Adam Andrusier – Tausche zwei Hitler gegen eine Marilyn

In Zeiten der Selfies mit den Stars auf dem roten Teppich sind sie etwas ins Hintertreffen geraten – die guten alten Autogramme. Adam Andrusier ruft in seinem Roman Tausche zwei Hitler gegen eine Marilyn diese Erinnerung wach und erzählt von seinem Leben als Autogrammsammler in Form eines autobiographisch grundierten Entwicklungsroman.


Immer wieder unterbrechen die Namen von Stars nebst Autogramm und zugeschriebenem Zitat den Roman von Adam Andrusier. Sie dienen im Debüt des 1981 geborenen Engländers als Kapiteleinteilung. Eine sinnige Entscheidung, dreht sich das Leben des Erzählers doch schon seit Kindertagen um Autogramme.

Von Ronnie Barker bis zu Ray Charles

Alles beginnt dabei mit einer Unterschrift von Ronnie Barker, der in der Nachbarschaft von Adams Familie in Pinner wohnt. Dort im Nordwesten Londons lebt der Komödiant, der Adam im persönlichen Kontakt zunächst noch die Unterschrift verwehrt, dann aber aufgrund eines Briefs, den Adam an die Berühmtheit aus der Nachbarschaft schreibt, das ersehnte Autogramm im Nachgang doch noch erhält. Dieses Autogramm ist der Grundstein, auf dem Adams Sammeln aufbaut. Fortan schreibt er an bekannte und berühmte Menschen mit der Bitte nach Autogrammen, die ihm meistens auch gewährt werden.

Adam Andrusier - Tausche zwei Hitler gegen eine Marilyn

Täglich treffen Schreiben mit Unterschriften von Persönlichkeiten ein. Bekanntere Stars, kleinere Namen, in seinem Sammelrausch macht Adam da keinen Unterschied und baut sein Geschäft mit den Korrespondenzen immer weiter aus. Während seine ältere Schwester in der Literatur versinkt und sich den großen englischen Klassikern hingibt, ist Adam immer mehr auf dem Sprung zum gewerbsmäßigen Autogrammsammler und lauert auch Stars auch nach Konzerten oder Autogrammstunden auf, um die heißgeliebten Unterschriften für seine Sammlung zu ergattern.

Mit seiner Sammelleidenschaft ist er im Übrigen auch nicht alleine, sein Vater, der Adam zum Sammeln ermuntert, pflegt die Erinnerung an sein jüdisches Erbe, indem er Bilder von zerstörten Synagogen in ganz Europa sammelt. Zudem retuschiert er die Gesichter seiner Familie regelmäßig in andere Abbildungen hinein und findet so einen Ausgleich zu seinem Dasein als Versicherungsmakler.

Aus dem Leben eines Autogrammjägers

Erst der Besuch einer Fachmesse und der Kontakt mit anderen Sammlern bringt Adam dann die ernüchternde Erkenntnis, dass viele seiner Autogramm wertlose „Sekretariatsautogramme“ sind. Bei ihnen handelt es sich um Autogramme, die viele signierunwillige Stars einfach von ihrem Personal oder ihren Familien anfertigen ließen, um sich Arbeit zu ersparen. Mit diesem Wissen im Hinterkopf verdoppelt Adam seine Anstrengung noch einmal und wird mit seiner Sammelleidenschaft sukzessive zu einem respektierten Mitglied in der englischen Sammlergemeinde.

Diese Entwicklung zeichnet Adam Andrusiers von der Kindheit und den Sammelanfängen bis hin zu seinem Dasein als Autographenhändler chronologisch nach. Daneben erzählt er von seinem Studium, seiner pianistischen Vervollkommnung und den innerfamiliären Konflikten, die den Alltag der Familie Andrusier häufig dominieren. Denn die starke Bindung seines Vaters zu seiner ebenso anspruchsvollen wie schwierigen Mutter und die unbändige Liebe zum israelischen Volkstanz sowie dem Komödiantentum auf offener Bühne bringen viel Spannung in die Beziehung der Eltern, die Andrusiers in diesem autobiographischen Roman recht ungeschönt nachzeichnet.

Vom Reiz des Sammelns

Das alles ist schön erzählt, folgt einer sinnigen Struktur – und doch fehlt mir für eine restlose Begeisterung doch der letzte Funke. Jüdische Identität, das komplexe und sich wandelnde Vater-Sohn-Verhältnis, das Geschäft mit der Unterschrift von Stars und die findigen Wege Adams, an diese zu gelangen. All die Themen sind für sich genommen interessant – aber irgendwie plätschert die Erzählung doch ohne rechten Höhepunkt vor sich hin.

Ähnlich wie zuletzt etwa Shaun Bythell in seinem Berufsbild Tagebuch eines Buchhändlers muss man schon ein gesteigertes Interesse an den im Buch verhandelten Autogrammepisoden mitbringen, um sich tief in den heute schon etwas anachronistischen Trends des Sammelns, Tauschens und Beurteilens der Star-Unterschriften zu versenken. Zwar gibt es immer wieder nette Anekdoten, etwa über eine falsche Unterschrift von Marilyn Monroe oder den Versuch Adams, dem blinden Ray Charles ein Autogramm abzuluchsen, über die ganze Länge des Buchs tragen solche Einzelepisoden allerdings nicht wirklich.

Fazit

Tausche zwei Hitler gegen eine Marilyn ist ein Feelgood-Roman über eine kuriose jüdische Familie, den Reiz des Sammelns und die Anstrengung, die ein Autogramm manchmal auch bedeuten kann. Dennoch fehlt dem Buch in meinen Augen etwas ein Spannungsbogen oder eine besondere literarische Gestaltung, um über das Adjektiv „nettes“ Buch hinauszukommen. So legt Adam Andrusier ein anekdotenreiches Erinnerungsbuch vor, das sich prima verschenken lässt, gut unterhält und Fans von Shaun Bythell oder auch Joachim Meyerhoff glücklich machen dürfte.


  • Adam Andrusier – Tausche zwei Hitler gegen eine Marilyn
  • Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
  • ISBN 978-3-293-00593-8 (Unionsverlag)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €
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Christina Walker – Kleine Schule des Fliegens

Ein rekonvaleszenter Mann, der eine Wohnung hütet. Im Geäst der Platane vor dem Haus: jede Menge Krähe, die sich als resilienter erweisen, als angenommen. Und über allem die große Frage, was das über unsere Gesellschaft aussagt. Christina Walker mit ihrem zweiten Roman Kleine Schule des Fliegens.


Schon in ihrem ersten Roman Auto erwies sich die in Bregenz geborene und in Augsburg lebende Autorin als Spezialistin für den kleinen Raum. Damals setzte sie einen Vertreter namens Busch ins Auto, das allerdings nirgendwo hinfuhr, sondern stattdessen im Hof parkte und zum Lebensmittelpunkt des Mannes wurde, der beschlossen hatte, aus dem Hamsterrad des täglichen Dauerlaufs aus- und ins parkende Auto einzusteigen.

Und auch in Walkers zweitem Roman taucht jetzt wieder ein Mann auf, der in einem Auto zu wohnen scheint und als Hobbyornithologe die Krähen im Geäst einer Platane beobachtet. Er ist allerdings diesmal nur eine Nebenfigur in einer Geschichte, die um einen anderen Mann kreist, der sich ebenfalls auf kleinen Raum beschränken muss. Alexander Höch ist der Name des Mannes, der sich in Isolation befindet und der die vier Wände eigentlich nicht verlassen soll.

Das bodentiefe Fenster zum Hof

Christina Walker - Kleine Schule des Fliegens (Cover)

Nach einer anstrengenden Krebsbehandlung und einer im eigentlichen Haus anstehenden Renovierung hat er die Wohnung seines Bruders als Quartier bezogen. Seine Frau Eva beaufsichtigt die Handwerker daheim, die Tochter Lilly ist in Frankreich auf Reisen und so kann sich Höch dort abgeschieden von seiner Familie auf die Gesundung nach der Chemotherapie besinnen.

Den Schutzraum der Wohnung sollte er in seinem rekonvaleszenten Zustand am besten nicht verlassen – und wenn dann am besten mit Maske und minimalem Fremdkontakt. Unterstützung erhält er im Alltag von einer Bekannten seines Bruders namens Melitta Miller, die nach ihm sieht, Besorgungen für den Alltag abnimmt und ihm auch einmal ein Essen in die Mikrowelle stellt.

So notwendige die Isolation für den Gesundungsprozess auch ist – besonders inspirierend ist sie doch nicht. Und so vertreibt sich Höch die Tage neben dem Notat flüchtiger Einfälle und Wortspielereien vor allem mit dem Beobachten des Wohnungsumfeldes. Durch das bodentiefe Fenster seiner temporären Wohnstatt beobachtet er den Hof und die Straße. Es ist neben dem angrenzenden Altenheim besonders die Platane, die vor dem Haus wächst, die ihm viel Unterhaltung bietet. Denn darin brüten Krähen. Ist es zunächst nur ein einzelnes Paar, so werden es schnell immer mehr Saatkrähen, die sich dort im Geäst niederlassen.

Kräh-Silienz

Während Altenheimbewohner*innen die Vögel anfüttern, erwächst auf der anderen Seite auch der Widerstand gegen die Rabenvögel. Lärm, Dreck und die Aussicht auf eine lange Koexistenz befeuern den Widerstand gegen die Tiere, der vor allem von Melitta Miller angeführt wird. So findet Höch eines Morgens einen Revolver auf dem Tisch der von ihm gehüteten Wohnung vor. Nur eine der zahlreichen Maßnahmen, mit denen die Anwohner*innen versuchen, die Krähen zu vergrämen.

Doch dass Ultraschall, Blinker und Ballons keine große Wirkung in Sachen Vergrämung zeigen, das liegt neben der Resilienz der Krähen auch an Höch, der die Maßnahmen immer wieder sabotiert und die Ergebnisse seiner Sabotagen in der unbenutzten Hälfte des Bettes sammelt.

Es sind aber nicht nur Dinge und Fundstücke, die Höch sammelt. Auch Erinnerungen sind mit den Funden verknüpft. So bringt etwa die Pfeilspitze, die für das Ende des Krähenschreckballons im Baum sorgte, Erinnerungen an die eigene Kindheit und das damit verbundene Indianer-Spielen zurück. Flashbacks an die Zeit im Krankenhaus, die Krankenschwester und seinen Mitbewohner, all das durchdringt immer wieder Höchs Gedanken und auch seinen Alltag.

Ein Text mit mehreren Ebenen

Christina Walker hat einen Roman geschrieben, der auf den ersten Blick recht einfach wirkt. Ein Mann hütet nach überstandenen Krebserkrankung ein fremdes Zuhause und ergreift Partei für die Krähen, die von anderen vertrieben werden wollen. Doch wie schon in Walkers Debüt zeigt sich auch, dass hinter der der vordergründigen Erzählebene eine zweite Erzählebene wartet, die eine hermeneutische Ausdeutung erlaubt, die Walker den Lesenden deutlich nahelegt.

Man kann Sätze wie diesen gar nicht ohne Bezug auf die Gegenwart lesen, etwa wenn debattierende Passanten auf der Straße angesichts der Krähenkolonie bemerken:

„Das ist eine der schönsten Straßen der Stadt“, sagte die Frau mit den kurzen blonden Haaren, „eine Krähenkolonie hat hier einfach keinen Platz“

Christina Walker – Kleine Schule des Fliegens, S. 30

Melitta Miller kippt in der Wahrnehmung von der umsorgenden Alltagsstütze zur schäumenden Wutbürgerin, wenn sie auf Höch eindringt:

(…) Und denken sie dran. Wir tun das für die gesamte Straße. Für unser aller Ruhe und Sauberkeit. Die Krähenabwehr ist ein sozialer Akt.“

„Die Vögel erscheinen mir auch sozial“ äußerte ich unbedacht.

Melitta Miller zog hörbar Luft ein. „Das ist Sabotage, zischte sie leise. Sie wisse sehr wohl, dass jemand die Krähen füttere. Natürlich funktioniere so keine Vergrämung, wenn zugleich angefüttert werde. Das spreche sich darüber hinaus noch herum, sogar bei standortfernen Vögeln. „Bald haben wir sie alle hier“, sagte Melitta Miller leise und eindringlich. Die ganze Population aus dieser Gegend, eine große, schwarze Kolonie. Wollen Sie das? Wir wollten es doch vermeiden, scharf zu schießen.“

Christina Walker – Kleine Schule des Fliegens, S. 89

Nein, die große schwarze Kolonie, sie soll bleiben, wo sie bislang war. Dass dieses Verhalten Erinnerungen der nebenan wohnenden Altenheimbewohner*innen an ähnliche Ausgrenzungen erinnert, das macht Christina Walker recht deutlich, indem eine Seniorin im Gespräch mit Höch Erinnerungen an ihr eigenes Ankommen damals in der Stadt und die Abschiebung in ärmliche Baracken außerhalb der etablierten Wohnordnung wachruft.

Fazit

Kleine Schule des Fliegens ist ein Text, der Verdrängungsmechanismen, Angst und Vorbehalte schildert, die sich nahezu deckungsgleich von der Tierwelt auf unsere heutigen Diskurse rund um den Umgang mit Zuwanderung, Geflüchteten etc. übertragen lassen. Die Angst vor Überfremdung, Abwehrreflexe, einfache Parolen und das Schwinden des Mitgefühls für das Schicksal anderer. All das sind Themen, die diesem Text tief eingeschrieben sind und die die zweite Ebene des Romans ausmachen.

Christina Walker gelingt hier ein doppeldeutiger Text, der einen Gesundungsprozess beschreibt und der einen Menschen zeigt, dessen Empathie und Gefühle noch nicht verschwunden sind. Tod, Verlust, aber auch Hoffnung und das Gefühl, nicht alleine zu sein – all das steckt in Kleine Schule des Fliegens!


  • Christina Walker – Kleine Schule des Fliegens
  • ISBN 978-3-99200-342-6 (Braumüller)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Ulrike Draesner – Die Verwandelten

Eine Familie, ebenso kompliziert und verwinkelt wie das 20. Jahrhundert. Ulrike Draesner in ihrem neuen Großroman Die Verwandelten über deutsch-polnische Familienbande, den Lebensborn und die Nachwirkungen der Kriegsgräuel des Zweiten Weltkriegs.


Alles beginnt eigentlich recht überschaubar in diesem an Themen wie auch Seiten satten Roman, der uns mitnimmt in ein abgelegenes Institut in Hamburg, in das Kinga Schücking per ICE anreist. Die alleinerziehende Rechtsanwältin will dort einen Vortrag über den Lebensborn, das „Zuchtprogramm“ der Nationalsozialisten, halten. Ungewollte oder uneheliche Kinder wurden in diesem Programm aufgezogen und an „arische“ Familien vermittelt. Auch Kinga selbst ist die Nachfahrin eines Lebensborn-Kindes. Ein Erbe, das sie bis heute nicht losgelassen hat, und das sowohl ihr berufliches als auch privates Leben bestimmt.

Besonders groß ist die Überrarschung, als Kinga dort in Hamburg beim Smalltalk nach dem Vortrag auf Doro stößt, die sich als polnische Verwandte von Kinga entpuppt. Die genauen Verflechtungen zwischen der ebenfalls auf einen polnischen Namen hörenden Kinga und Dorota entwirrt (beziehungsweise manchmal auch verwirrt) UIrike Draesner nun auf den folgenden gut 550 Seiten.

Eine Familie zwischen Deutschland und Polen

Dabei geht die Professorin für Literarisches Schreiben weit in der Vergangenheit zurück und lässt immer wieder unterschiedliche Frauen der Familie Schücking beziehungsweise der Familie Valerius zu Wort kommen. Durch diese in unterschiedlichen Tonlagen gehaltenen Erinnerungen entsteht ein dichtes und nicht immer einfach zu überblickendes Bild der Kriegswirren und deren Nachwirkungen, die sich in ganz unterschiedlicher Form manifestierten.

Ulrike Draesner - Die Verwandelten (Cover)

So ist Kingas verstorbene Mutter Alissa ein Lebensbornkind, das aber auch auf den Namen Gerhild hörte und vom regimetreuen und ideologisch sehr wendigen Ehepaar Gerda und Gerd adoptiert wurde. Diese waren zwar mit dem familieneigenen Konservenunternehmen zu Reichtum gelangten, die Elternschaft blieb ihnen allerdings verwehrt, obschon sich Gerda als fleißige Propagandistin des arischen Familienideals erwies.

So war es ein Lebensbornkind, auf das die beiden zurückgriffen – Alissa Gerhild, die eigentlich aus Wrocław stammte, besser bekannt noch unter dem Namen Breslau. Sie war das Ergebnis einer unehelichen Liaison des glühenden Shakespearefans und Theaterdirektors Marolf Valerius mit dessen Dienstmädchen – ein Fakt, den sich Kinga und wir mit ihr erst langsam erschließt.

Über den Familienstamm der Valerius‘ findet die polnische Seite der Familie ins Buch, auf deren Seite ebenfalls Umbenennungen und Identitätswechsel stattfanden, um die Kriegsgräuel und die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs zu überstehen.

Geschichte aus Frauenperspektive

Allmählich verfestigt sich das Bild einer deutsch-polnischen Familie, in der es stets die Frauen waren, die auf ganz unterschiedliche Art und Weise ihre Generationen über die Runden brachten, sich anpassten und sich selbst mit großer Härte behandelten, um die Zeiten zu überleben. Gewalt, Lieblosigkeit und Lügen waren dabei in allen Jahrzehnten die Mittel, derer sich die Frauen bedienen mussten, wie Ulrike Draesner in ihrem Roman zeigt. Dabei ist es kein chronologischer Erzählbogen, der Die Verwandelten ausmacht. Vielmehr sind es viele kleine Fragmente und Erinnerungssplitter, die sich allmählich zu einem großen Familienbild der Bagasche zwischen Oder und Isar verfestigen.

Bei der Lektüre dieses ambitionierten Werks hilft ein Blick auf das hintere Vorsatzblatt des Buchs ungemein. Denn hier ist die komplizierte Familiengeschichte der Valerius‘ und Schückings visualisiert, ebenso wie sich ein Dramatis Personae und ein Verzeichnis polnischer Begriffe im abschließenden Teils des Buchs findet. Es sind Hilfestellungen, die die Lektüre von Die Verwandelten erleichtern und die komplizierte Reise durch die Zeit und das familiäre Geflecht hindurch etwas durchschaubarer machen.

Manchmal ist es zu viel des Guten, etwa wenn Draesner neben den über hundert Jahre umspannenden Familien- beziehungsweise Frauenverästelungen im zwanzigsten Jahrhundert dann auch noch ein unbemanntes, drohnenähnliches Bohrobjekt in den Wurmloch genannten Zwischenteilen losschickt, das sich einmal durch die deutsche und polnische (Erd-)Geschichte und Tektonik wühlt. Es sind Kapitel, in denen einmal mehr Draesner Begeisterung für die Erdgeschichte über das Anthropozän hinaus aufscheint, die aber in meinen Augen verzichtbar gewesen wären, auch wenn sie die voluminösen drei Hauptteile unterbrechen und gliedern.

Sprache in ihrer ganzen Ausprägung

Ulrike Draesner ist ja eine Meisterin der Sprache. Stets sucht sie nach einer eigenen Form für ihre Erzählungen und ringt ihren Untersuchungsgegenständen unzählige Sprachbilder und Spracheinfälle ab. So umspielte sie in der Biographie des Dada-Mitbegründers Kurt Schwitters ebenjene Dada-Poesie oder fand in Kanalschwimmer zu einem englisch-deutschen Sprach- und Bewusstseinsstrom passend zur Überquerung des Ärmelkanals. Auch in Die Verwandelten ist unverkennbar die Sprachkünstlerin Draesner am Werk, die ihre Frauen mit unterschiedlichen Draesner-Sound in Sachen Sprachmelodien und Mustern ausstattet. Zudem ist allen Kapiteln eine Form konkreter Poesie voranstellt, die mal erkennbarer, mal kaum chiffrierbar erscheint.

Großartig geraten ihr etwa die Passagen der in einem Pflegeheim liegende Gerda, Kingas Großmutter, die sich in ihren Erinnerungen verliert und dabei immer wieder zwischen Pflegebedürftigkeit im Altenheim und eigener Wendigkeit zur Zeit des „Dritten Reichs“ hin und herwandert. Auch die Beschreibungen der Vertreibung im Osten, die Gewalt vor allem gegen Frauen, das Leid und die Not – all das schildert Draesner plastisch und eindringlich erfahrbar.

Und doch war es mir angesichts des anspruchsvollen Gesamtumfangs von fast 600 Seiten neben allen geschichtlichen Rückblicken und Sprüngen auf sprachlicher Ebene dann die Frequenz ihrer sprachschöpferischen Kraft etwas zu viel des Guten. So hätte ich auf das ein oder andere originelle Kompositum oder Sprachbild der Lyrikerin verzichten können, sorgten diese in ihrer Fülle doch eher für ein Gefühl der sprachlichen Übersättigung und waren für mich eher Ausdruck eines gewissen Manierismus denn eine wirklich zielführende Flankierung des Inhalts.

Mittelteil einer Trilogie

Die Verwandelten ist das Mittelstück von Ulrike Draesners geplanter Trilogie über familiäre Verflechtungen zwischen Polen und Deutschland, die sie mit Sieben Sprünge vom Rand der Welt begann. Ohne dieses erste, vor neun Jahren erschienene Werk gelesen zu haben, sind es doch die Themen der Vertreibung, des deutsch-polnischen Erbes und der familiären Verflechtungen über die Generationen hinweg, die sich als Themenfelder dieser Trilogie herauszukristallisieren scheinen.

Persönlich bin angesichts dieses fordernden Familienromans nun erst einmal überwältigt und werde mir bei Gelegenheit zu einem späteren Zeitpunkt einmal den Auftakt der Trilogie vornehmen. Unabhängig davon zolle der Autorin Respekt für ihre schier unerschöpfliche Sprachkraft und Genauigkeit, mit der sich Draesner in ihre fiktive Großfamilie hineinspürt und die deutsch-polnischen Geschichte ebenso genau untersucht, wie es die Drohne in ihrem Roman mit den Gesteinsschichten dort im Untergrund tut.

Die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse erscheint mir folgerichtig, obschon es Die Verwandelten einem nicht wirklich leicht macht und schnell für ein Gefühl der Überforderung sorgen kann. Aber dafür ist Literatur ja auch da und Ulrike Draesner beherrscht diese Kunst wahrhaftig.


  • Ulrike Draesner – Die Verwandelten
  • ISBN 978-3-328-60172-2 (Penguin)
  • 608 Seiten. Preis: 26,00 €
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Canceln – Ein notwendiger Streit

Ein Geist geht um in Deutschland, der Geist der Cancel Culture. Diese Sätze stellte nicht nur Adrian Daub seinem jüngst im Suhrkamp-Verlag erschienenen Buch Cancel Culture Transfer voran, nein auch im neuen im Hanser-Verlag erschienen Essayband Canceln (zu dem auch Daub einen Aufsatz beisteuerte) tauchen die Worte wieder auf. Diesmal greift sie der österreichische Philosophieprofessors Konrad Paul Liessmann in seinem Beitrag auf.

Und tatsächlich scheint ja wirklich ein Gespenst umzugehen. So wirklich gesehen hat es noch keiner, aber die Zeitungen sind Woche für Woche voll damit. Erst jüngst machte die Wochenzeitung Die Zeit mit der Frage auf, wie frei die Kunst überhaupt noch sei. Immer wieder entzündet sich diese Debatte über (angebliche) Verbote, die Lager stehen sich recht konträr gegenüber. Um der Frage nach einer etwaigen Cancel Culutre auf die Spur zu kommen, haben die Herausgeber*innen Annika Domainko, Tobias Heyl, Florian Kessler, Jo Lendle und Georg M. Oswald ganz verschiedene Menschen des Literaturbetriebs nach ihrer Meinung gefragt. Ebenso unterschiedlich wie die Verfasser sind auch die Aufsätze, die diese zu der Sammlung beigesteuert haben und die versuchen, den amorphen Debattenbegriff etwas schärfer zu konturieren.

Ergebnis ist ein polyphones, im besten Sinne widersprüchliches Buch, das sich dem Debattenthema Cancel Culture auf verschiedenen Wegen und das das Phänomen anhand aktueller Streitthemen untersucht.


So ist schon die Eingangsfrage für viele der Beitragenden extrem strittig, eben ähnlich, wie es sich auch sonst ins Debatten zeigt. Gibt es überhaupt eine Cancel Culture? Auf alle Fälle, wenn man den Ausführungen Konrad Paul Liessmanns folgt oder den Eingangsessay von Ijoma Mangold liest, der konstatiert:

Halten wir fest: Cancel Culture meint nicht staatliche Zensur. Es geht nicht um Zensur von oben, sondern um Zensur von unten. Nicht um hierarchische, sondern um dezentrale Macht. Nicht der Obrigkeitsstaat ist das Problem, sondern das, was man früher mal das gesunde Volksempfinden genannt hat, also eine von einer starken moralischen Stimmung aufgeheizte Menge. Was in Rede steht, ist mithin ein kulturelles Klima, das ohne staatliche Durchgriffsrechte dafür zu sorgen vermag, dass Meinungen, die vom im jeweiligen sozialen Aktionsradius kulturell dominanten Milieu als unerträglich empfunden werden, keine Bühne mehr bekommen. Der Druck kommt von der Straße, und es sind dann Universitätsleitungen, Chefredaktionen, Festivalveranstalter oder Verlagshäuser, die sich ihm beugen.

Ijoma Mangold – An ihren Worten sollt ihr sie erkennen . In: Canceln, S. 11

Gibt es Cancel Culture oder nicht?

Au contraire der Kulturredakteur Johannes Schneider von Zeit online, der in seinem hemdsärmeligen und stark subjektiven Beitrag vom Ausgangspunkt eines Besuchs in Astrid Lindgrens Kindheitsstätte im schwedischen Vimmerby aus in Von Pippi bis Puffmutter: Ich, komplett gecancelt konstatiert:

Das aber ist die Realität: Kulturerzeugnisse aller Epochen sind zugänglicher denn je, man kann den ganzen Tag stummgeschaltete Winnetou-Filme laufen lassen und dazu „Layla“ hören, und kein Twitter-Mob wird des Weges kommen und „Du, du, du“ sagen. Oder man macht eine Pilgerfahrt zum Geburtshaus jener Schriftstellerin, deren schönste Bücher andere grad aus dem Regal räumen. Nichts ist gecancelt, alles ist möglich. Und ich bin der lebende Beweis.

Johannes Schneider – Von Pippi bis Puffmutter: Ich, komplett gecancelt. In: Canceln, S. 221

Überhaupt – oft sind es die Kinderbücher, von denen aus die Autor*innen auf die großen Debatten überleiten. Asal Dardan nimmt sich etwa Michael Endes Jim Knopf vor und blickt vom heutigen Standpunkt aus in Deutsche Kindheiten: Über Michael Ende und sein erstes Kinderbuch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer auf Probleme, die Lektüre heute aufwirft. Sie fragt sich im Resümee „also nicht, ob man Jim Knopf heute noch lesen darf, sondern weshalb man es überhaupt wollen würde, wenn man sich eine pluralistische Gesellschaft wünscht, in der unsere Kinder als Subjekte ernst genommen und ins Leben mit anderen als Gleiche geschickt werden sollen“ (S. 52)

Cancel Culture – von Joanne K. Rowling bis Othello

Canceln - Ein notwendiger Streit (Cover)

Adrian Daub widmet sich Harry Potter beziehungsweise dessen Schöpferin Joanne K. Rowling, die sich unter anderem Vorwürfen der Trans-Feindlichkeit ausgesetzt sieht und gerne als Kronzeugin für den Beleg einer Cancel Culture herangezogen wird. Diese Entwicklung und die Entstehung der Vorwürfe arbeitet Adrian Daub ebenso nuanciert heraus wie die Autorin Mithu Sanyal, die ihrer kindlichen Begeisterung für Enid Blyton trotz aller Stereotype und problematischen Ansichten der Autorin nachspürt. Und Literaturkritiker Lothar Müller schließlich widmet sich dem Feld des Kolonialismus und dessen Repräsentation im Kinderbuch, in dem er ein altes Buch aus seiner Kindheit noch einmal mit dem heutigen Blick liest, nämlich das 1963 erschienene Weißer Mann auf heißen Pfaden. Entdecker, Eroberer und Abenteurer im schwarzen Erdteil von Hermann Homann.

Geht es den Autor*innen dabei keinesfalls darum, die jeweiligen Autor*innen und Werke zu verbieten, so legen sie allesamt mal offensichtlichere, mal subkutanere Probleme der Lektüren und Autor*innen offen und leisten damit das Gegenteil, was Cancel Culture-Anhänger meist befürchten, nämlich Verbote und Zensur. Erfrischend, wenn Lothar Müller einfach konstatiert, dass er froh ist, dass es der Markt geregelt habe, dass man das antiquierte Buch seiner Kindheit heute nur noch umständlich erhalten könne, da die Gesellschaft heute aufgeklärter sei und der Markt für eine Verdrängung dererlei Lektüre gesorgt habe. Eine geerdete Ansicht, die eben nicht den Fehler der Nostalgie macht, wie er in Debatten um die Cancel Culture schnell Einzug findet.

Cancel Culture, ein Ausdruck falscher Nostalgie?

Denn viele der Aufsätze in Bezug auf Kinderbücher arbeiten in unterschiedlichen Ausprägung eine Erkenntnis heraus, die Adrian Daub in seinem Beitrag Your fave is problematic: Der Fall J. K. Rowling wie folgt formuliert, wenn Stimmen Probleme an Kinderbüchern mit dem Argument herunterspielen, es handele sich dabei ja „nur“ um Kinderliteratur:

Dieser Imperativ sagt etwas aus über das Problem der Nostalgie, das der Klage über die Cancel Culture immer auch innewohnt: eine hermeneutische Nostalgie, die sich eine Zeit zurückwünscht – eine höchstwahrscheinlich fiktive – in der bestimmte Aspekte von Werken, Personen, Diskursen nicht als rassistisch, sexistisch usw. ins Auge sprangen, eine Ära, in der es noch unproblematische „Faves“ geben konnte. Diese Nostalgie äußert sich aber konkret in einer unmöglichen Forderung: dass andere nicht sehen, was sie nicht nicht sehen können.

Adrian Daub – Your fave is problematic: Der Fall J. K. Rowling. In: Canceln, S. 125

Die Nostalgie und Verklärung der eigenen Lektüre, das Verschließen der Augen vor problematischen Weltbildern und der Wunsch nach einer subjektiven heilen Kindheitswelt, in Canceln tritt dieser Aspekt der Debatte in den Gedanken ganz unterschiedlicher Autor*innen deutlich hervor.

Um diese Schwerpunktsetzung der Kindheitslektüre herum gruppieren sich weitere Aufsätze, die Debatten der letzten Zeit aufgreifen und noch einmal rekonstruieren (wie dies etwa Anna-Lena Scholz in ihrem Beitrag mit dem Streit um Dieter Nuhr und dessen Beitrag zum Jubiläum der DFG macht, der schon wenige Jahre nach dem Ereignis gar nicht mehr wirklich nachvollzogen werden kann).

Daniela Strigl widmet sich der Übersetzer*innen-Debatte, die nach dem Protest in den Niederlanden gegen die Übertragung des Inaugurationsgedichts von Amanda Gorman durch eine Nicht-Schwarze Übersetzerin entstand. Jürgen Kaube beschäftigt sich mit der Inszenierungsfrage von Shakespeares Othello in unseren Tagen oder Hanna Engelmeier zeigt eine alternative Möglichkeit auf, wie man mit Texten umgehen kann, die mit unserer heutigen Weltsicht kollidieren, etwa Heinrich von Kleists Die Verlobung in St. Domingo, das sie mit einem Text der Schweizer Autorin Dorothee Elmiger kontrastiert und so neue Erkenntnisse gewinnt.

Cancel Culture, oftmals ein Sturm im Wasserglas?

Interessant ist die Akribie, die die Autor*innen in ihren Aufsätzen verwenden, um Fälle wie den schon genannten Fall von Dieter Nuhr und der DFG stets mit zahlreichen Quellen und Verweisen zu rekonstruieren. Viele der Debatten wurden ja höchst hitzig geführt – das aber nur über einen kleinen Zeitraum hinweg und sind heute schon von anderen Debatten längst überlagert worden, so auch etwa die Querelen um Monika Maron, die von ihrem Verlag S. Fischer nach der Publikation in einem rechten Verlagshaus keinen neuen Vertrag mehr erhielt, und bei der auch schnell von Canceln die Rede war.

22 Tage lang dauerte der Spuk, wie die Literaturkritikerin Marie Schmidt in ihrem Aufsatz zeigt. 22 Tage, dann hatte Maron einen neuen Vertrag vom Publikumsverlag Hoffmann und Campe erhalten. Ein Sturm im Wasserglas, bei dem aber auch wieder ähnliche Mechaniken zu beobachten waren, wie sie in anderen Essays herausgearbeitet werden. Spannend auch, wie sich etwa auch die Rückgriffe auf Argumente und Kronzeugen in den unterschiedlichen Lagern ähneln.

So zitieren sowohl Ijoma Mangold als auch Konrad Paul Liessmann den erst abgesagten und dann doch stattfindenden Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht an der Humboldt Universität in Berlin oder die Kontroverse um die österreichische Kabarettistin Lisa Eckart als Kronzeugen als Beleg für eine Cancel Culture.

Johannes Schneider hingegen verweist deutlich entspannter ebenso wie Mithu Sanyal auf Astrid Lindgren, deren Südseekönig vor einiger Zeit für Aufregung sorgte. Lothar Müller benennt Kleist als Beispiel für einen aufgeklärten Umgang mit „moralisch veralteten“ Ansichten, ebenso wie sich Hanna Engelmeier für ihre Thesen auf den 1777 geborenen Kleist bezieht.

Immer wieder kommt es zu spannenden Interferenzen zwischen diesen vielstimmigen Beiträgen, die neben ihren Hauptthemen auch viele weitere Diskurse und heißblütig geführte Debattenthemen abräumen, so etwa auch die Debatten um das N-Wort oder Triggerwarnungen, zu denen die unterschiedlichen Autor*innen unterschiedliche, aber sehr bedenkenswerte Gedanken äußern.

Man mag mit vielem nicht d’accord gehen, grundsätzlich anderer Meinung sein. Aber der Widerspruch, der aus diesem Essayband strömt, würde auf diesem Niveau und dieser Differenziertheit der öffentlichen Debatte auch gut zu Gesicht stehen, abseits von albernen Schlagzeilen um verbotene Sombreros auf Bundesgartenschauen oder Ballermannhits, die jedes Niveau unterschreiten.

Cancel Culture, ein Ausdruck für die Sehnsucht akademischer Freiheit?

Persönlich halte ich das Gespenst der Cancel Culture für ein ebenjenes – ein Phantom, das den Blick auf viele wirkliche und dringend zu führende Debatten verstellt. Für die immer wieder perpetuierten Debatten um eine eingeschränkte Meinungsfreiheit und kleiner werdende Meinungskorridore an Universitäten und anderswo möchte ich fortan die Worte Anna-Lena Scholz‘ zitieren, in deren Gedanken zur hermeneutischen Figur der Cancel-Culture ich viel Bedenkenswertes gefunden habe. Ihr Verständnis der Debatten und Mechaniken, bezogen auf die angeblich bedrohte wissenschaftliche Freiheit und die Freiheit generell ist eines, dem ich mich anschließen würde.

All jene Fälle, die in den letzten Jahren als Cancel Culture gerahmt wurden, stehen aus meiner Sicht nicht für einen Niedergang der akademischen Freiheit in Deutschland. Sondern für ein drängendes Interesse dran, dass sie gelten möge. Wenn aber ungesellschaftliche Sehnsucht und juristische Norm deckungsgleich sind, dann kann es um die Möglichkeit zur Freiheit und Erkenntnisgewinnung all schlecht nicht bestellt sein.

Anna-Lena Scholz – Cancel Culture: eine hermeneutische Figur. Der Streit um die Freiheit der Wissenschaft. In: Canceln, S. 101

Fazit

Das kann man so sehen – oder eben ganz anders. Aber genau hier liegt die Qualität, weil Canceln eben nicht zu einem billigen Kompromiss gelangt, sondern das Widersprüchliche aushält und keiner Seite einen wirklichen Vorzug gibt. Das Buch steht für Differenzierung, genaue Betrachtungsweise und ein produktives Gegen- und Miteinander von Perspektiven, das aus einem Dissens erwachsen kann. Könnte Streiten nur öfter so anregend, fundiert und horizonterweiternd sein, es wäre schon viel gewonnen!


  • Canceln – Ein notwendiger Streit
  • ISBN 978-3-446-27613-0 (Hanser)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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Robert Seethaler – Das Café ohne Namen

Warum braucht ein Café unbedingt einen Namen? Es geht doch auch so, das beweist Robert Simon, der in Robert Seethalers neuem Roman im Wien des Jahres 1966 den Schritt in die Selbstständigkeit wagt. Er eröffnet ein Café am Karmelitenmark, das in der Folge zur Anlaufstelle für eine ganze Riege unterschiedlicher Menschen wird. Mit Das Café ohne Namen begibt sich der Österreicher Seethaler zurück in das Milieu der einfachen Leute – und damit auch zurück in der Erfolgsspur.


Mit seinen letzten beiden Romanen konnte Robert Seethaler nicht mehr wirklich an seine ebenso präzisen wie stimmigen Porträts Der Trafikant und Ein ganzes Leben anknüpfen. In Das Feld reduzierte er die Vita einer Stadt auf den Gang über einen Friedhofs mitsamt grabsteinkurzer Vignetten der Stadtbewohner und ihrer Schicksale. Mit Der letzte Satz schaffte er es dann vor zwei Jahren auf die Longlist des Deutschen Buchpreises, diese Nominierung war aber auch von vielen kritischen Stimmen begleitet, in deren Chor auch ich mich einreihen musste. Sein Porträt Gustav Mahlers war allzu kurz und oberflächlich, schenkte der Musik, also dem zentralen Aspekt Mahlers Wirken, nicht wirklich viel Raum und ließ viele der Qualitäten vermissen, die Seethalers frühere Werke auszeichneten.

Umso schöner, dass er diese Qualitäten in Das Café ohne Namen nun wieder zeigt und so zu alter Stärke zurückkehrt. Das liegt in meinen Augen vor allem auf die Rückbesinnung auf Seethalers literarische Qualitäten, die für mich in der Konzentration auf das alltägliche Milieu der „einfachen“ Menschen liegen.

In seinem neuen Roman konzentriert sich Seethaler dabei auf Robert Simon, der als Kriegswaise in Wien aufwächst und sich in den 1960er Jahren als geschickter Arbeiter mit Hilfsarbeiten rund um den Karmelitenmarkt über Wasser hält.

Ein unerfahrener Wirt und ein Café ohne Namen

Das leerstehende Café an einer Ecke des Marktes und die Erinnerungen an frühere Zeiten lassen in ihm den Entschluss reifen, es trotz keiner großen gastronomischen Erfahrung dort auch einmal als Wirt zu probieren. Und so renoviert er die Liegenschaft und beginnt mit dem Betrieb des Cafés zunächst als reine Ich-AG. Er bietet ein bodenständiges Café mit einer kleinen Karte. Schmalzbrot, Wein in den Varianten rot und Weiß, Limonade, Soda und lokales Bier, das ist das Angebot des Cafés am Karmelitenmarkt. Schon kurz nach der Eröffnung wird Simons Gastronomie gut angenommen und erste Erfolge stellen sich ein.

Immer mehr Gäste kamen: Leute aus dem Viertel, Schichtarbeiter, Angestellte in Hemdsärmeln, die Mädchen aus der Schottenauer Garngabrik. Simon lief umher, nahm Bestellungen entgegen, zapfte Bier, füllte Gläser, spülte sie mit kaltem Wasser ab, putzte sie mit einem Lappen und wischte mit einem anderen über die Tische. Mit einer Holzzange fischte er Salzgurken aus dem Glas und mit einer schmalen Spachtel schmierte er Schmalz auf das Brot, das er beim Marktbäcker bestellt und am Morgen ofenwarm und wie ein Neugeborenes in ein weißes Tuch gewickelt abgeholt hatte.

Später kamen die Händler. Es hatte sich herumgesprochen, dass das Café wieder geöffnet hatte, nun waren sie neugierig. Sie besetzten die Tische oder lehnten am Treseen, wo sie die Hand über das glatt geschmirgelte Holz gleiten ließen und Simon beim Zapfen zusahen.

„Ein Seidel Bier! Für mich einen Roten! Drei Weiße! Zwei davon aufs Haus!“

Robert Seethaler – Das Café ohne Namen, S. 28 f.

Doch nicht nur die Erfolge stellen sich ein – Simon als Wirt stellt auch Personal in Form der jungen Mila ein, um den Betrieb seines Cafés gewährleisten zu können. So kümmern sich die beiden sechs Tage die Woche um das Wohl der Gäste, am Dienstag herrscht Ruhetag.

Gäste und die Dramen des Lebens

Robert Seethaler - Das Café ohne Namen (Cover)

Im Lauf der Zeit findet das Café zwar zu keinem wirklichen Namen, dafür aber zu einem Stammpublikum, das das Café regelmäßig frequentiert. Da ist der Ringer und Showkämpfer René Wurm, der regelmäßig im Prater auf die Bretter geschickt wird, die Fierantin Heide Bartholome die mit dem russischen Maler Mischa Troganjew in einer Art Hassliebe verbunden ist, Trinker mit Glasauge oder Priester, die unter Alkoholeinfluss ausfallend werden, traurige und glückliche Menschen – sie alle kehren mal mehr und mal weniger regelmäßig in Simons namenlosen Cafe dort am Karmelitenmarkt ein.

Bei Robert Seethaler wird das Café zur Bühne für die größeren und kleineren Dramen des Lebens, die er einfühlsam und mithilfe nur weniger Sätze umfassend zu schildern weiß. Das ist jene Stärke, die ich aufgrund der etwas überambitionierten und nicht wirklichen runden Romane der letzten Zeit vermisst hatte, und das nun in Das Café ohne Namen wieder zu entdecken ist.

Wie Seethaler im Kleinen große Geschichten zu erzählen vermag, wie er Platz für alle Gefühlsregungen schafft, sprachlich zwischen Alltagssprache und Sinn für den besonderen Moment pendelt und das alles mit einem Filter der Melancholie versieht, das ist für mich wieder richtig gut gelungen und deshalb eine ganz klare Empfehlung, auch wenn ich das Buch vor Kitsch-Anwürfen nicht in Schutz nehmen kann.

Seinen Drang zur Reduzierung hat Seethaler nach den letzten Miniaturromanen wieder einhegt (so umfasste Der letzte Satz gerade einmal 128 Seiten) und hat seiner neuen Erzählung mit 288 Seiten hier wieder mehr Raum gegeben.

Schnell liest man sich durch diese Seiten, mit denen Robert Seethaler nach dem Kein&Aber-Verlag und dem Wechsel zum Hanser-Verlag nun bei Claassen im Ullstein-Verlag eine neue Heimat gefunden hat. Ein Umstand, der rein optisch bis auf den klein gedruckten Verlagsnamen gar nicht auffallen würde, hat man sich bei Ullstein doch für gestalterische Konstanz (oder eine clevere Kopie) entschieden und setzt die Covergestaltung des Hanser-Verlags auch hier unter neuem Dach fort.

Fazit

Mit Das Café ohne Namen besinnt sich Robert Seethaler wieder auf seine alte Stärke und inszeniert das Café am Rande des Karmelitenmarktes in Wien als Bühne für die großen und kleinen Dramen des Lebens. Sein loser Ensembleroman rund um den Wirt Simon als Anker steht in der Tradition der früheren Werke Seethalers und zeigt eine Wirtschaft im Nachkriegswien, deren Kundschaft ebenso vielfältig ist wie die Geschichte, die sie erlebt und zu erzählen haben. Der Österreicher braucht auch hier wieder nur wenige Sätze, um ganze Leben und Dramen in Worte zu fassen. Dass Seethaler damit wieder viele Fans glücklich machen wird und die Bestsellerlisten erobert, das ist zu erwarten und durchaus gerechtfertigt.


  • Robert Seethaler – Das Café ohne Namen
  • ISBN 978-3-546-10032-8 (Claassen)
  • 288 Seiten. Preis: 24,00 €
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