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Tammy Armstrong – Pearly Everlasting

Es ist ein ungewöhnliches Paar, das im Mittelpunkt des Romans der kanadischen Autorin Tammy Armstrong steht. In Pearly Everlasting erzählt sie von der Bindung der jungen Pearly zu ihrem „Bruder“ Bruno. Ein menschlicher Bruder ist es aber nicht, vielmehr handelt es sich um einen Bär, für dessen Wohl das junge Mädchen einen hohen Preis zu zahlen bereit ist.


Wir schreiben das Jahr 1934. In den Wäldern Kanadas lebt die nach der Silberimmortelle benannte Pearly zusammen mit ihrer Familie in einem Holzfällerlager, das so archaisch wirkt, dass es auch hundert oder zweihundert Jahre früher sein könnte. Als Koch versorgt Pearlys Vater Ansell die Truppe des Camp 33 unter ihrem zwielichtigen Anführer Swickers mit Essen, während Pearly zusammen mit ihrer Schwester und Mutter geborgen in den wilden Wäldern aufwächst.

Flößer und Holzfäller versehen ihre kraftraubende Arbeit, bei der auch immer wieder Menschen sterben. Während die Holzfäller vom Geist Old Jack fabulieren, der in den Wäldern hausen soll und sich seine Opfer sucht, lebt Pearlys Familie ihr einfaches, aber erfüllendes Leben in einer der Holzhütten. Insbesondere ein weiteres, ganz besonderes Familienmitglied sorgt dabei im Camp für Aufsehen und Chaos. Denn Bruno, den Pearly ihren Bruder nennt, ist ein Bärenjunges.

Eine bärige Lektüre

Schreiend, zahnlos und blind, so kam Bruno in die schwere Wolljacke meines Vaters gewickelt ins Camp. Und von dem Augenblick an, als mein Vater ihn neben mich in den Weidenkorb legte, suchte Bruno meine Nähe. Es wäre zu grausam gewesen, ein solches verwaistes Geschöpf einfach verhungern zu lassen, sagte mein Vater. Meine Schwester Ivy tanzte um ihn herum und bettelte, er möge Bruno in ihre Hände legen. Und die Waldarbeiter kamen scheu herein und hofften, mit ihren groben Knöcheln über seinen Kopf streicheln zu dürfen.

Also wiegte Mama uns beide auf ihrem Schaukelstuhl mit der Korblehen. Neben ihr flackerte die Flamme der Petroleumlampe im Windzug und warf lange Zerrschatten an die rauen Wände. Und in diesem Stuhl stillte sie uns beide und sagte: „Das hier ist dein Bruder, und das hier ist deine Schwester“.

Tammy Armstrong – Pearly Everlasting, S. 15

Doch dann kommt es zu einer vielfachen Tragödie dort im Waldarbeiterlager. Pearlys Mutter und Schwester Ivy sterben, der Vorarbeiter Swickers wird ermordet, tatverdächtig ist Bruno – und dieser ist dann auch noch aus dem Camp 33 verschwunden.

Pearly Everlasting auf den Spuren ihres Bärenbruders

Tammy Armstrong - Pearly Everlasting (Cover)

So macht sich Pearly nun daran, die Spur ihres Bärenbruders aufzunehmen, um ihn wieder nach Hause zu bringen. Sie bricht überstürzt in die Wildnis auf, um Witterung ihres Bärenbruders aufzunehmen. Ihr Vater, der in den entscheidenden Stunden nicht anwesend war, macht sich nach seiner Heimkehr ins Camp wiederum daran, Pearly und bestenfalls auch Bruno aufzuspüren.

Und so beginnt nun eine doppelte Suche: die von Pearly nach Bruno und die ihres Vaters nach seiner Kindern. Es ist eine Suche, die die Figuren weit voneinander entfernen wird, alle drei durch halb Kanada führen wird und die sie in Kontakt mit Elefanten, gefährlichen Bären und ebenso gefährlichen Menschen bringen wird.

Pearly Everlasting ist das, was man gemeinhin mit der Binse atmosphärisch dicht erschlägt. Die kanadische Natur in all ihrer Rauheit ist hier ein eindrucksvoll eingefangener Spielpartner von Pearly und Bruno. Die beißende Kälte im Holzfällercamp und das gefährliche Tun der Flößer und Fäller, die schon fast magisch wirkende Stimmung in den Wäldern, in den möglicherweise der Geist des Old Jack umgeht oder die Kontakte und Bekanntschaften, die Pearlys Vater auf seiner Suche nach seiner Tochter und Bruno schließt. Überall hier kommt Tammy Armstrongs Talent für Atmosphäre und eindrückliche Beschreibungen zum Tragen (formidabel aus dem kanadischen Englisch von Peter Torberg ins Deutsche übersetzt).

Fazit

Nach Clara Arnauds Im Tal der Bärin ist Pearly Everlasting schon der zweite Roman in diesem Literaturjahr, der sich literarisch dem Spannungsverhältnis von Bär und Mensch verschreibt. Und ebenso gerne wie das Buch der Französin möchte ich auch Tammy Armstrongs Roman empfehlen, der mit seiner Mischung aus Nature Writing, Entwicklungsroman und Abenteuerroman á la Jack London eine gelungene literarische Mischung darstellt.


  • Tammy Armstrong – Pearly Everlasting
  • Aus dem kanadischen Englischen von Peter Torberg
  • ISBN 978-3-257-07339-3 (Diogenes)
  • 368 Seiten: Preis: 25,00 €
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Louisa Luna – Abgetaucht

In ihrem neuen Fall bekommt es die Privatermittlerin Alice Vega mit einer Bande junger Neonazis im ländlichen Oregon zu tun. Louisa Luna beschert ihrer Heldin mit Abgetaucht einen Fall, in dem sie wieder einmal unter Beweis stellen muss, dass sie hart im Nehmen ist – und dass sie noch härter austeilen kann.


Schon einmal durfte Alice Vega zusammen mit ihrem Partner Max Caplan auf dem deutschen Buchmarkt ermitteln. Tote ohne Namen war er zweite Fall der Reihe, der nun mit Abgetaucht der dritte Fall folgt. Darin bekommt es Vega mit einem kuriosen Fall zu tun. Das betrifft sowohl den Auftraggeber als auch den Fall selbst. Denn am 17.11.1984 wurde der Footballspieler Zeb Williams zum letzten Mal gesehen, als er ein Spiel mit seiner Mannschaft bestritt. Anstelle auf dem Feld in den letzten Sekunden des Spiels wichtige Punkte zu machen, rannte Williams vom Spielfeld und blieb seitdem verschwunden.

Um dieses Verschwinden des vielversprechenden Spielers ranken sich viele Mythen, die sich mit dem zunehmenden Dauer des Verschwindens verselbstständigen. Auch Vega muss sich nun damit auseinandersetzen, denn sie wird heimlich vom jetzigen Gatten der Frau beauftragt, die damals mit Zeb Williams liiert war. Er will endlich Klarheit über das Verschwinden und so begibt sich Vega nun nach Oregon ins kleine Städtchen Ilona, wo sich die Spuren von Zeb Williams verlieren.

Ein verschwundener Footballspieler

Vor Ort stößt sie bei ihren Recherchen auf eine Lehrerin, die Alice Vega bei ihrem Fall nur weiterhelfen will, wenn auch Vega etwas für sie tut. Denn die Lehrerin und der ganze Ort werden von einer Gruppe Jugendlicher terrorisiert, die unter dem Namen Liberty Pure ihren Fantasie einer weißen Übermacht anhängen. Das, was durch die Wahl Donald Trumps und die Verrohung des Diskurses überall in den USA verstärkt zum Vorschein kommt, auch in Ilona ist es inzwischen an der Tagesordnung. Anhänger der Theorie der Übermacht der weißen Bevölkerung, die durch gute Verbindungen zu den Polizeibehörden weitestgehend ungestört ihrer Propaganda und Hetze frönen können.

Louisa Luna - Abgetaucht (Cover)

Doch mit Alice Vega haben sich die Jugendlichen die falsche Gegnerin ausgesucht. Denn wenn sich die Ermittlerin in einen Fall verbissen hat, lässt sie sich auch von Drohungen und Gewalt nicht einschüchtern. Nicht einmal, wenn diese Gewalt auch auf ihren Partner Max Caplan und dessen Tochter übergreift.

Abgetaucht erzählt von neonazistischen Strukturen und dem Gefühl der Überlegenheit, das solche Gruppe wie die im Buch beschriebenen Liberty Pure mit der kruden Mischung aus Libertalismus, Nationalismus und Rassismus inzwischen immer ungehemmter ausleben. Für den Kampf gegen solche Strukturen und Verflechtungen braucht es eine Figur wie Alice Vega, die für die Durchsetzung ihrer Ziele auch nicht vor Gewalt zurückschreckt.

Eine Bestandsaufnahme des ländlichen Amerikas

Neben dieser Eine Frau gegen das System-Erzählung ist Abgetaucht auch eine Bestandsaufnahme des ländlichen Amerikas in der Gegenwart. Eine Betandsaufnahme, die wenig Grund zur Hoffnung gibt. Denn in Lunas Oregon werden wenige Reiche immer reicher, raffen Grundbesitz und Wohlstand, während sich der Rest der Bevölkerung in Trailerparks zurückzieht, Lehrerinnen am System zu verzweifeln drohen und die Polizei korrupt bis überfordert ist.

Nein, wirklich positiv kann man auf die zukünftige Entwicklung Amerikas aufgrund dieser Lektüre nicht schauen – und die politische Realität sieht auch nicht unbedingt vielversprechender aus.

Eine Idee weniger überzeugend als der erste bei Suhrkamp erschienene Roman ist dieser von Karin Diemerling ins Deutsche übertragene Krimi. Denn die Balance zwischen den Ermittlungsfiguren Alice Vega und Max Caplan gerät hier in Schieflage. Während Max in Depressionen und Angst um seine Tochter versunken ist, kämpft Vega weitestgehend alleine gegen das Schweigen über den Verbleib Zeb Williams‘ und die Atmosphäre von Einschüchterung und Angst, die die junge Neonazi-Bande verbreitet. Somit kann von einem Ermittlungsduo hier nur eingeschränkt die Rede sein.

Das ist insgesamt freilich immer noch deutlich besser und überzeugender als das Gros sonstiger amerikanischer Serienkiller-Produktion, die den deutschen Markt überschwemmen. Legt man aber den formidablen ersten, auf Deutsch erschienenen Krimi Tote ohne Namen für einen Vergleich zugrunde, so hat Abgetaucht hier das Nachsehen und fällt etwas gegen jenen Band ab. Dennoch ist auch dieses Buch ein starker Krimi, der im Kleinen der Provinz das findet, was sich im Großen in den USA auch gerade abzeichnet.


  • Louisa Luna – Abgetaucht
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Diemerling
  • ISBN 978-3-518-47377-1 (Suhrkamp)
  • 456 Seiten. Preis: 18,95 €
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Chris Whitaker – In den Farben des Dunkels

Eine Gefangenschaft von 307 Tagen und eine Suche, die Jahrzehnt dauern wird. Sie beschreibt der britische Autor Chris Whitaker in seinem neuen Roman In den Farben des Dunkels und liefert damit einen Roman ab, der unter die Kategorie Epos fällt.


Mit Chris Whitaker hat der Piper-Verlag einen wirklichen Überraschungserfolg eingekauft. So schaffte es sein deutsches Debüt Von hier an bis zum Anfang auf Anhieb in die Spiegel-Bestsellerliste und sammelte begeisterte Leser*innen und fast 7000 Rezensionen auf der Bewertungsseite eines großen Buchhändlers. ein

Vor zwei Jahren folgte dann Was auf das Ende folgt, bei dem das Echo dann allerdings verhaltener ausfiel. Das erklärte sich mit der nicht ganz so überzeugenden Qualität des Buchs, das eigentlich aus Whitakers literarischer Frühphase stammte. Erschienen war es im Original vor Von hier bis zum Anfang erschienen war, das seinen Durchbruch als Schriftsteller markierte – und das merkte man dem Buch auch an.

Ein neuer Roman aus der Feder Chris Whitakers

Nun gibt es mit In den Farben des Dunkels wieder einen frischen Roman aus der Feder Whitakers zu lesen. Mit diesem legt er die Messlatte seines eigenen Schreibens noch einmal ein ganze Stück höher. Wieder spielt der Roman des britischen Autors in den USA, wieder kehrt er in eine Kleinstadt zurück, die diesmal auf den Namen Monta Clare hört.

Chris Whitaker - In den Farben des Dunkels (Cover)

Dort lebt der junge Joseph Macauley, der von allen nur Patch gerufen wird. Da er nur ein Auge besitzt, verdeckt eine Augenklappe seine leere Augenhöhle, was nicht nur bei Betrachtern Assoziationen zu Piraten weckt. Auch Patch ist von diesen Outlaws der Meere begeistert und hat sich etwas davon für sein eigenes Verhalten abgeschaut. So stromert er auf eigene Faust durch die Umgebung der Kleinstadt und bemächtigt sich gerne auf illegale Weise fremder Besitztümer.

Bei einem dieser Ausflüge in den nahegelegenen Wald stolpert er zufällig in eine gefährliche Szene, als er den Schreien im Wald folgt. Er überrascht einen maskierten Mann, der Misty Meyer, Ballkönigin und Tochter gut betuchter Einwohner von Monta Clare, in einen Transporter zerren will. Mit einem echten Piraten ist so etwas allerdings nicht zu machen und so greift Patch in die Szene ein.

Misty Meyer kann so entkommen, doch nun befindet sich Patch in den Händen des Entführers. Ein Umstand, der 307 Tage lang dauern soll und erst durch seine Kindheitsfreundin Saint beendet werden soll. Denn diese erweist sich als hartnäckige und erfolgreiche Ermittlerin, die das Versteck und die Identität von Patchs Entführer auf eigene Faust aufklärt. Womit alles nun sein Ende haben könnte, ist allerdings nur der Beginn von Whitakers opulenter Geschichte.

Eine Entführung mit Folgen

Denn bei seinem Aufenthalt im dunklen Versteck des Entführers erhielt Patch Beistand von einem Mädchen namens Grace, das mit seinen Erzählungen und Geschichten dafür sorgte, dass Patch nicht den Verstand verlor. Als nun nach Saints Intervenieren das Versteck des Entführers auffliegt, fehlt sowohl vom Entführer als auch von Grace jede Spur. Existiert dieses Mädchen außerhalb von Patchs Erinnerungen überhaupt?

Die Suche nach ihr wird zum Motor, der die Geschichte von Saint, Patch und Misty Meyer jahrelang antreiben wird. Denn durch die Entführung wurde der Grundstein für komplexes Miteinander gelegt, das das Leben der Kinder bis ins Erwachsenenalter hinein prägen wird. Mal sind sie sich näher, mal stehen sie sich diametral gegenüber, mal sind sie tausende von Kilometer voneinander entfernt – die Schicksalsgemeinschaft können sie aber nicht lösen.

Patch steigert sich in eine Obsession hinein und versucht mit den Mitteln der Kunst, der Erinnerung und der Kriminalität das Geheimnis um Grace zu lösen, während Saint auf der anderen Seite des Gesetzes den Spuren von Grace und ihrem Entführer nachgeht. Beide Wege bringen sie immer näher an den Entführer von einst heran – doch auch die Jahre vergehen rasant und verlangen von Saint, Patch und Misty einen hohen Tribut.

Ein Roman im Cinemascope-Format

Mit In den Farben des Dunkels dürfte Chris Whitaker die Begehrlichkeiten von vielen Filmagenturen geweckt haben. Denn sein Roman liest sich wie eine Vorlage für einen Kinoblockbuster oder mindestens eine Serie im Cinemascope-Format. Verschiedene Schauplätze in den USA, eine spannende Krimihandlung mit Anklängen an Entführungsdramen wie Raum , die mit einem großen Entwicklungsbogen einhergeht machen aus diesem Buch ein Epos in bester Tradition von Dennis Lehane und Co.

Wer Freude an Serien wie True Detective oder Stephen Kings Stand by me hatte, der dürfte sich bei Chris Whitaker gut aufgehoben fühlen.

Es ist derart unbändig viel Handlung und Zeit, Volten und Schicksal in diesem Buch enthalten, dass die Lektüre trotz der knapp 600 Seiten zu keinem Zeitpunkt Langeweile aufkommen lässt. Immer wieder neue Fährten und Erkenntnisse begleiten Patchs und Saints Suche nach der Wahrheit – und das an dutzend Schauplätzen, von Florida bis einmal Missouri einmal quer durch die USA.

Diese hohen Schauwerte, der stimmige Plot und das ergreifende Schicksal von Whitakers Protagonisten machen aus In den Farben des Dunkels einen Roman, der in diesem Jahr in Sachen Unterhaltung schwerlich zu schlagen sein dürfte.


  • Chris Whitaker – In den Farben des Dunkels
  • Aus dem Englischen von Conny Lösch
  • ISBN 978-3-11-105308-0 (Piper)
  • 592 Seiten. Preis: 24,00 €
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Lot Vekemans – Der Verschwundene

Lost in den Rockys. Die niederländische Dramatikerin Lot Vekemans lässt in ihrem Roman Der Verschwundene einen jungen Mann in den Rocky Mountains in Kanada verlorengehen – und blickt auf seine Angehörigen, die der Verlust auseinanderbringt.


Die Rockys, dieses Ziel hat der junge Daan klar vor Augen, als er seinen Onkel Simon in Calgary besuchen kommt. Besuchen ist für den Hintergrund seiner Reise allerdings glatt das falsche Wort. Denn vielmehr gleicht der Besuch dem Versuch einer Abschiebung oder Resozialisierung, der Daans Mutter mit der Reise zu seinem Onkel nach Calgary vorschwebt. Denn Daans Eltern kommen mit ihrem sechzehnjährigen Jungen nicht mehr zurecht und sehen nun in Simon einen rettenden Ausweg, um den Jungen wieder auf den Pfad der Tugend zurückzuführen.

Aus den Niederlanden nach Kanada

Dabei gibt es allerdings ein kleines Problem: Simon und seine Schwestern haben sich schon lange nicht mehr gesprochen. Simon floh einst vor seiner Familie in den Niederlanden nach Kanada, wo er sich verwirklichen wollte. Seitdem herrscht nun Funkstille zwischen den Parteien, ehe Simons Schwester der verlorene Sohn in Calgary wieder in den Sinn kommt, der damals mit der Familie brach und über den Atlantik nach Kanada aufbrach, um dort Karriere zu machen.

Von einer Erfolgsgeschichte dort in Kanada kann aber wahrlich nicht die Rede sein. Körperlich malade schlägt sich Simon mit Aushilfsjobs und kleineren Tätigkeiten durchs Leben und werkelt in seiner kleinen Wohnung vor sich hin. Mit der Ankunft seines Neffen kommt dieses fragile Gleichgewicht seiner Existenz aber gehörig ins Wanken. Denn wo er sich einigermaßen mit sich und seinem Lebensstil arrangiert hat, bricht nun der Junge unverhofft ins Leben, daddelt den ganzen Tag am Handy und strapaziert die Nerven des an seine Einsamkeit gewöhnten Simon, den er zudem mit seiner Forderung nach einem Besuch der Rocky Mountains malträtiert.

Verloren in den Rockys

Lot Vekemans - Der Verschwundene (Cover)

Nachdem Vekemans die Störung und Neufindung der Balance zwischen Simon und seinem jungen Neffen schildert, gibt sie die Drängen des Jungen nach und schickt diese auf der halben Strecke des Romans dann tatsächlich in die Rockys. Aber auch dort finden die beiden Männer nicht wirklich zu einem Miteinander, im Gegenteil. Trotz der Erfüllung seiner Forderung erweist sich Daan als unnachgiebig und es kommt zu einem Streit und Handgreiflichkeiten. Am nächsten Morgen ist der Junge verschwunden und eine Zeit der Suche und der Unsicherheit beginnt.

Hängt das Verschwinden mit einem anderen Vater/Sohn-Duo zusammen, das Simon und Daan vor kurzem auf ihrer Wanderung in den Bergen kennenlernten? Oder ist Daan etwas zugestoßen, hat er seine Flucht gar geplant? Simon beschließt, neben einer Kontaktierung der örtlichen Polizeibehörde auch Daans Eltern zu kontaktieren, die schnell Richtung Kanada aufbrechen.

In der Folge beobachtet Lot Vekemans das Auseinanderdriften der verschiedenen Parteien. So brechen die alten Gräben zwischen Simon und seiner Schwester wieder auf, die ihm schwere Vorwürfe angesichts des Verschwinden ihres Sohns macht. Für die Polizei rückt zunehmend Simon in den Verdächtigenkreis, nachdem sich die Spuren um das andere Vater/Sohn-Gespann nicht wirklich gut verfolgen lassen. Eine kostenintensive Suche nach dem Jungen im Berggebiet setzt ein – und alle misstrauen sich gegenseitig.

Lot Vekemans zweiter Roman

Lot Vekemans ist niederländische Dramatikerin und erfolgreiche Theaterautorin, deren Stücke auch auf hiesigen Spielplänen stehen. Nach Ein Brautkleid aus Warschau handelt es sich bei Der Verschwundene um den zweiten Roman der Autorin, der von Andrea Kluitmann aus dem Niederländischen ins Deutsche übertragen wurde und der abermals bei Wallstein erscheint.

Es ist ein Buch, das sich sehr schnell wegliest. Der Beginn mit der atmosphärischen Störung in Simons Leben, der zunächst durch den Kontakt mit seiner Schwester und dann durch die Ankunft des Jungen verursacht wird,

Alle Figuren verharren in ihrem Roman etwas statisch. Die Affäre, die sich aus der Suche nach dem Jungen heraus entwickelt, die Hintergründe zum Verschwinden, alles bleibt ein bisschen behauptet und erzählerisch nicht unbedingt sauber herausgearbeitet und begründet. Es ist mehr der Drift der Figuren, der Lot Vekemans interessiert. Die Geschichte selbst löst sich am Ende in sich selbst auf, es bleibt nichts zurück – und auch die Figuren sind als Funktionsträger an die Geschichte gebunden, ohne ein vertieftes Eigenleben zu entwickeln, das über das Buchende hinaus beschäftigen würde.

Es ist wahrlich kein schlechtes Buch, lässt Vekemans Talent zum Spiel mit ihren Figuren immer wieder durchscheinen. Und doch ist es auch ein Buch, das neben seinem letzten Endes banalen Fall des verschwundenen Jungen zu keinen weiteren Themen findet. Man geht auseinander, kommt nach der Ausnahmesituation wieder bei sich an, der Junge fliegt zurück in die Niederlande und Simon kann sich wieder entspannen. Hier fehlt es an einem bemerkenswerten Momentum, an einer Idee, die über die Beschreibung der Ausnahmesituation und der anschließenden Auflösung in Wohlgefallen hinausweist.

Fazit

Von daher ein Buch, das sich gut weglesen lässt, das genau auf soziale Dynamiken eines Duos wider Willen und später auf die Schuldzuweisungen infolge des Verschwindens des Jungen blickt. All das das ist wahrlich nicht schlecht gemacht – von dem Ganzen bleibt aber zumindest bei mir nicht allzu viel Bemerkenswertes zurück.


  • Lot Vekemans – Der Verschwundene
  • Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
  • ISBN 978-3-8353-5534-7 (Wallstein)
  • 266 Seiten. Preis: 22,00 €
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Erin Flanagan – Dunkelzeit

Gunthrum, ein kleines Städtchen in Nebraska im Jahr 1985. Hier verschwindet die junge Peggy aus ihrem Elternhaus – und als Verdächtiger Nr. 1 gilt der geistig zurückgebliebene Hal. In Erin Flanagans Debütroman Dunkelzeit wird daraus aber leider weniger ein Krimi denn eine mittelmäßige Kleinstadtstudie, die man schon einmal besser gelesen hat.


„Glaubst du wirklich, dass sie verschwunden ist?“, fragte er.

Laura sah ihn verwirrt an. „Du etwa nicht?“

Milo zuckte die Schultern. „Klingt doch irgendwie komisch. Jemand verschwindet einfach so. In Gunthrum passiert das normalerweise nicht.“ Er sah Laura prüfend an. „In Gunthrum passiert überhaupt nie etwas. Vielleicht ist das ja genau das Problem.“

Erin Flanagan – Dunkelzeit, S. 138

Gunthrum ist ein Städtchen im Hinterland von Nebraska – und hier passiert wirklich nichts. Einmal im Jahr treffen sich die Väter, um in der Schule eine Benefizmatch gegen ihre Kinder auszutragen. Am Wochenende trifft man sich in den Partykellern, um dem Alkohol und dem Exzess zu huldigen. Aber recht viel mehr hat Gunthrum nicht zu bieten. Dass die junge Peggy hier verschwunden ist, das kann ihr Bruder ihr nicht wirklich verübeln. Hat sie sich mit einem jungen Mann aufgemacht, um dem tristen Alltag zu entfliehen?

Das Verschwinden der Peggy Ahern

Die Eltern verheimlichen die Abwesenheit der Tochter vor der eigenen Kirchengemeinde und erst allmählich verfestigt sich die Erkenntnis, dass es sich bei der Abwesenheit von Peggy nicht nur um ein kurzes Ausreißen handeln muss.

Erin Flanagan - Dunkelzeit (Cover)

Diesen Handlungsstrang, der aus der Sicht von Peggys kleinem Bruder Milo erzählt wird, kontrastiert Erin Flanagan um den Handlungsstrang, der vom Farmerpaar Alma und Clyle erzählt. Während er die heimischen Felder bewirtschaftet, bringt Alma mit dem Schulbus die Kinder von Gunthrum in die Schule. Drittes und fast vollwertiges Familienmitglied ist Hal. Dieser geistig zurückgebliebene Bursche wurde besonders von der in Sachen Sozialarbeit beschlagenen Alma unter ihre Fittiche genommen. Er hilft auf dem Hof aus und hat sich durch die Struktur auf dem Hof gut entwickelt.

Als Hal nun nach einem Jagdausflug wieder zu Alma und Clyle zurückkehrt, berichtet er von einer Hirschkuh, die er illegalerweise erlegt haben will. Sein Auto weist Beschädigungsspuren auf, Blut findet sich sowohl im Auto als auch bei ihm daheim. War es wirklich eine Hirschkuh oder hat Hal vielleicht etwas mit dem Verschwinden von Peggy zu tun? Je mehr Alma von ihm wissen will, umso mehr verwickelt sich der junge Mann in Widersprüche.

Als Krimi zu zäh, die Figuren zu platt

Erin Flanagan ist eigentlich Professorin für Englische Sprache und Literatur, die an der Wright State University in Ohio lehrt. Für ihr Debüt hat sie sich in meinen Augen vorgenommen, an den großen Klassiker Kaltblütig von Truman Capote anzuknüpfen. Ein Unterfangen, an dem sie sich gnadenlos verhebt. Denn obwohl sie sich viel versucht und das Buch auch mit dem Edgar Allan Poe Award für das beste Debüt ausgezeichnet wurde, so ist das Buch in meinen Augen nicht wirklich überzeugend.

Als Kriminalroman ist das Ganze deutlich zu zäh erzählt. Die Anlage des Buchs ist schon nach einigen Dutzend Seiten klar, aber so etwas wie Spannung kann Flanagan aus dieser Anlage nicht ziehen. Da ist die Perspektive um Milo, der sich zwar um seine Schwester sorgt, aber vorwiegend mit Teenager-Problemen befasst ist. Alma und Clyle schwanken zwischen Vertuschen der Tat Hals und Unsicherheit über das, was wirklich vorgefallen ist. Aber so wirklich bringen die Figuren keine Spannung ins Buch, da beide Seiten kaum mit Ermittlungen über das tatsächliche Geschehen befasst sind.

Die Polizei glänzt mit Abwesenheit, erst spät im Buch führt Erin Flanagan einen Privatermittler ein, der ohne juristische Handhabe einfach die Bewohner*innen Gunthrums vernimmt. Wer sich so etwas wie Spannung erhofft, der sieht sich aber angesichts des zähen Vorankommens im Plot schnell enttäuscht.

Auch ist das Handeln der Figuren bestenfalls küchenpsychologisch grundiert. So wird die „Mutterliebe“ von Alma für Hal damit erklärt, dass sie sich immer Kinder wünschte, nach mehreren Abgängen die Hoffnung auf Nachwuchs aber begraben hat und nun eben Hal als Ersatzkind bemuttert und abschirmt. Auch die anderen Figuren bleiben eher holzschnittartig, tragen keine großen inneren Konflikte aus – und selbst die Ermittlung und Überführung des Täters erfolgt doch recht unmotiviert und halbherzig.

Fazit

Als Krimi überzeugt Dunkelzeit somit leider überhaupt nicht. Eher ist es eine ruhige Studie des Gesellschaftslebens dort in Nebraska Mitte der 80er Jahre. Aber selbst das hat man schon besser gelesen, sodass Dunkelzeit kein packender Krimi ist und auch als Kleinstadtroman nicht wirklich funktioniert, da die Figuren allzu schablonenhaft und die Handlung zu müde und spannungsarm erzählt sind, als dass zumindest bei mir echte Begeisterung aufkommen konnte. Die Auszeichnung mit dem Debütpreis beim Edgar Allan Poe Award kann ich nicht wirklich nachvollziehen. Mit diesem Krimi tritt die Professorin weder in die Fußstapfen von Edgar Allan Poe noch in die von Truman Capote. Leider enttäuschend.


  • Erin Flanagan – Dunkelzeit
  • Aus dem Englischen von Cornelius Hartz und Stefanie Kremer
  • ISBN 978-3-85535-145-9 (Atrium)
  • 368 Seiten. Preis: 25,00 €
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