder umflort sie die Traurigkeit der nicht gelebten Leben, derer sie sich im Laufe der Geschichten so manches Mal bewusst werden, ohne dass es klar buchstabiert werden muss.  

Mal sehnt sich eine gesellschaftlich höhergestellte Signorina nach dem Leben, das ihr der Besuch einer Hochzeit zweier junger Leute verheißt, dem sie beiwohnt und doch ein Fremdkörper bleibt (Die Signorina). Mal verzehrt sich ein genesender Musiker nach einer Frau, die er in einem gegenüberliegenden Haus erspäht. Mit seinem Geigenspiel möchte er diese betören und für sich gewinnen, wovon Messina ungeheuer sinnlich zu erzählen weiß:

Im Dunkel griff er abermals zu seiner Geige. Abend für Abend ließ diese nun ihr Lied erklingen. Sie wandte sich einzig an die Unbekannte, die ihr im Dunkel am offenen Fenster lauschte.

Die warme Stimme der Geige floss über die verödete Piazza und stieg im Duft des Gewürzstrauchs hinauf zum besternten Himmel. Die langen, leidenschaftlichen Töne zitterten mit der Zartheit, welche sich in der romantischen Seele des Rekonvaleszenten, die während der Krankheit noch feinfühliger geworden war, fand. In diesen Tönen erzitterten die Freude über die Genesung ebenso wie die Wehmut der Stunde, die bange Hoffnung eines gesunden Jungen auf sein Morgen ebenso wie das traurige Sehnen nach den Dingen von gestern und die Glut eines grenzenlosen Verlangens, das keinen Namen besaß.

Maria Messina – Sterne, die fallen, S. 30

Sehnen und Sehnsucht allerorten

Da ist es wieder, das Sehnen und das Verlangen, das sich durch die Geschichten zieht. Dass sich die angebetete junge Frau sich als taub erweist, ist die bittere Pointe der Geschichte (Sandro und seine Geige), zu der sich viele weitere Erzählungen gesellen, die von Hoffnung, Glück und Enttäuschungen erzählen.

Mal geht es um Auswanderer, deren Pläne von einer Augenkrankheit durcheinandergewirbelt werden (La mèrica), mal um die Möglichkeit einer Ehe im fortgeschrittenen Alter, die sich dann aber motivgemäß als Schaum erweist (Bevor…). Und immer wieder die Sehnsucht, Enttäuschung und Melancholie, die die Erzählungen durchweht

Und so sah man sie tagtäglich. Am Ende jener Menge, die über den Corso flanierte, leuchtet in den schwarzen Wogen aus Umhängen und Mänteln das rote Kleid Liborias. Wie drückte Don Pepè es aus? Eine Stange Siegellack. Am Abend saßen sie wie eh und je auf der Bank vor dem verlassen daliegenden Park, verharrten reglos und sprachen kein einziges Wort. Nur die Bäume, die sanft wogten, schienen von traurigen Dingen zu flüstern.

Maria Messina – Sterne, die fallen, S. 180

Fazit

Die unterschiedlichen Stände, die Möglichkeiten der ungelebten Leben, all das scheint in Maria Messinas präzisen Erinnerungen auf, die sich auch in der Kurzform als eine wirkliche Entdeckung erweist. Mit leichten dialektonalen Einsprengsel fein von Christiane Pöhlmann übersetzt sind diese vielschichtigen Erzählungen eine echte Entdeckung, die einmal mehr den Wunsch verstärken, dass die Bewusstwerdung dieser literarischen Autodidaktin (ihr Vater, ein Schulinspektor, verweigerte Messina den Schulbesuch und damit jegliche literarische Bildung, wie die Übersetzerin in ihrem Nachwort ausführt) möge eine endgültig dauerhafte sein!


  • Maria Messina – Sterne, die fallen
  • Aus dem Italienischen von Christiane Pöhlmann
  • ISBN 978-3-7518-8047-3 (Friedenauer Presse)
  • 236 Seiten. Preis: 24,00 €