Dezember: Zeit der Jahresrückblicke. Auch ich mach hier auf dem Blog keine Ausnahme. Aber diesmal halte ich mich persönlich fürs erste zurück und lasse andere Leser*innen zu Wort kommen.
Ich habe verschiedenste Menschen innerhalb und außerhalb der Buchbranche gefragt, was für sie ihre Bücher des Jahres waren. Welches Buch hat sie 2019 am meisten begeistert? Warum haben sie die genannten Titel so berührt? Was leisten ihre Bücher für unsere Gesellschaft? Was empfehlen sie zur Weihnachtszeit? Über die vielen ganz unterschiedlichen Antworten habe ich mich sehr gefreut. Vielleicht ist für euch auch die ein oder andere Anregungen bei den Tipps mit dabei?
„Kintsugi“ von Miku Sophie Kühmel.
Schon vor der Buchpreis-Nominierung wurde mir das Buch von der Lektorin wärmstens ans Herz gelegt und ich kann diese Empfehlung nur genauso weitergeben.
Vier Menschen in einem Ferienhaus irgendwo auf dem Land. Es ist Winter. Still und starr ruht der See. Im Haus bricht das Leben aus den Fugen und hinterlässt nichts als Scherben.
Kintsugi fühlt sich beim Lesen an wie eine Kaschmirdecke, die einem schlussendlich aber das Herz bricht. Man sitzt weinend auf der Couch und freut sich über diesen Schmerz. Wie gut das doch tut.
Kühmel, Miku Sophie: Kintsugi. Erschienen bei S.-Fischer. ISBN: 978-3-10-397459-1, Preis: 21,00 Euro
„Gespräch mit Freunden“ von Sally Rooney
Warum ich es empfehle? Sally Rooney ist eine noch sehr junge, dafür aber schon hoch gelobte irische Schriftstellerin und, wenn ich ehrlich bin, bin ich immer etwas skeptisch, wenn Kritiker sich so überschlagen. Aber hier ist es wirklich anders: Von Beginn an hat mich ihre Sprache in den Bann gezogen. Die Charaktere sind derart filigran gezeichnet, dass von Beginn an eine ganz besondere Atmosphäre herrscht.
Nur ganz kurz, um was es geht: Zwei junge Frauen lernen ein Künstlerehepaar kennen und verbringen mit ihnen und einen Urlaub. Die Beziehungsgefüge innerhalb dieser Gruppe sind fein verwoben, wirken ganz selbstverständlich, gar nicht konstruiert oder auf Effekt ausgelegt. Es werden viele unterschiedliche Themen besprochen, kaum etwas wird ausgelassen. Nichts ist aber besonders dominant, sondern alle haben scheinbar die gleiche Wertigkeit. Man wird des Lesens nicht überdrüssig, sondern verliert sich sehr schnell in den Seiten dieses sensiblen Romans. Einiges hat mich selbst direkt angesprochen und zum Nachdenken angeregt, daher hat sich für mich mit dem Titel Gespräch unter Freunden sozusagen der Kreis geschlossen.
Rooney, Sally: Gespräche mit Freunden. Übersetzt von Zoe Beck. Erschienen bei Luchterhand. ISBN: 978-3-63087541-5, Preis: 20,00 Euro
„Sand“ von Wolfgang Herrndorf / „Dschungel“ von Friedemann Karig
Es gibt wenig Öderes als Menschen, die laut darüber ächzen, dass sie ja „nur noch im Urlaub“ zum Bücherlesen kommen. Aber ich kann es doch auch nicht ändern. In der thailändischen Hängematte lief ich dieses Jahr aber zu Höchstform auf und las wie ein junger Schmökergott vor Erfindung von Pokemon Go. Bis die Hängematte nicht mehr schaukelte, sondern auf einem Stapel ausgelesener Bücher aufsaß. Absoluter Favorit: Sand von Wolfgang Herrndorf. Damit bin ich spät dran, schon klar. Aber what a ride! Und wie traurig ich war, als es nach fast 500 Seiten zu Ende ging.
Lobend, nein jubelnd, erwähnt werden muss auch Dschungel von meinem Freund Friedemann Karig: Ein Debütroman, bei dem ich das Vergnügen hatte, den Entstehungsprozess beobachten zu dürfen, wenn auch aus der Berliner Ferne mal nach München mal nach Kambodscha. Die erste Version als Word-Datei gelesen, dann eine Zwischenstufe auf dem Kindle, in der noch auszutauschende Wörter gefettet waren (lustiger Moment, als ich das kapierte). Und am Ende ist es so ein wunderbarer Coming-of-Ageturner geworden über Freundschaft, Unterwegssein und das Erinnern.
Für 2020 übrigens vorgenommen: Mehr Bücher von Frauen lesen, vielleicht sogar ausschließlich. Habe da beschämt ein Defizit festgestellt und Till Raether hat mich mit Muriel Spark schon so angefixt, dass allein damit schon ein oder zwei Hängemattenwochen zu bestreiten sein werden.
Herrndorf, Wolfgang: Sand. Erschienen bei Rowohlt. ISBN: 978-3-87134-734-4, Preis: 19,95 €
Karig, Friedemann: Dschungel. Erschienen bei Ullstein. ISBN 978-3-550-20013-7, Preis: 22,00 €
„Treideln“ von Juli Zeh
Treideln ist kein Roman. Es ist trotzdem (oder deshalb?) Juli Zehs bestes Buch. Im Jahr 2013 sollte sie die Frankfurter Poetikvorlesung halten – sprich: über ihr eigenes Schreiben Auskunft geben. In Treideln druckt sie einige höchst amüsante, unterhaltsame und geistreiche„Briefwechsel“ (im Grunde sind es aber nur ihre Briefe) zwischen sich und anderen Personen (im Wesentlichen ihrem Mann, ihrem Verleger, einem befreundeten Schriftsteller, einer befreundeten Lyrikerin) ab, in denen sie erklärt, warum sie die öffentliche Auskunft in Form der Poetikvorlesung ganz grundsätzlich ablehnt. In Form der Briefe tut sie es dann natürlich doch – denn sie schreibt genau über das, worum es einer Poetikvorlesung geht: über sich als Schriftstellerin. Das ist nicht nur unheimlich lustig (auch, wenn sie zwischen den Emails kurze Schreiben an die städtische Abfallbehörde abdruckt, in denen sie für eine weitere Papiermülltonne kämpft, oder von peinlichen Erinnerungslücken berichtet, die sie auf Podien ereilt haben, als ihr die Namen ihrer eigenen Romanfiguren nicht mehr einfielen), sondern auch sehr lehrreich: es wäscht all den Lesern gehörig den Kopf, die viel zu viel in Texte sowie in die privaten Verstrickungen von Schriftstellerin in ihre eigenen Texte hineininterpretieren.
Für alle, die Juli Zehs Romane mögen, ist Treideln ein absolutes Muss – und für alle, die Juli Zehs Bücher nicht mögen, erst recht. Warum? Nicht zuletzt um zu erkennen (wie auch ich es tat!), dass Schriftsteller auf keinen Fall nur an ihren Romanen zu messen sind. Meine literarisch begründeten Vorbehalte Juli Zeh gegenüber drohten durchaus auf die (mir natürlich völlig unbekannte) Person Juli Zeh durchzuschlagen – sie sind nach der Lektüre dieses Buches mehr als ausgeräumt. Juli Zeh hat hier so viel Wahres, Geistreiches, Abgründiges, vielzu selten von Schriftstellern Ausgesprochenes, über Literatur und vor allem die Menschen hinter der Literatur – die Schriftsteller und die Leser – zu Papier gebracht, dass ich ihre Romane zwar noch immer nicht gerne lese, Juli Zeh aber nun immerhin als Person jenseits ihrer Romane (die ich leider weiterhin natürlich nicht persönlich kenne) enorm zu schätzen begonnen habe.
Zeh, Juli: Treideln. Erschienen im Schöffling-Verlag, Taschenbuch im btb-Verlag. ISBN; 978-3-442-74814-3, Preis 8,99 €
„Eine unsterbliche Frau“ von Sibylle Knauss
Warum: Besser spät als nie. Ich habe die 75-jährige Schriftstellerin erst durch dieses Buch entdeckt. Ein echtes „Erweckunserlebnis“, weil ich mir inzwischen auch einige ihrer älteren Romane besorgt habe und beim ersten Reinlesen genauso begeistert bin wie von der unsterblichen Frau. Die Unsterbliche, das ist eine Seherin, die Sibylle von Cumae, die durch die Jahrtausende wandert und unsere wechselnden Gesellschaften betrachtet. Das ist so klug und sanft ironisch bis bissig beschrieben, ein Stil, der mir außerordentlich gefällt. Immer wieder streut Sibylle Knauss in den Erzählfluss amüsante Bemerkungen ein, blitzen ihr trockener Humor und eine gewisse Scharfzüngigkeit durch.
Die Sibylle von Cumae: Eine unsterbliche Frau. Und nach diesem Roman auch eine unvergessliche Frau, eine ungewöhnliche Gestalt der Literatur.
Knaus, Sibylle: Eine unsterbliche Frau. Erschienen bei Klöpfer&Narr. ISBN: 978-3-7496-1003-7, Preis: 22,00 €
„Kritische Masse“ von Sara Paretsky
Die Privatdetektivin V.I. Warshawski sucht auf Anfrage einer Freundin eine Vermisste. Auf der Suche erfährt sie mehr zur Familie ihrer Auftraggeberin und gerät in ein aufsehenerregendes Stück Wissenschaftsgeschichte, zurück ins Wien der 1930er und 1940er Jahre. Eine jüdische Vorfahrin arbeitete als Physikerin am Institut für Radiumforschung. Ihre Spur verliert sich nach der Deportation und doch hat sie mit jenen Problemen zu tun, die V.I. Warshawski lösen muss.
Sara Paretsky verknüpft in ihrem Kriminalfall sehr elegant die Geschichte der frühen Forschung in der Kernphysik mit der Existenzneugründung jüdischer Forscher in den USA und zugleich der Geschichte der Frauen in der universitären Forschung. Selbst die brillantesten Forscherinnen blieben meist unbezahlt und bei Auszeichnungen gingen sie trotz ihrer fundamentalen Beiträge oft leer aus. Der Kriminalroman klärt darüber erzählerisch hervorragend auf und löst implizit die Frage aus, inwieweit sich die Gesellschaft seither bei der Beurteilung und Anerkennung von Leistung weiterentwickelt hat.
Paretsky, Sara: Kritische Masse. Übersetzt von Laudan & Szelinski. Erschienen im Argument Verlag, ISBN: 978-3-86754-236-4, Preis 24,00 €
„Querwege“ von Albertine Sarrazin / „Afrotopia“ von Felwine Sarr
Obwohl Sarrazin fast die Hälfte ihres Lebens im Gefängnis saß, bereits mit 29 Jahren bei einer Nierenoperation starb (1967) und deshalb nur drei Romane schreiben konnte, ist sie für mich eine der größten und wichtigsten Autorinnen, die ich kenne. 2019 ist ihr letzter Roman Querwege in einer neuen Übersetzung von Claudia Steinitz erschienen. Schrieb sie ihre ersten beiden Bücher (Astragalus und Der Ausbruch) noch heimlich hinter Gittern, ist Querwege ihr einziger Roman, an dem sie in Freiheit arbeiten konnte. Im Text wird die Hauptfigur, die denselben Namen wie die Autorin trägt, frisch aus dem Gefängnis entlassen und wartet darauf, dass ihr Ehemann ebenfalls freikommt. Dabei beschreibt Sarrazin auf einmalige Weise ein Leben zwischen der Hoffnung auf eine bessere Zukunft und der lähmenden Verzweiflung an der Welt, in der sie lebt. Diese Mischung zwischen einer gewaltigen und wunderschönen Sprache und den feinen Schilderungen des Innenlebens ihrer Protagonistin macht diesen Text zu meinem absoluten Highlight im letzten Jahr.
Felwine Sarr ist Ökonom und stammt aus dem Senegal. Bekannt wurde er einem breiteren Publikum durch seinen Bericht zur Rückgabe der afrikanischen Kulturgüter, den er Ende 2018 zusammen mit dem Historiker Bénédict Savoy veröffentlicht hat (Sarr-Savoy Bericht, auf dt. „Zurückgeben – Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter“). In Afrotopia, einem knapp 180 Seiten langen Essay, skizziert Sarr ganz grundlegend eine mögliche Zukunft für den afrikanischen Kontinent. Dabei ist auf jeder Seite die Wut über den Status Quo zu spüren, der durch die Gräueltaten der Europäer*innen bestimmt wurde, genau wie eine Hoffnung, dass es eine bessere Zukunft möglich ist. Dafür fordert Sarr, dass die Menschen Afrikas sich endlich von westlichen Maßstäben freimachen, was sowohl westliche Konzepte zur „Entwicklungshilfe“ betrifft (einen Begriff den er vollständig ablehnt), als auchgängige westliche Wohlstandsmaße wie das Bruttoinlandsprodukt. Vielmehr müssen sie sich ihrer Identität als Homo Africanus (statt des westlichen Homo Oeconomicus) bewusstwerden. Um zu verstehen, was der Westen den Menschen in Afrika angetan hat und wie eine selbstbestimmte Zukunft aussehen kann, gibt es kein besseres Buch als Afrotopia von Felwine Sarr.
Sarrazin, Albertine: Querwege. Neu übersetzt von Claudia Steinitz. Erschienen bei Ink-Press. ISBN: 978-3-906811-12-3, Preis: 25,00 €
Sarr, Felwine: Afrotopia. Übersetzt von Max Henninger. Erschienen bei Matthes & Seitz Berlin, ISBN: 978-3-95757-677-4, Preis: 20,00 €
„Fremde und Bürger“ von Joseph H. Carens
Eine schwangere Frau und ihr Mann sind auf der Flucht. Sie lassen alles zurück – Familie, Freunde, Beruf. Er ist Schreiner. Doch niemand nimmt sie auf. Alle Türen bleiben verschlossen. Schließlich finden sie Unterschlupf in einer Scheune. Das ist der Beginn der Weihnachtsgeschichte. Und deshalb ist dies mein Buchtipp zu Weihnachten: „Fremde und Bürger. Weshalb Grenzen offen sein sollten“ von Joseph H. Carens (Reclam, 64 Seiten, 6 Euro). Ein schmaler Text, dreißig Jahre alt, aber so aktuell wie nie. Mich hat seine Lektüre in diesem Jahr sehr beschäftigt und tut es immer noch. Er kann die Augen öffnen, Dein Weltbild ins Wanken bringen. Seine Kernidee ist revolutionär. Ein Text, über den man reden will, wenn man ihn gelesen hat. Und vielleicht sind die Weihnachtstage der ideale Zeitpunkt dafür.
Carens, Joseph H.: Fremde und Bürger. Weshalb Grenzen offen sein sollten. Erschienen bei Reclam, ISBN 978-3-15-019562-8, Preis: 6,00 €
„Die Mauer“ von John Lanchester
„Es ist kalt auf der Mauer.“ In der ewigen Hitliste der besten Buchanfänge ist John Lanchester mit diesem ersten Satz in seinem Roman Die Mauer ganz weit oben eingestiegen. Er führt mitten hinein in die Geschichte und nimmt die gesamte Stimmung des Romans vorweg. Bei vielen Dystopien spürt man bei der Lektüre ein wohliges Grauen, nicht so bei „Die Mauer“. Hier ist nichts wohlig, es läuft einem kalt den Rücken hinunter, denn die geschilderte Zukunft einer durch den Klimawandel vollkommen aus den Fugen geratenen Welt ist nur einen kleinen Schritt von uns entfernt. Und wir sind auf direktem Weg unterwegs in Richtung Wand. Mit Vollgas. Eigentlich gibt es zu „Die Mauer“ nur drei Wörter zu sagen: Lest. Dieses. Buch.
Lanchester, John: Die Mauer. Übersetzt von Dorothee Merkel. Erschienen bei Klett-Cotta. ISBN: 978-3-608-96391-5 , Preis: 24,00 €