Monthly Archives: September 2024

Eckhart Nickel – Punk

Vom WG-Casting zur Punkband zum großen Auftritt in nur einem Tag. Eckhart Nickel entwirft in seinem neuen Roman Punk eine wilde Fantasie um zwei Bohemiens und Karen, die auf der Suche nach einem WG-Zimmer in ein wildes Abenteuer rund um Musik, das Verschwinden derselben und ein weißes Kaninchen stolpert. Klingt wirr? Ist es auch.


100.000 Euronen als Gewinn eines Musikwettbewerbs. Das ist die verheißungsvolle Aussicht, mit der die Zwillingsbrüder Ezra und Lambert Karen überraschen, obwohl diese eigentlich schon überwältigt ist von dem, was ihr schon kurz nach dem Betreten der Wohnung der beiden jungen Männer widerfährt. Eigentlich wollte sie sich nur für ein WG-Zimmer bewerben und findet sich dadurch in einem Abenteuer um die Schaffung einer Punkband wieder, und das obwohl in der Welt des Romans eigentlich Musik und Lärm verschwunden sind. PUNK ist ein Erzählwerk, das in Sachen Absurdität und Kunstemphase zum bemerkenswertesten gehört, was die deutschsprachige Gegenwartsliteratur in diesem Herbst bislang hervorgebracht hat.

Schon der Anblick der an der Garderobe aufgehängten Jacken signalisiert Karen, das hier etwas ganz Besonderes auf sie wartet, als sie zu Beginn des Romans die Wohnung von Lambert und Ezra betritt. Denn im Muster der aufgehängten Textilien erkennt sie die Melodie des Beatles-Klassikers Strawberry Fields, was sich Auftakt dieser wilden Geschichte entpuppt, die sich, nachdem sich Nickels Vorgängerroman Spitzweg mit der Welt der Malerei befasste, nun mit dem weiten Feld von Musik und Film beschäftigt. Nickel-typisch arbeitet er mit seinen literarischen Gestaltungsmitteln hart an der Grenze zur Synästhesie und flicht jede Menge zitierte Musik in seinen Erzählkosmos ein, obwohl diese eigentlich nicht mehr existiert.

WEISSER LÄRM und ein weißes Kaninchen

Die Umgebung, in der PUNK spielt, muss man sich erst einmal in Ansätzen erschließen, so unvermutet wird man von Nickel in diese Geschichte geworfen. Denn in einer nicht näher benannten Zukunft kam es einige Jahre zuvor zum Auftreten des sogenannten WEISSEN LÄRMs, der sich wie akustischer Schnee über die Welt gelegt hat. Warum genau und wie das vonstattenging, es bleibt im Roman so blass wie die Akustik, die fortan die Welt prägt. Ein Ministerium für Unterhaltung sorgt seit diesem Ereignis für die Einhaltung der Stille. Musik, Klänge und Töne sind verpönt.

Eckhart Nickel - PUNK (Cover)

Gegen dieses Diktat der Stille lehnen sich die Zwillingsbrüder Lambert und Ezra auf, die Karen im Zuge ihres WG-Castings kennenlernt. Denn kaum sind die ersten Sätze bezüglich des WG-Zimmers gewechselt, schon klingelt es an der Tür und das Ordnungsamt steht in der Wohnung. Karen wird von den Brüdern kurzerhand in einem schalldichten Raum versteckt, der sich als gut gedämmtes Musikstudio entpuppt. Anwesend im Raum ist auch Pierre-August, ein schneeweißes Kaninchen, das besonders Aaron Coplands Musikstück Appalachian Spring schätzt.

Nach dem Abzug der Ordnungshüter machen sich die Brüder mit Karen und Pierre-August im Schallstudio bekannt, um sie dann in ihr eigentliches Vorhaben einzuweihen. Denn Lambert und Ezra wollen kurzerhand eine Punkband gründen – und Karen soll ihre Sängerin werden. Auf einem Festival haben sie Kenntnis von einem Bewerb erlangt, der im Ministerium für Unterhaltung stattfinden soll und bei dem sie am nächsten Tag antreten möchten.

Wirr und sprunghaft

Klingt diese grobe Nachzeichnung der narrativen Linien bis hierhin unglaublich wirr und durcheinander? Sie ist es, ebenso wie die Handlung dieses Romans. Denn Eckhart Nickels Buch entpuppt sich bei der Lektüre als noch deutlich wirrer als diese kurze Zusammenfassung der grundlegenden Handlungsbausteine. Eine konsistente und plausible Nacherzählung des Geschehens in diesem Roman ist kaum möglich. Denn Nickels Text zitiert nicht nur Lewis Carroll und das weiße Kaninchen, dieser Roman liest sich selbst wie ein wilder Trip in ein Wunderland, allein das Nickels Alice auf den Namen Karen hört.

Irgendwo zwischen einer akustischen Variante von Ray Bradburys Fahrenheit 451 und einem spontanen Punkgig rangiert PUNK. Man wird in die Welt der Bohemien-Brüder geschleudert, die auf Pol Roger-Champagner und Graved-Lachs mit Honig-Senf-Tunke schwören und deren Dialoge an Künstlichkeit kaum zu überbieten sind:

Ezra deutete auf die Porzellanschale: „Karen, ungelogen, wenn mir nicht schon dieses als schnöder deutscher Meerrettich getarntes, schon wieder diese Camouflage, also jenes heimtückische Wasabi-Derivat hier, die Tränen in die Augen getrieben hätte, dann würde ich jetzt vor Glück weinen. Was für grandiose Ideen du hast!“

Eckhart Nickel – PUNK, S. 125

Auf der nächsten Seite bekennt sein Bruder, dass er „wahnsinnigen Durst auf einen Schluck perlenden Lebenssaft“ hätte. Es sind Dialoge fernab jeglicher Lebensrealität und Plausibilität, die sich aber in das künstliche Gepräge des ganzen Romans gut einpassen.

Musik-, Film-, Mode- und Selbstreferenzen

Eckhart Nickel spielt mit Selbstreferenzialität, etwa wenn die Grundstruktur der beiden jungen Männer und Karen dazwischen die erzählerische Grundkonstruktion des Vorgängerromans aufgreift, in dem sich Kirsten, die Freundin Karens, in einer ähnlichen Lage wiederfand, womit Nickel den Anschluss an seinen einst für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman herstellt.

Zum Vor-Vorgänger Hysteria gibt es ebenfalls Links, etwa durch die Klavierlehrerin Karens, die ihre Schüler mit Erik Satie quält und auf den höchst künstlerischen Namen Mme. Framboisée hört. Mit ebenjenen Himbeeren begann die Geschichte von Nickels Debütroman, die in eine Welt voller Künstlichkeit entführte, wie sie Eckart Nickel auch hier wieder, nun in Form einer Dystopie, entwirft.

Leider verliert der Roman mich schnell als Leser, da der Roman in seiner zwischen opaker WEISSER LÄRM-Welt und überspannter Künstlichkeit und Hektik der Brüder in ihrer Wohnung, zwischen Champagner, weißem Hasen und Punkmusik-Produktion und GROSSGESCHRIEBENER BEGRIFFE zu keinem tragfähigen Erzählton findet.

Zitatkanonanden

Für meinen Geschmack leider deutlich zu wirr an der Grenze zur Unverständlichkeit zitiert sich dieser Roman zwischen Nickels eigenem Werk, Mode, Filmen und allen voran der Musik zu Tode. Mit seitenweisen popkulturellen Überlegungen etwa zu David Lynchs Twinpeaks und Songzitaten und Musiktiteln von The Smiths bis hin zu Franz Ferdinand oder Vampire Weekend (deren Sänger Ezra König wiederum auf Ezra als Erzählfigur rekurrieren könnte, und so weiter, und so fort) überlädt Nickel diesen Roman und vergisst über seinen Zitatkanonaden seine eigentliche Geschichte.

Natürlich könnte man einwenden, dass Punk genauso sein müsse. Mal bei anderen Künstler*innen klauend, dann rumpelig, dann mit wieder laut und überfordernd – und am Ende auch rätselhaft. Persönlich erscheinen mir die erzählerischen Mittel Eckart Nickels allerdings für die Welt der bildenden Kunst im Gebiet der Malerei mitsamt seinem Spitzweg deutlich überzeugender als der Einsatz, den er hier für sein Schreiben finden. PUNKt.


  • Eckhart Nickel – PUNK
  • ISBN 978-3-492-07282-3 (Piper)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Maddalena Vaglio Tanet – In den Wald

Der Wald als Ort der Zuflucht, die italienische Autorin Maddalena Vaglio Tanet greift in ihrem Debüt In den Wald auf dieses Motiv zurück, um von der psychischen Erschütterung einer Lehrerin und der Reaktion ihres Umfelds darauf zu erzählen.


Schon seit der Romantik ist der Wald das Motiv, das für Zuflucht, Geborgenheit, aber auch Gefahr und Entgrenzung steht. Immer wieder haben Autor*innen diesen Ort in seiner Vielschichtigkeit inszeniert. Martin Suter ließ beispielsweise vor über zwanzig Jahren in seinem Bestseller Die dunkle Seite des Mondes den Schweizer Banker Urs Blank halluzinogene Pilze probieren. Daraufhin floh der soignierte und erfolgreiche Anwalt in den Wald, wo er das Überleben lernte. Oder auch der Schriftsteller Rye Curtis war es, der vor Kurzem seine Heldin Cloris nach einem Flugzeugabsturz in der Wildnis der nordamerikanischen Wälder zum Überleben verdammte.

Immer wieder greifen Schriftsteller und Schriftstellerinnen auf die Möglichkeit zurück, ortsfremde Figuren in der Umgebung des Waldes auszusetzen, damit sie überleben, sich ihrer eigenen Geschichte stellen oder einen neuen Blick aufs Leben gewinnen.

Flucht in den Wald von Piemont

Im Falle im Falle von Maddalena Vaglio Tanets Debüt ist es eine Lehrerin, die im Wald überleben muss, auch wenn sie das eigentlich gar nicht will.

Statt in die Schule ging die Lehrerin in den Wald.

In einer Hand hielt sie die Zeitung, die sie gerade gekauft hatte, in der anderen die lederne Aktentasche mit den Heften, den korrigierten Aufgaben, den Kugelschreibern und sorgfältig angespitzten Bleistiften. Ohne zu zögern, verließ sie die Straße, als wäre der Wald von Anfang an ihr Ziel gewesen. Ihre flachen Schuhe traten auf einen Teppich aus braunen, glänzenden Blättern, die ihr wie ein Feld aus rohen Innereien erschienen.

Maddalena Vaglio Tanet – In den Wald, S. 11

Zugegeben keine wirklich gute Ausrüstung, um im Wald zu überleben, selbst bei sommerlichen Temperaturen. Der Auslöser für diesen scheinbar so irrationalen Schritt oder besser Gang besteht in einem Ereignis, von dem sie aus der Zeitung erfahren hat. Denn eine Schülerin Silvias, so der Name der Lehrerin, hat Selbstmord begangen. Aus einem Fenster hat sich das elfjährige Mädchen in den darunter fließenden Wildbach Cervo stürzt.

Silvia gibt sich die Schuld an dieser Tragödie, hatte sie doch noch zuvor die mangelnde Präsenz der Schülerin im Unterricht bei den Eltern angemahnt. Doch nun, da das Mädchen tot ist, wird Silvia von schwersten Schuldgefühlen geplagt und will eigentlich nicht mehr sein.

Eine Tragödie und ihre Folgen

Maddalena Vaglio Tanet - In den Wald (Cover)

Im nahegelegenen bergigen Waldgebiet, der sich an das kleine piemontesische Dorf anschließt, sucht sie die Einsamkeit, die sie in einer zerfallenen Waldhütte findet. Derweil wird das Dorf nach der Hiobsbotschaft des Freitods der Schülerin nun auch vom Verschwinden der Lehrerin aufgewühlt. Silvias Cousin Anselmo macht sich ebenso wie der von asthmageplagte Schüler Martino auf die Suche nach der zweiundvierzigjährigen Frau.

In den Wald erzählt vom übermächtigen Wunsch des Verschwindens, der Scham und der Reue genauso wie vom Leben, das auch nach solch katastrophalen Ereignissen weitergeht, wie sie das piemontesische Dorf hier gleich zweifach heimsuchen im Sommer des Jahres 1970.

Maddalena Vaglio Tanet nutzt hierfür ein ganzes Ensemble an Figuren, die in kurzen Kapiteln immer wieder im Mittelpunkt stehen. Neben dem familiären und schulischen Umfeld der getöteten Schülerin und der verschwundenen Lehrerin ist es vor allem der junge Martino, der zusammen mit Silvia im Mittelpunkt steht. Denn dieser macht schon bald die zerfallene Hütte mitsamt der neuen Bewohnerin ausfindig. In einem Akt der Verkehrung wird der junge Schüler zum eigentlichen Versorger und Beschützer seiner Lehrerin, die dort in der aufgrund von Hunger und Durst schon bald zu delirieren beginnt.

Schüler und Lehrerin – und die Verkehrung der Rollen

Martino versorgt sie mit Nahrung und Trinken, wird zum häufigen Besucher der älteren Frau in der Hütte und hört ihr zu, die sie sich in Gedanken und Erinnerungen zu verlieren droht, während das Dorf langsam schon gar nicht mehr an das Überleben von Silvia glaubt.

Tanets Debütroman beruht dabei auf biografischen Details aus ihrer eigenen Familie, wie die Autorin im Nachwort ihres Romans schreibt. So gab es auch in Tanets Familie eine kinderlose Cousine, die als Lehrerin arbeitete. Auch sie blieb tagelang verschwunden, um später völlig verdreckt und nahezu verhungert wieder aufzutauchen. Die Frage, was mit der Frau geschehen war und was der Auslöser für ihre Flucht war, beschäftigte Tanet insbesondere, da die Hintergründe der Episode nie wirklich in der Familie thematisiert wurden.

Und so liegt nun mit In den Wald vor eine Art Antwortversuch oder Fantasie über die möglichen Hintergründe des damaligen Ereignisses vor. Der Roman ist düster, zeigt eine raue Natur, die wenig gemein hat mit italienischer Sommer-Idylle und präsentiert Figuren, denen man auch nicht wirklich in die Seele schauen kann und die zumeist so karg sind wie die Umwelt, die sie umgibt. Insofern greift Tanets Debüt tatsächlich jene Stimmung auf, die in ihr vor dem Verfassen des Buchs herrschte, was die Frage des Verschwindens anging.

Fazit

Wer dunklere Geschichten über das Überleben im Wald, die Versehrungen an Seelen und ihre Folgen schätzt, der bekommt mit In den Wald eine eindrückliche Geschichte aus dem Norditalien der 70er-Jahre präsentiert, die sich gut in die Riege der eingangs genannten Titel einfügt. Übersetzt wurde der Roman aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.


  • Maddalena Vaglio Tanet – In den Wald
  • Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
  • ISBN 978-3-518-43198-6 (Suhrkamp)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Andrew O’Hagan – Caledonian Road

In seinem dickleibigen Gesellschaftsroman Caledonian Road wartet Andrew O’Hagan mit einer tröstlichen Nachricht auf. Mag manch einer auch über englische Adelstitel verfügen, in elitären Clubs verkehren oder ein gefragter Public Intellectual sein – das alles schützt auch nicht vor Unglück und sozialem Abstieg. Alles bröckelt und zerbröselt in diesem Roman . Das alles liest sich aber höchst unterhaltsam, bisweilen sogar vergnüglich.


Die Caledonian Road, sie ist eine im zentralen Londoner Stadtteil Islington gelegene Straße, die sich über eine Länge von circa 3 Kilometern erstreckt. Im Süden beginnt sie nahe des Bahnhofs King’s Cross und führt dann, von typischen mittelhohen Gebäuden und Geschäften gesäumt, in den Norden. Sogar ein Gefängnis findet sich entlang der Straße, ebenso wie der sogenannte Thornhill Square. Bei diesem handelt es sich um eine von Häusern umgebene Grünfläche, die einst im Zuge der Krönung Königin Elisabeth II. aufbereitet wurde und die der Öffentlichkeit zur Verfügung steht.

Einer der Anwohner an diesem schon längst von der Gentrifizierung erfassten Platz ist Campbell Flynn, Kunstprofessor und gefragter Autor und Redner, einer der prägenden Public Intellectuals des Vereinigten Königreichs.

Campbell Flynn, groß und elegant und zweiundfünfzig, war eine Sprengladung im Savile-Row-Anzug, ein Mann, der glaubte, seine Kindheit läge längst hinter ihm und er habe von ihr nichts mehr zu befürchten. Er hatte Geheimnisse, Sorgen, doch wenn er nun auf seiner Taxifahrt zum Fenster hinausschaute, sah er St Paul’s im strahlenden Sonnenlicht oben auf Ludgate Hill, und die Engel von London standen an seiner Seite.

Andrew O’Hagan – Caledonian Road, S. 15

Der Zerfall eines Public Intellectual

Eine Eigentumswohnung am Thornhill Square, ein Wochenendhaus auf dem Land in Suffolk, eine beglückende Ehe mit seiner Frau Elizabeth und zwei Kindern, Verbindungen in die besten Kreise der Oberschicht bis hinein zum Hochadel, Podcasts, eine aufsehenerregende Vermeer-Biografie in seiner Publikationsliste. Was kann einen solchen Mann noch schrecken? Doch einiges, wie sich im Lauf von Andrew O’Hagans fast achthundert Seiten starken Romans zeigt.

Andrew O'Hagan - Caledonian Road (Cover)

Denn im Laufe eines Jahres zerbröckelt und zerbröselt so ziemlich alles, was sich Campbell Flynn aufgebaut hat, beziehungsweise das, was er sicher glaubte. Denn nicht nur das Vereinigte Königreich ist nach dem Brexit ein Schatten seiner selbst und liegt nun im Zuge der Corona-Pandemie danieder, auch seine obersten Repräsentanten haben schon bessere Zeiten gesehen. So irrlichtert nicht nur der englische Premier herum, auch die gesamt Oberschicht in Campbells Umfeld scheint ihren Fokus verloren zu haben.

Russische Oligarchen, die sich mitsamt ihrem Nachwuchs in die Oberschicht eingekauft haben, Industrielle, die nicht nur beruflich danebengreifen oder der alte Adel, der sich mal auf ein schwimmendes Boot flüchtet, mal auf riskante Deals einlässt: Andrew O’Hagan webt im Laufe seines Romans einen ganzen Kosmos aus Figuren, die so anders sind, als es die Klischee der britischen Oberschicht wollen. Nicht nur, dass die Figuren so ziemlich alles konterkarieren, wofür die althergebrachte Britishness steht. Auch im Abwärtsstrudel sind O’Hagan Figuren vereint.

Ein klug verzahnter Gesellschaftsroman

Doch konzentriert sich Caledonian Road dabei nicht nur auf die Oberschicht im Verfall – auch die Mittelschicht bis hin zum Gangsta-Nachwuchs porträtiert O’Hagan in seinem klug verzahnten Gesellschaftsroman. Mittendrin findet sich Campbell, der von Geldsorgen geplant unter Pseudonym ein Männlichkeitsbuch namens Männer, die in Autos weinen verfasst hat. All die Interviews, Vorworten für Ausstellungskataloge oder Podcast-Staffeln bringen keine große Besserung seines Zustandes. Allerdings hat er im Studenten Milo einen Ausweg für seine aktuelle Misere gefunden, schließlich bringt diese ihm mit seinem Furor als Schwarzer auf die weiße Mehrheitsgesellschaft auf neue Ideen, wenn sich schon die die finanziellen und häuslichen Probleme samt Untermieterin nicht so wirklich verdrängen lassen.

Campbell starrte das alles an, er war gefangen in dem riesigen Netz der Verwicklungen, sein Verstand konnte diesen Wust an Ereignissen nicht mehr verarbeiten.

Andrew O’Hagan – Caledonian Road, S. 702

Doch je mehr er sich von Milo in dessen Theorien einspinnen lässt, umso weiter entfernt er sich auch von seiner eigenen Familie. Das Buchprojekt hat sich sowieso schon verselbstständigt und ist kaum mehr einzufangen – zur Freude der Leserinnen und Leser. Sie dürfen in O’Hagans Buch die zugegeben nicht sonderlich neue, aber enorm unterhaltsame und tröstliche Binse verfolgen, dass auch andere Menschen Probleme haben, selbst wenn sie sich weit vor einem auf der gesellschaftlichen Leiter befinden.

Diese Gemengelage an Verwicklungen und Entwicklungen trägt den erzählerischen Bogen über die 800 Seiten locker. Andrew O’Hagan, der als Editor-at-Large bei der London Review of Books arbeitet, zeigt eindrücklich, dass seine Beschäftigung mit anderen Literaten reichlich Früchte getragen hat.

Fazit

Leicht, beschwingt, dann auch wieder traurig und fatal fesselt Caledonian Road über seine gesamte Lauflänge. Andrew O’Hagan gelingt ein faszinierender Gesellschaftsroman, der das ganze Panorama der britischen Gesellschaft von Möchtegern-Gangstern bis hinauf in die adelige Oberschicht einfängt und mit Campbell Flynn einen Starintellektuellen in den Mittelpunkt stellt, dessen Fall und Fatalismus man gerne nachverfolgt. Selten war ein Taumeln durchs eigene Leben in diesem Bücherherbst so unterhaltsam wie hier!


  • Andrew O’Hagan – Caledonian Road
  • Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
  • ISBN 978-3-9881600-3-4 (Park x Ullstein)
  • 784 Seiten. Preis: 30,00 €
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Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Eine Frau zwischen Performancekunst und Love-Scamming, Annäherung und Abstoßung, Melancholia und Pas de Quatre. In Martina Hefters Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir? steht all das nebeneinander. Die Autorin liefert einen Text, der weniger durch einen Erzählbogen denn durch sein Gefühl für Gleichzeitigkeiten überzeugt. Jüngst wurde das Buch mit einem Platz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 belohnt.


Es ist ein ganzes Füllhorn an Motiven und Themen, das Martina Hefter vor ihren Leser*innen ausgießt und das die Grundstruktur ihres Romans bildet. Für ihre Lyrik und Prosa jüngst mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds ausgezeichnet stellt die Autorin in diesem Text eine Frau in den Mittelpunkt, die auf den ersten Blick viele Berührungspunkte mit der Autorin selbst aufweist. Von einem an der bayerischen Vils gelegenen Ort stammend hat es die Künstlerin Juno Isabella Flock nach Leipzig verschlagen. Dort teilt sie sich mit ihrem Lebensgefährten namens Jupiter eine gemeinsame Altbauwohnung.

Das prekäre Künstlerdasein verbindet sie mit dem an den Rollstuhl gefesselten Jupiter, in dem sich einige Züge von Jan Kuhlbrodt erkennen lassen, mit dem Hefter tatsächlich in Leipzig zusammenlebt, und der laut dem Nachwort zu diesem Roman auch nichts dagegen hatte, „hier und da mit Jupiter verwechselt zu werden, sondern den Gedanken sogar schön fand“.

Juno und Jupiter

Man schlägt sich so durchs Leben. Sie besorgt für ihn Pizzazungen und löst Rezepte ein, da Jupiter die Wohnung fast nicht mehr verlassen kann. Ab und an gastiert Juno mit Gastspielen auf Bühnen und zeigt Performances und Texte. Manchmal reicht das Geld kaum zum Leben, und doch hat man sich mit dem Zustand und dem Dasein als Kreativschaffende arrangiert und ist gewillt, in diesem Zustand bis zur Rente irgendwie durchzuhalten.

Beim Sommerfest würden sie den Pas de Quatre von Jules Perrot tanzen. Ein berühmtes Stück von 1854, erschaffen für die damals vier berühmtesten Tänzerinnen der westlichen Welt. Marie Taglioni, Carlotta Grisi, Lucile Grahn und Fanny Cerrito.

Sie waren damals Superstars. Zur Aufführung des Stücks trafen sie das erste Mal zusammen und traten gemeinsam auf. Das war eine Sensation.

Juno sollte die Position der Marie Taglioni tanzen.

Es gab keine Handlung in dem Stück, nur eine Situation: Vier Frauen tanzten zusammen. Geometrische Muster, Vierecke, Kreise, Diagonalen.

Planeten, die sich treffen, beinah kollidieren.

Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?, S. 133

Dieses berühmte Tanzstück ist ein guter Ausdruck auch für das erzählerische Konzept von Hefters Roman. Denn Hey guten Morgen, wie geht es dir? besticht weniger durch eine konsistent durchgearbeitete Handlung, als durch viele Elemente, die hier nebeneinanderstehen, ebenso wie die Tänzerinnen in dem Stück alle ihr eigenes Stück tanzen – oder eben die Planeten, die auf die Erzählerin ebenfalls einen großen Reiz ausüben.

Briefwechsel mit einem Love-Scammer

Martina Hefter - Hey guten Morgen, wie geht es dir? (Cover)

Größtes Verbindungsstück über den Text hinweg dürfte das Love-Scamming sein, das dem Buch auch den Titel verleiht. Love-Scamming bezeichnet den Betrugsversuch, bei dem Klickarbeiter unter einer falschen Identität den Kontakt zu anderen Menschen im Netz suchen, um sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen diesen zu nähern, einzuschmeicheln und schlussendlich Kapital aus dieser Nähe zu schlagen.

Mit einem dieser Scammer, der sich mit der nichtssagenden und doch irgendwie interessiert wirkenden Floskel bei Juno meldet, steigt sie – wohlwissend um dessen falsche Identität – in einen Chat ein, aus dem sich ein Gespräch und schließlich sogar Videotelefonate entwickeln, bei dem die beiden Einblicke in ihr Leben gewähren, sich aber dann doch wieder nicht wirklich in die Karten schauen lassen.

Junos Scammer stammt – wie so häufig – aus einem Entwicklungsland und hört auf den Namen Benu. Er lebt in Nigeria, von wo aus er seine digitalen Köder auswirft und versucht, sich anderen Menschen anzunähern. Im Lauf des Romans schreiben sich die beiden immer wieder, versuchen sich in die gegensätzlichen Lebenswelten einzufühlen und kreisen in ihren Gesprächen immer wieder um Themen, die vor allem Juno am Herzen liegen. Insbesondere Lars von Triers Film Melancholia, die Stimmungen, die dieser evoziert, und andere planetare Gegebenheiten sind Themen, die immer wieder in den Chats auftauchen und die Juno Isabella Flock stark beschäftigen.

Inhaltliche und formale Vielfalt

Um diese ganzen digitalen Gespräche herum passiert auch in der analogen Welt das Leben in seiner ganzen Fülle, was Martina Hefter mit einem Gespür für Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander von großen und kleinen Themen schildert.

Jupiter gewinnt einen Literaturpreis (kaum verhüllt liest man hier von der tatsächlich stattgefundenen Preisverleihung des Alfred Döblin-Literaturpreises an Jan Kuhlbrodt im Literarischen Colloquium Berlin im vergangenen Jahr), nachts schleicht sich Juno durch die Wohnung, um mit Benu zu skypen und sich in Chats zu verlieren. Dann stehen plötzlich wieder Performance-Texte beziehungsweise Performance-Anweisungen im Text.

Es ist eine große Vielfalt, die Hey guten Morgen, wie geht es dir? sowohl in der äußeren Form mit der Mischung aus Dialogen, Anweisungen und Erzähltexten kennzeichnet, als auch inhaltlich, wie eben schon dargestellt.

Themen umkreisen sich wie Planeten

Eine wahllose Aneinanderreihung von Beliebigkeiten ist das Ganze allerdings keineswegs. Denn obschon das Buch ohne größeren erzählerischen Bogen angelegt ist, gibt es doch Bewegungen, die sich in Hefters Text ausmachen lassen. So ist es die nonchalante Maskierung der biographischen Folie dieses Künstlerromans, die mit einer De-Maskierung des falschen Love-Scammers einhergeht. Dergleichen mehr an Bewegung findet sich in diesem Text, kreist umeinander und berührt sich mal, bleibt sich dann wieder fern, eben wie die Planeten oder die vier Tänzerinnen im Pas de Quatre.

Mit Dialogen aus der Digitalen Welt einem Aufbrechen herkömmlicher narrativer Strukturen ist dieses postmoderne Werk ganz zeitgemäß, schwingt auch die Autofiktion stets in diesem Text mit. Lesbar ist Hey guten Morgen, wie geht es dir? als Künstlerroman, als Briefroman, als Blick auf den Kunstbetrieb im Allgemeinen und den Literaturbetrieb im Speziellen oder als das Porträt einer Frau, die sich mit ihrer künstlerischen und privaten Identität auseinandersetzt. Als Buch am (ästhetischen) Puls der Zeit verwundert die Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 nicht.

Weitere Meinungen zu Martina Hefters Buch gibt es unter anderem bei Kulturgeschwätz, Bookster HRO und Deutschlandfunk Kultur.


  • Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?
  • ISBN 978-3-608-98826-0 (Klett-Cotta)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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Samuel Burr – Das größte Rätsel aller Zeiten

Ist es der Verbleib des Bernsteinzimmers? Oder die Hintergründe des Kennedy-Attentats? Die Formel für den nächsten Bestseller auf dem Buchmarkt? Nein, Das größte Rätsel aller Zeiten, das der Titel von Samuel Burrs Debütroman ankündigt, ist dann doch etwas profaner. So will der Waise Clayton Stumper das Rätsel seiner eigenen Herkunft lösen. Einst ausgesetzt in einer Hutschachtel vor dem Haus einer Gemeinschaft von Rätselmacher ist es nun an der Zeit zu ergründen, woher er kommt und was ihn ausmacht. Den Weg dabei weisen ihm natürlich – Rätsel.


Kreuzworträtsel, Sudokus, große Rätselhefte in Bahnhofsbuchhandlungen, kleine Geduldsspiele – sie alle dienen dem Zeitvertreib und sind höchst populär. Wer aber stellt sie eigentlich her? Die Antwort in Samuel Burrs Romanerstling lautet: die Gemeinschaft der Rätselmacher.

Was vielleicht nach einer elitären Loge klingt, entpuppt sich aber aber als Zusammenschluss einer Gemeinschaft von Eigenbrötlern und Spezialisten verschiedener Disziplinen, die gemeinsam in einem Anwesen in der Grafschaft Bedfordshire leben.

Samuel Burr - Das größte Rätsel aller Zeiten (Cover)

Vom Labyrinthbauer über eine Quizkönigin bis zu einem Maler von Puzzles reicht die bunt zusammengewürfelte Truppe. Zusammengehalten wird sie von Pippa Allsbrook, die sich ihrerseits für die Erstellung kniffliger Kreuzworträtsel kenntlich zeichnet. Einst rief sie die Gemeinschaft in London ins Leben und führte ganz unterschiedliche Menschen zusammen, mittlerweile aber sind fast vierzig Jahre seit der Gründung der Gemeinschaft der Rätselmacher ins Land gezogen.

Die Gemeinschaft ist hoch betagt, einige Mitglieder der Gruppe hat inzwischen auch das Zeitliche gesegnet. So nun auch Pippa, die als Spiritus Rector die Gruppe der Rätselerfinder*innen zusammengehalten hat. Als echte Rätselkönigin hinterlässt sie dem jungen Clayton Stumper dabei als Vermächtnis natürlich ein Rätsel.

Das Rätsel der Herkunft

Dieses Rätsel dreht sich ganz um dessen eigene Herkunft. Einst wurde er vor dem Haus der Rätselmacher*innen ausgesetzt und von der Gemeinschaft adoptiert. Eine Lösung für die Frage seiner Herkunft gab es allerdings nie. Und so begibt er sich nun auf eine finale Schnitzeljagd, um endlich das zumindest für ihn größte Rätsel aller Zeiten zu lösen, nämlich die Frage seiner Herkunft.

„Was ich nicht verstehe“, sagte Clayton, „warum man so wenig darüber weiß, woher ich komme.“

„Du hast uns überfordert“, erwiderte Earl mit einem Schulterzucken. „Du bist das Rätsel, das wir niemals lösen konnten.“

Samuel Burr – Das größte Rätsel aller Zeiten

Und so begibt sich Clayton auf eine Schnitzeljagd durch London, während Samuel Burr parallel immer wieder zurückspringt in die Zeit der Gründung der Gemeinschaft der Rätselmacher und deren Genese zeigt.

Ein literarisches Baiser

Das ist unterhaltsam gemacht und liest sich in Teilen, als hätten Freya Sampson, J. Paul Henderson und Alex Hay gemeinsame Sache gemacht. Allerdings ist Das größte Rätsel aller Zeiten für meinen Geschmack etwas zu harmlos, um wirklich überzeugen zu können. Fraglos, es ist ein netter Roman, aber ein wenig rätselhafter und weniger flach hätte es schon sein dürfen.

In Zeiten, in denen Escape Rooms boomen, das Miträseln in Krimis Hochkonjunktur hat und Nervenkitzel gefragt ist, konzentriert sich Samuel Burr auf eine harmlose Identitätssuche und setzt statt auf Spannung und Rätselraten lieber auf eine queere Liebesgeschichte. Allenfalls die einzelne zu erratende Kreuzworträtselbegriffe, die den Kapiteln der Spurensuche Claytons vorangesetzt sind, sind für Rätselfans ein Appetitanreger, ansonsten wird alles brav ausbuchstabiert und die Klärung der Rätsel allein dem Romanpersonal überantwortet. Von Claytons Spurensuche bleibt im Lauf des Romans kein einzig rätselhaftes oder faszinierendes Detail für die Leser*innen zurück, das zu einer tiefergehenden Beschäftigung mit Plot und Charakter einlüde.

So gleicht dieser Debütroman einem literarisches Baiser – nimmt sich spektakulär aus, ist mit knuffig-schrulligen Figuren gezuckert, sieht auch äußerlich toll aufgemacht aus und lässt sich schnell verschlingen – übrig bleibt aber nicht sonderlich viel. Der pompöse Titel des Buchs weckt hier Erwartungen, die der Roman dann selbst nicht erfüllen kann und will.

Fazit

Eine nette Geschichte, aber mitnichten Das größte Rätsel alles Zeiten. Das ist leider auch schon alles, was ich über Samuel Burrs Debütroman sagen kann.


  • Samuel Burr – Das größte Rätsel aller Zeiten
  • Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet
  • ISBN 978-3-8321-8223-6 (Dumont)
  • 448 Seiten. Preis: 24,00 €
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