Skandinavien-Krimis boomen nach wie vor in allen Dareichungsformen. Egal ob Serie (Die Brücke oder The Valhalla-Murders) oder als Buch. Die Nachfrage nach düsteren, verschachtelten Krimis ist ungebrochen. Und ein Autor, der diese Nachfrage besonders gut befriedigen kann, ist der Schwede Arne Dahl. Eigentlich heißt er Jan Arnald, der große Erfolg kam dann aber mit seinem Pseudonym. So schuf der Schwede die zehnbändige Reihe um die schwedische A-Gruppe und das OPCOP-Quartett über eine supranationale europäische Spezialeinheit.
Im Januar 2016 begann Dahl eine neue Reihe. Diesmal im Fokus: zwei ehemalige schwedische Polizisten. Er, Sam Berger, von der Kriminalpolizei. Sie, Molly Blom, vom schwedischen Nachrichtendienst SÄPO. Schon im ersten Band der Reihe wurden sie beide zu Parias, die sich fortan als Privatermittler durchschlugen. Hatte die Reihe im zweiten Band mit dem verworrenen Fall Sechs mal Zwei einen klaren Durchhänger, stabilisierte sich Dahl dann wieder mit Band Drei. Übrigens ein Phänomen, das auch im OPCOP-Quartett auftrat, bei dem Band Zwei Zorn der schwächste der Reihe ist.
Nun liegt mit Vier durch Vier der -Überraschung! – vierte Band der Reihe vor. Diesmal steht eine besondere Entführung im Mittelpunkt des Buchs.
Eine besondere Entführung
Nachdem sich Molly am Ende des letzten Bandes von Sam distanziert hatte, geht dieser seinem Broterwerb als Privatermittler zunächst alleine nach. Versicherungsbetrug und Sitzungen bei einer Psychologin. So sieht der Tagesablauf des ehemaligen Polizisten aus, bis er von seiner Therapeutin in eigener Sache angeheuert wird. Eine ihrer Patientinnen wurde entführt. Und da die Entführer keine Polizei wollen, erscheint ihr Sam als der richtige Mann für den Job.
Doch es gibt Unstimmigkeiten. Je weiter Sam (bald auch wieder mit Molly an seiner Seite) ermittelt, umso unklarer wird die Lage. Warum wurde die junge Frau entführt? Und wer hat ein Interesse an ihrem Verschwinden? Je knapper die Zeit wird, umso verwirrter wird Sam. Worum geht es bei dieser Entführung wirklich?
Arne Dahl gelingt es in diesem Buch, dem schon wirklich auserzählten Entführungstopos neue Seiten abzuringen. Denn mit dieser Entführung setzt eine Geschichte ein, deren Spuren bis zur russischen Mafia in Schweden und Mollys Vergangenheit als Undercover-Ermittlerin führen.
Vier durch Vier besitzt Drive, geizt einmal mehr nicht mit blutigen Schilderungen, hat einen ungewöhnlichen Plot und sticht aus dem üblichen Skandinavien-Serienkiller-Gros heraus. Man muss sich doch auch wundern, wie es Arne Dahl gelingt, bei seinem Output von einem Buch pro Jahr immer noch solche frischen Krimis zu entsinnen, die neue Pfade gehen. Und obwohl Vier durch Vier ja schon drei Vorgängerbänden mit einem vorsischtig gesprochen komplexen übergreifenden Erzählkonstrukt hat, kann man diesen Krimi auch gut alleine für sich lesen. Den größten Erkenntnisgewinn in Sachen Beziehungen und Charakterentwicklungen hat man freilich, wenn man auch die vorhergehenden Bücher liest. Aber auch für sich funktioniert Vier durch Vier erstaunlich gut (was bei Dahl ja sonst nicht immer der Fall ist).
„Du siehst Venedig, Morello. Die Touristen rieseln morgens in die Stadt hinein und abends wieder hinaus. Manchmal bleiben sie eine Nacht, manchmal zwei, selten drei, kaum jemals vier. 30 Millionen Touristen rieseln in die Stadt. Jahr für Jahr. Und sie lassen Geld bei uns. Viel Geld. Geld, von dem letztlich auch dein Gehalt bezahlt wird.“
„Ich verstehe, Signor Vice Questore“
Schorlau Wolfgang/Caiolo, Claudio: Der freie Hund, S. 37
Es scheint ein Gesetz zu geben, was das Schreiben von Regionalkrimis anbelangt. Die Ermittler oder respektive die Ermittlerinnen, die in einer touristisch attraktiven Region (Camargue, Venedig, Provence, etc.) ermitteln, werden immer gegen ihren Willen dorthin strafversetzt. Immer. Sie stoßen vor Ort auf Widerstände im Team, bekommen es mit einem Mord zu tun, lösen diesen dann restlos auf und bleiben dann doch in der Region hängen, da sie sich in Land und Leute verliebt haben. Der Grundstein ist gelegt für mindestens fünf Fortsetzungsromane, ehe der Boom dann irgendwann versandet.
Diesem güldenen Regelwerk für Regionalkrimis folgen auch Wolfgang Schorlau und Claudio Caiolo bei ihrer Zusammenarbeit namens Der freie Hund. Ihr Komissar heißt Antonio Morello, stammt aus Sizilien und ermittelte dort gegen die Mafia. Diese Ermittlungen brachten ihn in Gefahrt, sodass er nach Venedig strafversetzt wurde. Dort fremdelt er nun gewaltig, bekommt es mit Widerständen und neuen Kolleg*innen zu tun und hat auch bald einen ersten Mordfall, in dem er ermitteln muss. Ein junger Mann wurde mit mehreren Messerstichen ermordet. Er stand einer Bewegung vor, die sich gegen Kreuzfahrtschiffe in Venedig einsetzte. So muss der freie Hund nun ran und sich durch die Palazzos und Kanäle Venedigs ermitteln. Und das was das güldene Regelwerk des Regionalkrimis angeht, so verrät man wohl nicht zu viel, wenn man künftig mit weiteren Einsätzen für Morello rechnet.
In meinem Falle könnte ich darauf gut verzichten. Denn Der freie Hund kommt kaum über das Niveau der lieblos gemachten ARD-Länderkrimis hinaus. Da ist schon die mehr als fragwürdige Entstehungsgeschichte dieses Buchs, die mich stutzen ließ. Wenn dann das Produkt des italienisch-deutschen Duos wirklich überzeugen könnte. Aber das kann es zu keiner Minute.
Kein Klischee wird ausgelassen
Da sind zum Einen schon einmal die Figuren, die sich größtenteils lesen, wie sich ein Deutscher halt so die Italiener*innen respektive die Venezianer*innen vorstellt. Die Haute-Volee hat natürlich einen Dogen im Stammbaum und residiert in einem Palazzo, Kammerzofe inklusive. Der Kommissar ist ein eigensinner Sturkopf aus dem Süden, der bei seinem ersten Arbeitstag bei der Verfolgung eines Taschendiebs (wir sind ja in Venedig, nicht wahr) ins Wasser plumpst. Statt zum Vice Questore (den man natürlich immer mit Dienstrang anspricht) geht es dann aber erst mal zu Espresso und Gebäck ins Caffé. Frauen werden gerne über ihr Aussehen eingeführt, die eigenständig denkende Kollegin ist dann natürlich eine „Amazone“.
Wer so etwas lesen will, bitte. Ich glaube aber, dass wir 2020 schon etwas über diese Klischees hinaus sind, die selbst Donna Leon für ihre Krimis zu abgegriffen wären.
Passagen, die sich lesen, als hätten die Autoren einen halben Wikipedia-Artikel abgetippt, nachdem eine Figur das entsprechende Schlagwort im Dialog in den Raum stellt. Offensichtliches, dass dann aber extra noch einmal ausbuchstabiert wird, als hielte man seine Leser*innen für dumm.
„Eigentlich wollte er über Nacht bleiben. Dann hat er es sich aber anders überlegt.“ Ihre Stimme klingt plötzlich gepresster und schneller. Sie blickt einen winzigen Augenblick zur Seite.
Sie lügt.
Schorlau Wolfgang/Caiolo, Claudio: Der freie Hund, S. 37
Das findet sich neben hölzernen Dialogen und Szenen wie aus einer Aperol Spritz-Werbung en masse im Buch.
Zudem ist auch die Ausgestaltung der Figuren alles andere als stimmig (wenn sie denn überhaupt mal so etwas wie etwas Ausgestaltung und Tiefe erhalten). Bestes Beispiel ist Morello, der zuvor dem organisierten Verbrechen auf der Spur war und dementsprechend mit der modernen Verbrechenswelt und modernen Polizeiarbeit vertraut sein sollte.
Allerdings ist er bass erstaunt, als ihm in der Rechtsmedizin eine Frau gegenübersteht. Man stelle sich das einmal vor! Eine Frau, die Rechtsmedizin studiert hat. Und das im 21. Jahrhundert. Das lässt den freien Hund staunen. Genauso wie der Taschendieb, mit dem Morello zuvor noch etwas Fangen in den Gassen Venedigs gespielt hat. Dieser bittet den Kommissar dann um eine Büroklammer. Als er dem Hund dann offenbart, dass er damit gerne die Handschellen aufnesteln möchte, ist Morello wieder einmal erstaunt. Sapperlott! So ein kleptomanischer Tausendsassa.
Hier muss man sich wirklich fragen, ob einen die Autoren dieses klischeesatten Machwerks für dumm halten wollen. Anzunehmen ist es leider. Und da ich Bücher nicht mag, die mich für dumm verkaufen wollen, bin ich beim nächsten Einsatz des freien Hundes nicht mehr dabei. Ein überflüssiges und liebloses Buch, das man sich hätte sparen können. Und die Lektüre dessen sowieso.
Von den kleinen Lügen, die Großes bewirken, erzählt Angie Kim in ihrem Roman Miracle Creek. Ein Gerichtsroman darüber, was Lügen auslösen können und wie weit man gehen sollte, um die Wahrheit hinter dem Berg zu halten.
Eine Lüge kann manchmal wie ein Streichholz sein. Es bedarf nur eines kleinen Reibens über die Zündfläche, und das Streichholz steht in Flammen. Und wenn man damit nicht aufpasst, kann am Ende ein ganzes Haus in Flammen aufgehen. Und das alles nur mit einer ursprünglich ganz winzigen Aktion.
Ein Streichholz ist es auch, das im Roman Miracle Creek (Übersetzung von Marieke Heimburger) eine Katastrophe auslöst. Dieses Miracle Creek ist eigentlich ein typisches amerikanisches Durchschnittskaff, in dem nichts passiert. Doch plötzlich ist alles anders. Das Gericht tagt, Elizabeth Ward muss sich vor der Justiz verantworten. Der Vorwurf: sie hat bei einer sogenannten HBO, einer Hyperbaren Oxygenierung, also einer Sauerstoffbehandlung bei Überdruck in einer abgeschlossenen Kammer, Feuer gelegt. Zwei Menschen sind dadurch zu Tode gekommen, darunter Elizabeths eigener Sohn, der sich während des Feuers in der Kammer befand. Die Spurenlage ist eindeutig. Schon lang trug sie sich mit dem Gedanken, die Therapie abzubrechen. Zudem verzweifelte sie des Öfteren an ihrer Rolle als Alleinerziehende mit einem autistischen Sohn. Für die Öffentlichkeit steht es schon vor dem Prozess fest: Elizabeth ist ein Monster, eine Mutter, die ihren eigenen Sohn durch Brandstiftung getötet hat. Alles klar also?
Mitnichten. Denn dass das mit der Wahrheit eine komplizierte Angelegenheit ist, das zeigt sich in Miracle Creek schon bald. Nachdem uns Angie Kim im Prolog an der Katastrophe teilhaben lässt, die sich in der Scheune in Miracle Creek ereignete, als die HBO-Druckkammer und mit ihr die Patienten in Flammen aufging, geht es dann im Hauptteil des Buchs um die Gerichtsverhandlung. Auf der Anklagebank sitzt Elizabeth, die sich mit ihrer Rolle als Schuldige abgefunden hat. Staatsanwälte, Richter, Verteidigung, alle sind bereit, um über sie Recht zu sprechen. Sogar eine Hinrichtung als Schuldspruch steht im Raum.
Lügen über Lügen
Doch dann beginnt Angie Kim damit, die verschiedenen Lagen aus Lüge, die sich um die Wahrheit gruppiert haben, langsam abzutragen. Auf Basis des Gerichtsprozesses kommen verschiedene Personen zu Wort. Da ist der Arzt, der mit den zwei Müttern und ihren autistischen Kindern in der Druckluftkammer saß. Da ist die koreanische Familie, die die Druckluftkammer und Scheune eigentlich betreuen sollte. Elizabeth selbst ist auch Teil der Wahrheit. Je weiter die Befragungen durch den Staatsanwalt und die Verteidigerin voranschreiten, umso klarer zeigt sich, dass in Miracle Creek gar nichts klar ist. Wie in einer Rückwärts-Kamerafahrt gelangen wir als Leser*innen von Angie Kim angeleitet langsam vom Scheunenbrand bis zurück zum Streichholz, das die Katastrophe auslöste.
Jede Figur hat ihre eigenen Geheimnisse. Untreue, Missgunst, Hoffart – die sieben Todsünden könnte man in diesem kleinen amerikanischen Kaff wunderbar durchexerzieren. Geschickt schafft es Angie Kim, die Widersprüche im Verhalten und die großen und kleinen Lügen Stück für Stück zu enthüllen. Eingeteilt in die vier Prozesstage wechselt sie immer wieder die Perspektiven und behandelt eine Vielzahl an Themen. Die Bewahrung der eigenen Identität in einem fremden Land, Anpassung, die Rolle als Mutter, der Wunsch nach Kindern – das alles sind Themen, die in Miracle Creek angerissen werden. Den inhaltlichen Schwerpunkt bilden in meinen Augen aber Missverständnisse und Lügen im Miteinander, die Kim uns zeigt.
Im Strudel der Unwahrheiten
Er versuchte mehrfach, Marys Blick zu fangen, sie zu warnen, ihm nicht zu widersprechen, aber sie starrte weiter auf den vollen Teebecher. Als Pak fertig war, herrschte längeres Schweigen, dann sagte Young: „Du hast nichts weggelassen? Das ist wirklich die ganze Wahrheit?“ Ihre Miene war gefasst, aber in ihrer Stimme schwang ein leises Flehen mit, eine Traurigkeit, umhüllt von verzweifelter Hoffnung, und er wünschte, er könnte sagen, selbstverständlich hatte er nichts ausgelassen, sie würde ihn doch kennen, sie wüsste doch, dass er kein Mann war, der für Geld das Leben anderer Menschen aufs Spiel setzte.
Aber das sagte er nicht. Manche Dinge waren einfach wichtiger als Ehrlichkeit, selbst der eigenen Frau gegenüber. Er sagte „Ja, das ist die ganze Wahrheit.“ und redete sich ein, dass es nur zu ihrem Besten war. Denn die wirkliche Wahrheit würde sie nicht verkraften.
Kim, Angie: Miracle Creek, S. 457
Angie Kims Buch ist ein Gerichtsthriller, aber auch ein Familienroman, der trotz des klassischen Settings näher an Celeste Ng als an John Grisham ist. Natürlich hält sie mit immer neuen Enthüllungen und Twists die Geschichte am Laufen. Aber im Kern ist Miracle Creek in meinen Augen ein Familiendrama, das eindringlich die möglichen Konsequenzen von fehlender Kommunikation und psychologischen Eigendynamiken belegt. Ein Blick tief hinein in einen Strudel aus Unwahrheiten und Lügen, der sich spannend und psychologisch glaubhaft liest.
Manchmal hält die Programmplanung der Verlage die ein oder andere Überraschung bereit. So jüngst auch beispielsweise bei C.H. Beck. Am gleichen Tag erscheinen die Bücher zwei junger englischsprachiger Autorinnen, die sich beide um zwei Schwestern, deren Aufwachsen und die Frage nach dem familiären Zusammenhalt drehen. Während die Kanadierin Alix Ohlin aus der Ausgangslage einen ruhig erzählten Bilderbogen um ihre zwei Schwestern strickt, erzählt Liz Moore in Long bright river ihre Geschichte im Gewand eines Gesellschaftsroman mit starkem kriminalliterarischen Einschlag (übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann).
Die dunklen Seiten Philadelphias
Sie wandelt dabei auf den Spuren Dennis Lehanes. Ähnlich wie er sein Detektivduo Kenzie/Gennaro einst in den Straßen Bostons ermitteln ließ, schickt nun Liz Moore ihre Heldin Michaela „Mickey“ Fitzpatrick in Philly auf Streife. Sie ist als Streifenpolizistin im Revier Kensington tätig. Dieses Kensington könnte allerdings auch Gotham heißen, so düster und dreckig scheint dort alles. Die Kaufkraft ist verschwindend gering, Drogen, Kriminalität und Prostitution bestimmen das Straßenbild. Mickey beschreibt ihren Wohn- und Einsatzort so:
Das heutige Kensington wird von zwei Hauptverkehrsadern durchzogen: Front Street, die am Ostrand der City nach Norden führt, und Kensington Avenue – meist bloß die Ave genannt, eine mal freundliche, mal verächtliche Bezeichnung, je nachdem, wer sie benutzt –, die an der Front Street beginnt und in einem Schwenk nach Nordosten verläuft. (…)
Große Stahlträger stützen die Bahnlinie, blaue Pfeiler im Abstand von zehn Metern, sodass die ganze Konstruktion aussieht wie eine riesige und bedrohliche Raupe, die über dem Viertel hängt. Die meisten Transaktionen (Drogen, Sex), die in Kensington stattfinden, fangen auf einer dieser beiden Hauptstraßen an und enden auf einer der vielen kleineren Straßen, die sie kreuzen, oder noch häufiger in den verlassenen Häusern oder auf leeren Grundstücken, von denen es in den Seitenstraßen und Gassen des Viertels jede Menge gibt. Entlang der größeren Straßen finden sich Nagelstudios, Imbissbuden, Handy-Läden, Mini-Märkte, Ramschläden, Elektroläden, Pfandhäuser, Suppenküchen, andere gemeinnützige Einrichtungen und Bars. Etwa ein Drittel der Ladenfronten ist verriegelt und verrammelt.
Moore, Liz: Long bright river, S. 15
Tatsächlich ist der erste Vorschlag, den man beim Googlen nach „Kensington, Philadelphia“ erhält, der Terminus Drogen. Es folgen dann noch die Begriffe „Crime“ und „Crime Rate“. Die Bildersuche erbringt dann ein ähnliches Ergebnis. Bezeichnend auch eine Bilderstrecke des Fotografen Dominick Reuter, der den Stadtteil und seine Bewohner porträtiert hat.
Screenshot der Google-Suchanfrage
Zwei Schwestern im Moloch
In diesem Moloch versieht Mickey ihren Dienst. Ihr alter Partner, mit dem sie ein hocheffizientes Team bildete, ist im Krankenstand. Deshalb bekommt Mickey einen neuen Kollegen zugeteilt, mit dem sie durch die Straßen Kensingtons patrouillieren soll. Doch nachdem sich eine Chemie zwischen den beiden nicht so recht einstellen will, ist Mickey bald wieder alleine auf Streife.
Schon auf den ersten Seiten des Romans stolpert die junge Frau über die Leiche einer strangulierten Prostituierten. Es wird nicht die einzige Leiche bleiben. Offenbar macht ein Serientäter Kensington unsicher. Und Mickey hat allen Grund zur Furcht: denn nicht nur sie arbeitet in den Straßen Kensingtons. Auch ihre Schwester Kacey ist auf den Straßen des Molochs als Prostituierte tätig. Schwer drogenabhängig verkauft sie sich an ihre Freier, um Geld für den nächsten Schuss zu verdienen. Verschiedene Therapieversuche sind gescheitert und so bleibt für Mickey nur, aus der Ferne über ihre Schwester zu wachen.
Dadurch besitzt die Suche nach dem Serientäter für Mickey eine ganz eigene Brisanz. Auf eigene Faust versucht sie Nachforschungen anzustellen – und muss auch erkennen, dass ihre eigenen Kolleg*innen nicht unbedingt immer eine weiße Weste haben. Und dann ist plötzlich auch noch Kacey verschwunden. Ist auch sie ein Opfer des Killers geworden?
Ein Buch mit vielen Themen
Long bright river ist ein Buch, das viele Themen anschneidet und behandelt. Allein: bright, also glänzend, ist nichts davon. Da ist zum einen die Geschichte von Mickey und Kacey, die Liz Moore in einigen Rückblenden erzählt. Wie es kam, dass die eine der Schwestern drogenabhängig und die andere zur Polizei ging, das dröselt Moore langsam auf. Auch der Kampf von Mickey um ihre süchtige Schwester spielt eine Rolle, der (mit einer überraschenden Volte) von Moore nachvollziehbar geschildert wird.
Zum anderen ist das Buch auch großartiger feministischer Cop-Thriller. Ähnlich wie es zuletzt Melissa Scrivner Love in Lola (Suhrkamp-Verlag) gelang, Kriminalliteratur, Feminismus und Inneneinsichten von Drogenkartellen zusammenzubringen, schaffte es nun Liz Moore, sich in das Genre des Cop-Thrillers mit einer weiblichen Perspektive einzuschreiben.
Eigentlich sind die Helden der einschlägigen Autor*innen von Michael Connelly, Joseph Wambaugh bis Richard Price immer Männer. Polizisten, die die Straßen (un)sicher machen, manchmal hart am Rande der Legalität, oftmals auch darüber hinaus. Testosterongeladen, desillusioniert, männerbündlerisch- so kennt man diese Cops. Frauen nehmen in den Büchern zumeist nur statistische Rollen ein. Doch hier betritt mit Mickey Fitzpatrick nun eine Heldin die Bühne, die etwas anders ist.
Neben den Ermittlungen in den Straßen Philadelphias ist es auch die Trennung vom Vater ihres Kinders und ihre Existenz als Alleinerziehende, die sie umtreibt. Die finanziellen Sorgen, die prekäre Betreuungssituation ihres Sohnes, die überfordernde Sorgearbeit, das rissige familiäre Netz – glaubhaft beschreibt Liz Moore, wie Mickey zwischen diesen Anforderungen zerrieben zu werden droht.
Long bright river ist nicht zuletzt auch ein Buch über die Opioid-Krise und die verhängnisvolle Sucht eines ganzen Landes, die sich in Brennpunkten wie Kensington manifestiert. So kommen Menschen aus dem ganzen Mittleren Westen in dieses Stadtviertel, da sie hier die Strukturen für den Drogenkonsum sowie günstige Preise für Heroin und Co. vorfinden.
Gesellschaftspanorama, Krimi, Porträt einer zerrissenen Frau
Natürlich ist Moores Buch ein Krimi, das steht außer Frage. Aber darüber hinaus interessiert sich die Autorin eben auch für die gesellschaftlichen Umstände in Kensington, die symptomatisch für die USA sind. Der gigantische Drogenmissbrauch, die kaum vorhandenen Aufstiegschancen – wer will, kann viel Gesellschaftskritik in diesem Buch erkennen, das eben auch eine Milieustudie ist. Und nicht zuletzt spielt auch die Seelenlage Mickeys eine große Rolle, die glaubhaft über die Kindheit bis in die Gegenwart hinein entwickelt wird. Was es bedeutet, in einer „sozial schwachen“ Familie aufzuwachsen und die eigene Schwester an die Drogensucht zu verlieren, hier wird es nachvollziehbar geschildert.
Diese Mickey Fitzpatrick ist eine durch und durch glaubwürdige Heldin. Auch der von Liz Moore ersonnene Kriminalfall ist dicht dran an der Realität. Hier schaut eine Autorin auf die Abgründe, die die Hochglanz-Millionenmetropolen zweifelsohne auch bereithalten. Große feministische Krimikunst und gelungene Milieustudie aus Übersee.
Daly notierte sich die Einzelheiten, faltete den Zettel zusammen und schob ihn in seine Brieftasche. Zwei Polizeibehörden, die auf demselben Terrain operierten: Er sah die verschiedenen Formen des Verrats und die komplexen Verwicklungen direkt vor sich, die diese Grenze und die mit ihr einhergehenden politischen Intrigen hervorgerufen hatten, vor allem auch diese eine Form des Verrats, die die schlimmste und schrecklichste von allen darstellte.
Quinn, Anthony J.: Gestrandet, S. 171
Es ist ein zunächst einfach erscheinender Todesfall, der den Inspektor Celcius Daly auf ein ganzes Gespinst voller Verrat und doppeler Loyalitäten stoßen lässt. Am nebligen Ufer des nordirischen Lough Neagh wird er zu einem Tatort gerufen. Dort wurde die Leiche eines Mannes gefunden, der offenbar Selbstmord begangen hat. Ein typischer irischer Selbstmord, wie ein Kollege vor Ort anmerkt:
Die Leiche eines übergewichtigen Mannes mittleren Alters in den tristen Wellen des Lough. Das klingt für mich nach Selbstmord.“
Quinn, Anthony J.: Gestrandet, S. 14
Doch mit dem Selbstmord ist es nicht weit her. Denn der Tote ist ein Polizeibeamter, der offenbar im See ertränkt wurde. Zu allem Überfluss war er bei der Polizei tätig, allerdings bei der Garda Síochána, also der Polizeibehörde der Republik Irland. Was wollte der Mann im Norden Irlands, auf fremden Territorium? Das bemüht sich Celcius Daly im Folgenden zu ergründen.
Ein Grenzgänger ermittelt
Schnell wird Celcius Daly eines klar: er ermittelt in einem Fall, der auch politische Dimensionen hat. Denn in Zeiten des Brexits werden alte unsichtbare Grenzen wieder sehr deutlich sichtbar.
Bevor der Brexit sich abzeichnete, war die irische Grenze für die Bewohner der Insel so gut wie unsichtbar gewesen. Manche lebten im Norden und arbeiteten im Süden und umgekehrt. Warum sollte das nicht auch bei einem Polizeibeamten so sein? Daly sah durchaus Vorteile darin, jeden Tag die Grenze zu überqueren. Zum einen war es eine effektive Methode, Arbeit und Privatleben zu trennen. Auch das Thema Sicherheit spielte eine Rolle. Die Polizisten der Republik Irland mussten nur selten nachschauen, ob jemand eine Bombe unter ihrem Auto angebracht hatte. Aber hatte das Ganze nicht auch eine politische Dimension? Hatte der Tote seine Uniform getragen, als er die Grenze überschritt? Und was wäre gewesen, wenn man ihn an einem Kontrollpunkt angehalten hätte? Daly wartete ungeduldig auf weitere Informationen …
Quinn, Anthony J.: Gestrandet, S. 47
Rasch entdeckt Daly, dass er für seine Ermittlungen im wahrsten Sinne Grenzen überschreiten muss. Zusammen mit einem Kollegen auf der irischen Seite der Grenze ermittelt er und wird zu einem echten Grenzgänger.
Mit welchen Ermittlungen war der Tote vom Lough Neagh befasst? Welche Geheimnisse hatte er aufgedeckt? Die Spurensuche führt Daly auch in ein kleines Dorf namens Dreesh, auf der irischen Seite in Grenznähe gelegen. Dort hält ein alter IRA-Kader namens Tom Morgan die Zügel fest in der Hand und unterhält ein Schmugglerimperium.
Mögen sich zwar die Jahreszahlen geändert haben – subkutan sind die selben alten Parteien immer noch wichtige Einflussfaktoren, allen voran die IRA. Das arbeitet Anthony J. Quinn in seinem Buch deutlich heraus. Denn seit den Troubles hat sich wenig geändert in Irlnd. Celcius Daly stößt auf ein undurchsichtiges Geld- und Machtgeflecht, das von Tom Morgan sorgsam gepflegt wird. Hatten die Ermittlungen des toten Polizeibeamten mit dem IRA-Strippenzieher zu tun?
Polizei, Gangster – wer überschreitet die Grenzen?
Wie im Nebel, den Daly am Tatort beim Lough Neagh vorfindet, so gestalten sich auch seine Ermittlungen bisweilen. Je weiter er die Spuren dies- und jenseits der irischen Grenze verfolgt, umso komplizierter stellt sich auch die Gesamtlage dar. Denn nicht nur die alten IRA-Kader beweisen ein großes Geschick, wenn es darum geht, mithilfe der Grenze ihr Geschäft zu machen. Auch bei der Polizei selbst werden des Öfteren Grenzen überschritten.
So stößt Daly auf einen mysteriösen Polizeibeamten, der offenbar Undercover-Operationen in Morgans Imperium betreut hat. Das einzige Problem dabei ist, dass der Polizeibeamte, der ein Kollege des Toten vom Lough gewesen sein soll, nirgends greifbar ist. Und dann gibt es auch noch einen ominösen Polizei-Angelclub namens Green and Blue Fishing Club, der sich nicht nur dem Angel gewidmet haben sollte. Aber wirkliche Spuren sind Mangelware. Daly stochert wortwörtlich im Nebel und bringt kaum vorzeigbare Ergebnisse zustande, eher er beschließt, selbst auch die Grenzen zu überschreiten.
Die Grenze als Spiegel
Gestrandet von Anthony J. Quinn (aus dem Englischen übersetzt von Robert Brack) ist der fünfte Band einer Serie um Celcius Daly. Das merkt man in der Lektüre oftmals, wenn Anschlüsse fehlen. So rekurriert das Buch mehrmals auf Vorgeschichten, die Celcius Daly belasten, die zwar kurz angerissen werden, aber in einem Gesamtkontext der Buchreihe wohl deutlich mehr Sinn ergeben.
Gestrandet ist ein Buch, das sein Klasse eher in den gesellschaftlichen und politischen Beschreibungen, denn in der Spannungskurve zeigt. Denn die Grundzutaten von Quinns Krimi sind reichlich konventionell. Ein Selbstmord, der dann wenig überraschend natürlich keiner ist. Ein Cop, der Grenzen überschreiten und auch in den eigenen Reihen ermitteln muss. Korrupte Polizeibeamte, die eine eigene Definition von Recht und Gerechtigkeit besitzen. Das hat man alles schon mal so oder so ähnlich gelesen. Anthony J. Quinn besitzt nicht den Witz eines Ken Bruen oder die coole Attitüde eines Adrian McKinty. Seine Stärken liegen an anderer Stelle.
Es sind die geschickt eingearbeiteten Spiegelungen, die immer wieder im Buch auftauchen. So fungiert bei Quinn die Grenze als Spiegel, der das Leben der Menschen in Zeiten des Brexits deutlich teilt. Der Norden und der Süden, die Garda Síochána und der Police Service of Northern Ireland, die Verbrecher auf der einen und die Ordnungsmacht Polizei auf der anderen Seite. All das wird in Quinns Buch sehr präsent genauso wie die Grenzen, die verschwimmen. Polizisten, die sich der IRA andienen, Spitzel, die sich der Polizei andienen oder von ihr angeworben werden. Alles hat seine Entsprechung auf der anderen Seite.
Am deutlichsten wird die Spiegelung, als Daly bei seinen Ermittlungen einem Kollegen im Süden begegnet. Dieser zeigt ihm ein Foto von sich, seinem Bruder und seinem Vater. Aufgewachsen in Belfast ging der eine Bruder zur Polizei im Süden, der andere zu der im Norden. In der Mitte der Vater, unglücklich mit der Berufswahl seiner beiden Söhne. Gestrandet ist voll von solchen Doppelbildern, die erahnen lassen, wie stark diese Teilung des Landes durch die Grenze ist. Und welche krassen Auswirkungen ein solcher Brexit (Stichwort Backstop) für die grüne Insel erneut haben könnte.
Fazit
Gestrandet ist ein politisches Buch, ein Krimi voll auf Höhe der Zeit und ein höchst notwendiger Seitenblick auf die unendlichen Brexit-Diskussionen. Gut geschrieben und mit einer überzeugender literarischen Gestaltung der Leitmotive. Eine neue Stimme aus Irland, der man auch eine Übersetzung der übrigen Bände wünscht.