Literatur-Soiree mit Ingo Schulze

Heute auf den Tag vor einhundert Jahren wurde die Stadtbücherei Augsburg gegründet. Ein Umstand, für den ich sehr dankbar bin, schließlich versorgen mich die Bücherei und ihre Zweigstellen nicht nur mit den neuesten Medien, sondern auch mit Lohn und Brot. So ein runder Geburtstag muss natürlich auch gefeiert werden. Morgen und am Samstag geschieht das dann. Am Freitag nur für geladene Gäste, am Samstag dann aber für alle Augsburger*innen. Am Abend findet nämlich wieder eine Literatursoiree in Zusammenarbeit mit der Augsburger Allgemeine statt.

Gast ist diesmal der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Ingo Schulze. Wikipedia zählt über 20 Ehrungen auf, die Schulze im Laufe seiner Schrifststellerkarriere sammeln konnte. So zählt der Brecht-Preis der Stadt Augsburg zu einer seinen vielen Auszeichnungen. Im Jahr 2007 konnte er den Preis der Leipziger Buchmesse erringen. Dieses Kunststück könnte ihm auch dieses Jahr wieder gelingen (wenngleich die Messe und damit auch die Preisverleihung ja erst einmal abgesagt wurden). Mit seinem Roman Die rechtschaffenen Mörder ist er auch in diesem Jahr wieder für den Preis nominiert. Am 07.03.2020 wird er aus diesem Roman in der Stadtbücherei vorlesen und nachher im Gespräch Auskunft über das Buch und sein Schreiben geben. Sicherlich hoch spannend, denn die Kurzbeschreibung seines neuen Romans klingt wie ein Kommentar zum Rechtsdrift unserer Gesellschaft:

Ingo Schulze – Die rechtschaffenen Mörder

Wie wird ein aufrechter Büchermensch zum Reaktionär – oder zum Revoluzzer? Eine aufwühlende Geschichte über uns alle.

Norbert Paulini ist ein hoch geachteter Dresdner Antiquar, bei ihm finden Bücherliebhaber Schätze und Gleichgesinnte. Über vierzig Jahre lang durchlebt er Höhen und Tiefen. Auch als sich die Zeiten ändern, die Kunden ausbleiben und das Internet ihm Konkurrenz macht, versucht er, seine Position zu behaupten. Doch plötzlich steht ein aufbrausender, unversöhnlicher Mensch vor uns, der beschuldigt wird, an fremdenfeindlichen Ausschreitungen beteiligt zu sein. Die Geschichte nimmt eine virtuose Volte: Ist Paulini eine tragische Figur oder ein Mörder?


Im Anschluss an die Lesung gibt es dann wieder einen Literarischen Salon. Mit Kurt Idrizovic von der Buchhandlung am Obstmarkt und Stefanie Wirsching von der Augsburger Allgemeinen diskutiere ich über folgende drei Neuerscheinungen des Bücherfrühlings. Kontroverse Meinungen sind zu erwarten!

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Akiz – Der Hund

Wenn Salz begehrter ist als ein Tütchen Kokain: Akiz‘ Geschichte über einen begnadeten Außenseiter in einem Gourmettempel: Der Hund.


Das Kochen sinnlich ist, verschiedene Reize anspricht und im besten Falle eine Kunst, das ist ein Allgemeinplatz. Für diese Seite des Kochens interessiert sich der Regisseur und Drehbuchautor Akiz in seinem Debüt allerdings nicht. Er schaut dahin, wo es ganz anders zugeht. Wo geflucht, geschlagen und geschuftet wird. Dort, wo der Umgangston mindestens ebenso unbarmherzig wie die Anforderung an Körper und Geist ist: die Küche. Dort, wo teils unter indiskutablen Verhältnissen die Speisen produziert werden, die dann im vorderen Teil des Restaurants dem Gast serviert werden, der vom Zustandekommen seines Gerichts nichts merken soll.

Akiz - Der Hund (Cover)

In einer Küche, in der die Anforderungen noch einmal um ein vielfaches höher sind wie in der normalen Gastronomie, dort schuften Mo und der Hund. Kennengelernt haben sich die beiden in einer Dönerbude. Unter ihrem despotischen Chef versahen die beide ihren Dienst. Mo als Fleischraspler und Döner-Beleger, der Hund als Quasi-Leibeigner, der vom Besitzer des Ladens drangsaliert wurde. Mehr oder minder verwildert, ohne große Sprachkentnisse und ohne jegliche soziale Kompetenzen nahm Mo diesen Hund unter seine Fittiche. Nachdem sie in einem Streit eines Tages den Job quittieren, stehen beide im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße.

Nachdem Mo eine einzigartige kulinarische Kombinationsgabe beim Hund ausgemacht hat, beschließt er, alte Kontakte zu reaktivieren. Über Umwege gelangen sie als Aushilfsköche in die Küche des legendären Gourmettempels El Cion. In dieser Küche, irgendwo zwischen Noma und El Bulli, hat der sagenumwobene Sternekoch Valentino das Sagen. Noch.

Erst nach einer Weile, als der Hund seine Augen wieder öffnete, drehte sich Valentino um und verschwand im Dampf der Küche. Er hatte keine Ahnung, dass der Hund auf dem Weg war, in sein Reich einzudringen wie der Antichrist im Vatikan.

Akiz: Der Hund, S. 32

Zwischen Sinnlichkeit und Derbheit

Der Hund ist ein wilder Ritt. Gerade einmal 190 Seiten hat die Erzählung, die mit unglaublichem Tempo voranprescht. Im Kern ist Akiz‘ Buch eine Aufstiegs- und eine Abstiegsgeschichte. Während sich der Hund von der Gosse bis in den höchsten Gourmettempel vorarbeitet, sinkt Valentinos Stern unaufhörlich. Als Erzähler dieser beiden Geschichten fungiert Mo, durch den wir als Leser*innen ganz unmittelbar mit dabei in der Welt einer Gourmetküche sind. Die Welt, die sich hinter dem Pass auftut, über den die Essen geschickt werden, lernen wir durch seine Augen sehen. Nur selten verlässt Akiz‘ den Ich-Erzähler Mo, um dann aus auktorialer Perspektive weiterzuerzählen.

Die glühend heißen Pfannen, die Arbeitsunfällen, den psychischen Druck, der in einer solchen Küche herrscht, in der Abend für Abend 200 Gerichte über den Pass gehen, die Köch*innen, die sich nachts halb zerschlagen aus dem Hintereingang des El Cion schleppen, all das versteht Akiz‘ durch Mo mehr als eindringlich zu schildern. Die Sprache, die er dafür entwickelt hat, oszilliert beständig zwischen großer Sinnlichkeit und Vulgarität.

Hier, er solle den Mund aufmachen, sagte Valentino und schüttete dem Hund eine winzigen Prise [eines kostbaren Salzes aus Himalaya] in den Mund, drohte ihm, dass er niemandem davon erzählen dürfte, dann legte er sich selbst ein paar Salzkristalle auf die Zunge und schloss die Augen.

Die beiden ließen den Geschmack auf der Zunge zerschmelzen. Auch der Hund schloss die Augen. Vor ihm zogen Wolken vorbei. Steiniger Boden. Trocken Falten unter grauen Haaren. Fell eines struppigen Tiers, vom Wind zerzaust. Karges, verblichenes Kraut, knorriger Wuchs zwischen wuchtigen Felsen.

Akiz: Der Hund, S. 113

Sprachliche Stärken

Akiz ist in seinem Debüt stark, was das Finden von eingängigen Vergleichen und Metaphern angeht. Da glüht der heiße Grill in der Dönerbude wie ein Atommeiler oder die Straßen scheinen am frühen Morgen in feurigen Rot und Gelb, als hätte man sie in tausend Tonnen Glutamat getunkt. Er schafft es, die Welt der Kulinarik in funktionierende Sprachbilder zu überführen, sodass man rasch Hunger bekommen könnte:

Vor dem Hund lag ein in weißes Porzellan gerahmtes, abstraktes Gemälde, in der Mitte war die Leber eines Gans angerichtet, überzogen mit einer brüchigen Glasur aus salzigem Honig, umgeben von krustig gebratenen Bohnen und einem Apfelgratin, so zart, dass er beim bloßen Anblick in sich zusammenfiel und bestäubt war das Ganze mit etwas, das aussah wie Splitter kandierter Rinde.

Akiz: Der Hund, S. 31

Dann ist das Buch aber auch wieder unglaublich derb. Es wird geflucht, die Sprache ist alles andere als jugendfrei. Das geht aber auch völlig in Ordnung, ist die tatsächliche Küchensprache ja oftmals noch derber, als sie hier zu lesen ist. Bis auf einzelne, manchmal etwas verunglückte Metaphern ist dieses Buch auf sprachlicher Ebene wirklich mehr als überzeugend.

Es ist ein filmisches Leseerlebnis, Der Hund zu verschlingen oder sich ihn langsam auf der Zunge zergehen zu lassen. Würde man nach Vergleichen suchen, dann ist Akiz Buch irgendwo zwischen Brad Birds Ratatouille, Süskinds Das Parfüm und Fatih Akins Soul Kitchen einzuordnen. Eines meiner großen Lesehighlights in diesem Frühjahr. Sinnlich, sprachlich überzeugend, mitreißend und temporeich.

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Blogbuster – Auf zu Runde 2

Vor einiger Zeit berichtete ich an dieser Stelle über meine Jurytätigkeit beim Blogbusterpreis 2020. Nachdem ich in der ersten Runde nicht fündig wurde und keines der Manuskripte so überzeugend fand, um mit ihm ins Rennen um den Preis zu gehen, wagte ich den Sprung in den Manuskripte-Pool. In diesen Pool legten die anderen Blogger*innen Manuskripte ab, die sie für vielversprechend hielten, für die sie sich sellbst aber nicht entschieden hatten. Und in diesem Pool wurde ich nun auch schlussendlich fündig.

Drei Manuskripte waren es, die meine Neugier weckten und die ich zur vollständigen Lektüre anforderte. Dabei war die stilistische und inhaltliche Breite wirklich erstaunlich. Hier ein paar ausführlichere Worte zu meinen Entdeckungen.

Tina Ger – Berlin City Blues

Eine alte Bekannte in Sachen Blogbuster ist Tina Ger. Die Autorin landete schon vor zwei Jahren auf der Longlist des Blogbuster. Damals hatte sich Uwe alias Kaffeehaussitzer für ein Manuskript der in Los Angeles lebenden Autorin entschieden. Auch ich habe im Manuskripte-Pool einen Text von Tina entdeckt und zwar Berlin City Blues. Darin entführt Tina Ger uns Leser*innen ins West-Berlin der 80er Jahre. Ihre zwei Helden bekommen es im Roman mit einer Mordserie zu tun, die sowohl der Polizei als auch der Berliner Unterwelt schlaflose Nächte bereitet. Als Vergleichstitel für ihren Roman nennt Tina Ger selbst Bücher wie etwas Clemens Meyers Im Stein oder Als wir träumten. Obwohl damals noch nicht geboren, hat mir die Autorin ein Gefühl davon gegeben, wie es gewesen sein muss, in der alten BRD, als plötzlich in ganz West-Berlin Leichen auftauchten und die Unterwelt noch etwas anders funktionierte als heute.

Andrea Dennemann – Rosario

Einen ganz anderen Tonfall machte ich in der Leseprobe zu Rosario aus. Hier steht ein Bahnwärter im Mittelpunkt, der im italienischen Hinterland der 50er Jahre seinen Dienst versieht. Dieser Rosario Giuseppe Castino geht seinem recht unspektakulären Broterwerb nach, bis die Liebe und eine Kündigung sein Leben durcheinanderwirbeln und es ihn nach Rom verschlägt. Die Autorin Andrea Dennemann selbst nennt im Exposé ihren Roman „leise“ und „poetisch“ – und so ruhig lesen sich auch die ersten Seiten, die Rosarios Leben beschreiben.

Ein Entwicklungsroman im Stile von Pablo d’Ors Die Wanderjahre des August Zollinger, irgendwo zwischen Giuseppe Tornatore und Bahnwärter Thiel.

Yannick Dreßen – Verdichtet

Der Dritte im Bunde ist Yannick Dreßen. Wer sich für Literaturblogs interessiert, könnte vielleicht schon einmal seinen gleichnamigen Blog besucht haben. Auf dem Blog erzählt Dreßen von seinen letzten Lektüren und den entsprechenden Urteilen. Unter dem Reiter Bücherei finden sich auch seine Prosaveröffentlichungen. Eine noch nicht veröffentlichte Arbeit ist sein Roman Verdichtet. In diesem Buch steht der Schriftsteller Friedrich im Mittelpunkt. Eigentlich hat er alles: Erfolg, Familie, Glück. Doch dann erwacht er plötzlich in einer anderen Realität, in der Friedrich Insasse einer Heilanstalt ist. Man eröffnet ihm, dass seine Frau und seine Tochter nicht mehr leben. Doch welche der beiden Welten ist die wahre ? Ein Spiel um Schein und Sein beginnt, bei der ich schon bald nicht mehr sicher war, in welcher Welt der Dichter nun lebt.

Fazit

Das sind die drei Manuskripte, die ich las und für die ich mich bei allen drei Autor*innen von Herzen bedanken möchte. Eine derartige Vielfalt zu entdecken, das hat mir große Freude bereitet.

Wofür hättet ihr euch entschieden? Was spricht euch an? Und was eher nicht?


Ein Wort an dieser Stelle noch zur Kritik, die ich für den vorhergehenden Artikel erhielt: ja, ich zitierte nur Negativbeispiele in meinem Artikel (womit ich nicht hoffe, das Selbstbewusstsein der Autor*innen in ungebührlichem Maße verletzt zu haben, aber deshalb wählte ich ja auch nur einzelne, nicht zuordenbare Zitate). Nach wie vor halte ich dieses Vorgehen für geboten, um deutlich zu belegen, warum in dieser ersten Auswahlrunde nichts für mich dabei war. Persönliche Kritik liegt mir fern und auch eine verletzende Sezierung der einzelnen Leseproben möchte ich (im Gegensatz zu anderen) nicht. Im Gegenteil, wie schon erfolgt, stehe ich auch für privates Feedback der Teilnehmer*innen zu Verfügung, solange dies meine Zeitkapazitäten nicht sprengt. Der Respekt vor der Arbeit, die in den Manuskripten steckt, ist groß. Aber manchmal passt das einfach nicht mit einem Manuskript und mir. Wie das auch des Öftern so bei Büchern der Fall ist. Umso schöner, dass ich nun trotzdem noch drei für mich passende Manuskripte entdecken konnte. In Bälde gibt es dann auch meinen favorisierten Text hier zu lesen. Man darf also gespannt sein!

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Roadtrip mit Huhn und Hund

Jasmin Schreiber – Marianengraben

Die Trauer und der Verlust, sie haben ja immer etwas Schweres. In der Behandlung des Themas schwingt zumeist viel Gravitas mit. Bedrückte Mienen, Anteilnahme, gesenkte Stimmen. Der Tod als grausiger Schnitter und Sensenmann, die Beerdigung als Trauerspiel. So war es und so ist es zumeist.

Dass dieses Thema langsam etwas aus der tabuisierten Zone geholt wird, ist vermehrt feststellbar. Bestatter, die Bücher über ihren Broterwerb und ihre Erfahrungen schreiben (zuletzt etwas Eric Wrede in The End, Heyne) oder Forscherinnen, die sich mit dem Tod auseinandersetzen (Sue BlackAlles was bleibt, Dumont) bevölkern neuerdings die Buchlandschaft. Sogar der Tod selbst wird zum Protagonisten und Erzähler, wenn man an eines der erfolgreichsten Jugendbücher der letzten Zeit denkt, nämlich Markus Zusaks Die Bücherdiebin.

Ein Enttabuisierung dieser Themen ist vermehrt zu beobachten – und auch Jasmin Schreiber leistet in ihrem Debütroman Marianengraben einen Beitrag, um den Umgang mit Verlust und Trauer zu normalisieren.

Schreiber arbeitet als ehrenamtliche Sterbebegleiterin und bloggt auch über dieses Thema. Sie beschäftigt sich besonders mit Kindern, die jung sterben, sogenannte Sternenkinder. Daneben veröffentlicht sie literarische Miniaturen auf ihrem Blog La vie vagabonde, wofür sie im Jahr 2018 als Bloggerin des Jahres ausgezeichnet wurde. Viele ihrer Texte berühren und treiben den Lesern Tränen in die Augen, so die Begründung der Jury für die Auszeichnung Schreibers. Eine Aussage, die ich nach der beendeten Lektüre ihres Romans bestätigen kann. Aber der Reihe nach.

Eine Depression, tief wie der Marianengraben

Die Geschichte, die Jasmin Schreiber in ihrem Buch erzählt, ist die von Paula. Eigentlich studiert Paula Biologie und könnte das unbeschwerte Student*innenleben genießen. Doch in Paula herrscht nur Schwere und Trauer. Denn ihr geliebter Bruder Tim ist verstorben. Beim Schwimmen im Urlaub ist er ungekommen – und seitdem ist für Paula nichts mehr wie zuvor. Sie steckt in einer tiefen Depression, so tief wie der Marianengraben, wie sie selbst bemerkt. Denn der Graben ist mit einer Tiefe von über 11.000 Metern ein gutes Symbol ihrer Trauer. Zudem war ihr Bruder ein großer Fan der Meere und ihrer Bewohner – weswegen Paula nun in Erinnerung an ihren Bruder ihren eigenen Marianengraben bewohnt.

Im Lauf des Buchs beginnen wir mit Paula aus diesem Graben aufzusteigen. Allmählich löst sich der Druck, der auf ihr lastet. Dies resultiert aus einer absurd-komischen Begegnung. Denn als Paula nachts auf dem Friedhof einsteigt, um ungestört am Grab ihres Bruders zu trauern, bemerkt sie in unmittelbarer Nachbarschaft einen alten Herren. Dieser müht sich gerade, die Urne einer Frau auszubuddeln. Paula beschließt ihm zu helfen und bildet in der Folge mit Helmut, so der Name des Urnendiebs, ein reichlich ungewöhnliches Tandem. Denn Helmut möchte die Asche von Helga, seiner Exfrau, in den Bergen verstreuen. Paula beschließt, ihm zu helfen, und so begeben sich die beiden auf einen skurrilen Roadtrip. In Helmuts Wohnmobil geht es durch Deutschland gen Berge, und das im Schneckentempo. Zahllose Pinkelpausen, ein Schäferhund namens Judy und ein Huhn namens Lutz inklusive.

Von der Trauer und dem Umgang mit ihr

Wie sich aus meiner kurzen Zusammenfassung der Handlung schon entnehmen lässt, ist es auch die Komik und das Absurde, dem bei Jasmin Schreiber eine große Bedeutung zukommt. Wie im thematisch ähnlich gelagerten Rückwärtswalzer von Vea Kaiser aus dem letzten Jahr geht es auch hier um die letzte Ruhe, die einer Leiche auf rechtlich fragwürdigen Wegen verschafft werden soll. Auch Dirk Pope mit seinem für den Jugendliteraturpreis nominierten Roman Abgefahren über den Leichtransport der eigenen Mutter wäre in dieser Reihe zu nennen, in der auch Marianengraben steht.

Vom Tonfall und vom Setting gehört Schreibers Debüt für mich ebenfalls in die Kategorie Jugendbuch. Der Roadtrip und der Blick in die jugendliche Psyche Paulas sind gelungen. Der Humor wird gut mit der Trauer verbunden, der Verlust mit dem Aufbruch, der Tod mit der Freiheit. So deckt das Buch viele Facetten ab, ohne zu sehr in eine Richtung das Übergewicht zu bekommen und ist auch durchaus für Jugendliche geeignet (eine Nominierung zum Deutschen Jugendliteraturpreis würde ich hier durchaus in Betracht ziehen).

Leichte Unstimmigkeiten

Allerdings: alles ist noch nicht ganz glatt, rund, stimmig. Eine Biologiestudentin, die sich mit allen möglichen maritimen, neuronalen und sonstigen biologischen Eigenschaften von Mensch und Tier auskennt, dann aber nicht weiß, „wer, was oder wo Bozen“ ist (S. 152), das ließ mich stutzen. Solcherlei Inkonsistenzen in der Figurengestaltung bleiben allerdings die Ausnahme.

Auch konnte ich folgendem Bild nicht viel abgewinnen:

Doch in mir gab es nichts zu schöpfen, ich saß im Marianengraben mit einer kleinen Suppenkelle und sollte damit all das Wasser und den Schmerz aus mir herausholen, damit es mir besser ginge, ich sollte alles hochholen und zur Betrachtung ausbreiten und zeigen. Doch das funktionierte nicht. Ich saß elftausend Meter weit unten der der Druck war so hoch, dass von außen sofort wieder alles in mich einströmte, sobald ich ein bisschen abschöpfte.

Schreiber, Jasmin: Marianengraben, S. 15

Schlägt man im Duden unter dem Verb (ab)schöpfen nach, so sagt das Buch Folgendes: schöpfen = (etwas oben Befindliches schöpfend von etwas) herunternehmen.

Da sich Paula in diesem Bild allerdings unter Wasser befindet und der Druck von abertausenden Tonnen Wasser auf ihr lastet, kann sie ja schlecht etwas abschöpfen. Dies würde funktionieren, wenn sie in einem Boot säße oder eine sonstige Oberfläche in der Nähe wäre. Aber unter Wasser schöpft es sich schlecht. So ist das hier ein Bild, das für mich nicht funkioniert.

Dann gibt es aber auch wieder unglaublich eindringliche Szene und Bilder, die im Kopf bleiben. Sicher, alles an Schreibers Buch ist noch nicht rund, Ecken und Kanten, an denen man sich stoßen kann, sind durchaus vorhanden. Sprachlich ist auch noch etwas Luft nach oben. Aber bei einem Debütroman darf das meiner Meinung nach auch so sein.

Fazit

Mit Marianengraben gelingt Jasmin Schreiber ein gut ausbalanciertes Buch, das unverkrampft von Tod und Trauer erzählt. Schreibers Buch rührte mich zu Tränen, ohne rührselig zu sein, und spendet Trost. Im besten Sinne gelingt der Debütantin ein All-Age-Roman, der den Tod und das Trauern in den Mittelpunkt stellt und zeigt einen ungewöhnlichen Verarbeitungsprozess. Jasmin Schreiber ist mit diesem Buch ein großer Erfolg zu wünschen.

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Katya Apekina – Je tiefer das Wasser

… desto hässlicher der Fisch

So lautet der Originaltitel von Katya Apekinas Buch in ganzer Länge. Ursprünglich in Amerika in einem Kleinverlag erschienen, hat sich das Buch laut dem Suhrkamp-Verlag zu einem Überraschungserfolg in den USA entwickelt. Nun liegt das Buch in der deutschen Übersetzung durch Brigitte Jakobeit vor. Es erzählt auf formal interessante Art und Weise von einer Familie in Trümmern.


Heute kann ich leicht sagen, dass ich wünschte, ich wäre netter zu meiner Schwester gewesen, aber damals war mir das nicht möglich. Unser Vater hatte mir gerade das Herz gebrochen, unsere Mutter hatte sich gerade umgebracht, und ich hatte mich gerade verbrennen wollen. Ich konnte mir nicht leisten, großzügig zu sein.

Apekina, Katya: Je tiefer die Wasser, S. 343

Katya Apekinas Buch gleicht einer Puzzleschachtel. Sie kippt dem Lesenden eine ganze Menge dieser Puzzlestückchen in Form von multiperspektivisch erzählten Kapiteln entgegen. An uns Leser*innen ist es dann, aus dieser Unzahl an Stimmen und Kapiteln die Haupthandlung zusammenzubasteln. Allzu schwer macht es die Autorin den Leser*innen dabei allerdings nicht.

Denn die Hauptarbeit in Apekinas Erzählung übernehmen Mae und Edith, zwei Schwestern. Am Anfang des Buchs lernen wir sie in New York kennen. Dort haben sie bei Dennis Unterschlupf gefunden, der als Schriftsteller in der Stadt lebt. Er hat die beiden Mädchen zu sich genommen, nachdem die Mutter der beiden einen Suizidversuch unternommen hat.

Sowohl der Suizidversuch ihrer Mutter als auch das plötzliche Auftauchen Dennis‘, der sich als Vater der beiden vorstellt, wirft die beiden Mädchen aus der Bahn. Abwechselnd berichten sie aus ihren Perspektive von ihrem neuen Leben und den zaghaften Annäherungen an ihren Vater, von dem sie bislang nichts ahnten.

Eine Erzählung wie ein Puzzle

Diese Grundkonstellation reichert Apekina mit zahlreichen anderen Stimmen an. So ergänzen Briefe von Dennis an Edith und Maes Mutter die Handlung, Freundinnen der Mädchen und von Dennis erzählen. Die Autorin springt auch von der erzählten Gegenwart im Jahr 1997 zurück in die Jahre 1961 und 1968 sowie nach vorne ins Jahr 2012.

Diese Vielzahl an Facetten der Geschichte glieder die russischstämmige Autorin darüber hinaus in vier Teile, die wiederum noch von zahlreichen Kapiteln unterteilt werden. Viele der erzählten Episoden sind dabei allerdings nicht einmal eineinhalb Seiten lang. Großes Chaos und erzählerische Konfusion? Nicht doch.

Gleicht Je tiefer das Wasser auch einem Puzzle, so ist es ingesamt gesehen doch eher ein 500- denn 2000-Teile Puzzle. Denn die Erzählung ergibt sich trotz der Fülle an Stimmen doch recht klar schon von den ersten Seiten an. Da Edith und Mae als Haupterzählerinnen fungieren, hat man einen klaren roten Faden, an dem man sich orientieren kann.

So richtig warm geworden bin ich mit dem Roman trotz dieser spannenden Erzählkonstruktion nicht wirklich. Zwar unterscheidet sich die Erzählstimme von Mae und ihrer älteren Schwester Edith etwas. Generell klangen mir aber die meisten Protagonist*innen viel zu ähnlich. Auch gelingt es Apekina nicht, ihnen Tiefenschärfe zu verleihen. Um die Familie herum werden alle Erzähler*innen zunehmend blass und hinterließen bei mir keinen großen Eindruck. Auch ist der Roman sprachlich nicht besonders herausragend, sodass das Buch in meinen Augen nicht über den Durchschnitt hinauskommt.

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