Ulrike Herrmann – Das Ende des Kapitalismus

Verträgt sich der Kapitalismus mit Umweltschutz und den Anforderungen an eine grüne Zukunft? Ulrike Herrmann meint nein und spricht sich in ihrem neuen Sachbuch für Das Ende des Kapitalismus aus und setzt statt auf neue Technologien auf Grünes Schrumpfen und die britische Kriegswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs.


Es könnte doch so einfach sein, wenn man einigen Debatten gerade nach dem Ende der Gaslieferungen aus Russland verfolgte. Wir müssen rasch die erneuerbaren Energien ausbauen, ein paar Leitungen aus dem windstarken Norden in den Süden ziehen, den Umstieg der Verbrenner auf E-Autos vorantreiben, ein paar CO²-Emissionen einsparen, Wärmepumpen hinters Haus – und dann wird das schon etwas werden mit der Einhaltung des Pariser Klimaschutzabkommens und einer grünen Zukunft. So einfach kann es sein, schenkt man einigen Stimmen dieser Tage Glauben.

Kann es eben nicht, wie Ulrike Herrmann in ihrem Buch Das Ende des Kapitalismus behauptet. Denn um unseren Kindern eine wirklich ein einigermaßen lebenswerte Erde zu hinterlassen, braucht es weitaus radikalere Ansätze als ein Windrad vor der Haustür oder einen Solarpanel auf dem Dach. Denn eine ökologisch verträgliche Zukunft und Kapitalismus, das geht nicht zusammen. Vielmehr braucht es ein Ende des Kapitalismus und sogenanntes Grünes Schrumpfen, um auf dieser Erde den Ansatz einer Chance zu haben, unsere Umwelt und damit uns zu retten. Ein Vorbild für einen solchen Ansatz findet sie in der britischen Kriegswirtschaft

Eine Geschichte des Kapitalismus

Doch zunächst beginnt Ulrike Herrmann ihr Buch mit einer Geschichte des Kapitalismus. Warum entstand dieser im Globalen Norden und warum waren es erst die vergleichsweise hohen Löhne in Großbritannien, die ausgehend von der britischen Insel zu einem Erstarken des Kapitalismus und dessen späterer Entfesselung führten? Das erzählt die taz-Journalistin einführend, ehe sie sich der aktuellen ökonomisch-ökologischen Lage unseres Landes und der Erde widmet.

Sie blickt auf die Zerstörung, die unser menschliches Handeln angerichtet hat und beleuchtet das krasse Ungleichgewicht zwischen Globalem Süden auf der einen und dem Globalen Norden auf der anderen Seite, dessen momentaner Ressourcenverbrauch momentan eigentlich zwei bis drei Erden bräuchte, um so in der Zukunft in irgendeiner Form Bestand haben zu können. Ein Zustand, der eng mit dem Kapitalismus verknüpft ist, der beständiges Wachstum braucht, um irgendwie fortexistieren zu können, oder wie es Ulrike Herrmann formuliert:

Der Kapitalismus ist faszinierend, weil er Wachstum und Wohlstand erzeugen kann. Aber leider benötigt er diese Expansion auch, um stabil zu sein und nicht in Krisen zu schlittern. Dieser Wachstumszwang kollidiert jedoch mit dem begrenzten Planeten Erde: Unendliches Wachstum ist in einer endlichen Welt nicht möglich.

Ulrike Herrmann – Das Ende des Kapitalismus, S. 84

Schon jetzt sind entscheidende Kipppunkte überschritten, die Einhaltung des Pariser Klimaschutzabkommens so gut wie unmöglich und die wahren Gefahren wie das die Freisetzung von in Mooren gebundenem Methan, der unwiederbringliche Verlust und damit die Zerstörung unserer Lebensgrundlage so gut wie unumkehrbar. Um auch nur einen halbwegs realistischen Ansatz der Rettung unseres Planeten zu haben, braucht es radikale Ansätze.

Grüne Technologie als Irrweg

Das Hoffen auf neue Technologien, vollständigen grünen Strom und den Fortbestand der Industrie und Arbeitsplätze in der aktuellen Form sind dabei nur Schimären, die wir verzweifelt zu haschen versuchen, um unsere Augen vor der unbequemen Wahrheit noch etwas weiter verschließen zu können und an Illusionen festzuhalten, die eben nicht mehr als das sind.

Ulrike Herrmann - Das Ende des Kapitalismus (Cover)

Denn in Das Ende des Kapitalismus zerstört Ulrike Herrmann gnadenlos und mit Verve sicher geglaubte Wahrheiten und angenehme Scheinsicherheiten. Wind und Sonne? Keine verlässlichen Energielieferanten. Atomenergie? Scheidet ebenfalls aus. Die Probleme von Speicherkapazitäten und Leitungsstrukturen nicht gelöst und technisch wohl auch in Zukunft kaum praktikabel umsetzbar. Generell die Vorstellung von vollumfänglicher grüner Energie eben eine Schimäre und nicht mehr als das (auch wenn beispielsweise ihr ehemaliger taz-Kollege Malte Kreutzfeldt Zweifel an dieser Hypothese äußert).

Das bisher praktizierte ökologisch-ökonomische Lebensmodell ist nicht zu halten und muss nicht nur reformiert, sondern gleich abgeschafft werden, so die mit vielen Quellen untermauerter Befund der Journalistin (die dabei auch historische Mythenbildung zu Fall bringt, wie etwa die der Kolonien, deren wirtschaftliche Bedeutung man völlig überschätzt und die abgesehen von den Verbrechen und Genoziden vor Ort wirtschaftlich immer ein reines Zuschussgeschäft waren, überstieg ihr Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt sowohl in Sachen Import als auch Export nicht einmal ein Prozent)

Digitalisierung und technische Innovationen werden uns nicht retten können, auch Wärmepumpen und neue Wohnmodelle sind nur minimale Pflaster auf einer Wunde, die im übertragenen Sinne nach einer anderen Heilung verlangt als nur kleinteiliger Kurpfuscherei.

Ein Ausweg durch Grünes Schrumpfen

Einen Ausweg sieht Herrmann nur im sogenannten Grünen Schrumpfen, einer Verabschiedung von bisher praktizierten ökonomischen Leitlinien und dem generellen Ende des Kapitalismus, dessen Bedürfnis nach Wachstum nicht mit einer Welt kompatibel ist, die dieses Wachstum nicht mehr hergibt.

Dass das nicht schmerzhaft sein kann, sondern durchaus funktioniert, dafür zieht die Journalistin das Beispiel Großbritanniens zur Zeit des Zweiten Weltkriegs heran. Denn dort hatten sich die Eliten noch zu lange in Sicherheit gewiegt, gar mit dem Hitler-Regime sympathisiert, ehe sie sie von heute auf morgen in einem Krieg wiederfanden, auf den das Land trotz moderner Truppen nicht wirklich vorbereitet war.

So musste plötzlich die ganze Wirtschaft des Landes auf Kriegsproduktion umgestellt werden, Lebensmittel rationiert und von vielen Briten und Britinnen neue Jobs in der Rüstungsindustrie ergriffen werden, um gegen das kriegshungrige Hitler-Deutschland eine Chance zu haben.

Dabei erkennt Herrmann gerade in der egalitären Natur dieser Kriegswirtschaft den großen Vorteil, der auch dem krassen Ungleichgewicht unserer Gegenwart etwas entgegenzusetzen hätte. Denn so standen allen Bürger*innen dieses Landes die gleiche Zahl an Kalorien und übrigen Zuteilungen zu, unabhängig von ihrem sozialen Stand und ihrer Klasse. Die ganze Bevölkerung wurde in dieser staatlichen Planwirtschaft gleichbehandelt, was auch mit Verzicht und der Streichung von Privilegien einherging. In unserer Gesellschaft, in der die Reichen immer reicher werden und die Armen immer mehr werden, in der oftmals das finanzielle Vermögen und die Herkunft über Chancen in der Bildung und Gesellschaft entscheiden, tatsächlich ein radikaler, aber bedenkenswerter Ansatz.

Eine solche egalitäre Einbeziehung der ganzen Gesellschaft könnte laut Ulrike Herrmann dazu angetan sein, die immer größer werdende Kluft zwischen einem kleinen Prozentsatz der Gesellschaft und dem vom Kapitalismus nicht profitierenden Rest zu verkleinern und durch neue Arbeits- und Lebensmodelle Sinn zu stiften und die von David Graeber einst als Bullshit-Jobs getauften gut bezahlten, aber sinnlosen Tätigkeiten zu überwinden. Die Vorteile fächert Ulrike Herrmann in ihrer ganzen Breite auf, wenngleich die Journalistin auch nicht verschweigt, dass unser momentaner Lebensstandard so oder so nicht zu halten sein wird und etwa Flugreisen oder Früchte außerhalb ihrer Saison ein Auslaufmodell sein dürften.

Ein radikaler Denkansatz

Man kann Ulrike Herrmann wahrlich nicht vorwerfen, dass ihr radikaler Denkansatz zu wenig ambitioniert sei. Vielmehr legt sie einen großen Strategieentwurf für eine halbwegs lebenswerte Zukunft vor, der in vielen Punkten neben der starken Illusionszertrümmerung aber auch durchaus Bereitschaft zu einer Neubewertung der Lage erkennen lässt. Oft betont die Journalistin, dass das Buch gerade in Sachen Innovationen und technischer Neuerungen den gegenwärtige Stand und die absehbare Zukunft abbildet. Sie selbst führt in einigen Passagen auch Gegenbeispiele an, die ihrer eigenen Hypothese widersprechen oder bei denen sich sicher geglaubte Annahmen als Irrtümer herausstellt.

Das mag zwar in einigen Punkten auch zutreffen, aber an der gesamtpessimistischen und alarmistischen Grundhypothese des Buchs dürfte das auch wenig ändern (obgleich man sich natürlich anderes wünscht, Herrmann aber bei ihrer stringent durchargumentierten Schrift leider auch häufiger rechtgegeben muss, als man das eigentlich möchte. Aber tief in sich ahnt doch wohl aber jeder und jede vernunftbegabte Leser*in, dass sich unser Leben in Zukunft nicht mehr so annehmlich gestaltet wird, wie wir es aktuell gewohnt sind).

Fazit

Auch wenn die Verzahnung von Kapitalismusgeschichte und illusionszertrümmernder Streitschrift in manchen Passagen nicht ganz aufzugehen vermag und man an manchen Behauptungen zweifeln darf, so ist Das Ende des Kapitalismus doch ein eindringliches Buch, das uns die Webfehler des kapitalistischen Systems und die beschränkten Potentiale der grünen Energien und der damit verbundenen Technologien vor Augen führt.

Die Stärke von Ulrike Herrmanns Buch ist die Zugänglichkeit, mit der sie von ihrem Thema schreibt. Kurze Kapitel, die die jeweilige These schon im Titel tragen, werden allgemeinverständlich von ihr ausgeführt und mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat belegt. Dabei findet sie immer wieder plausible Bilder wie das des Radfahrers, der als Sinnbild für den Kapitalismus steht. Tritt er nicht mehr in die Pedale um voranzukommen, so droht er umzukippen, denn der Stillstand ohne Bodenkontakt ist für ihn so gefährlich wie der Stillstand für den globalen Kapitalismus.

Stellte Frederic Jameson einst fest, dass man sich leichter das Ende der Welt denn das des Kapitalismus vorstellen könne, so zeigt Ulrike Herrmann hier, dass das durchaus geht.

So ist Das Ende des Kapitalismus ein massenkompatibles Buch, das unbequeme Wahrheiten ausspricht und das energisch für eine kapitalismusfreie Welt eintritt, die weit mehr Chancen als Risiken bereithält, wenn man der Zukunftsvision der Journalistin Glauben schenken darf.


  • Ulrike Herrmann – Das Ende des Kapitalismus
  • Artikelnummer 174324 (Büchergilde Gutenberg)
  • 344 Seiten. Preis: 22,00 €

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Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter

Drei Leuchtturmwärter verschwinden spurlos während der Silvesternacht von ihrem sturmumtosten Standort vor der Küste von Cornwall. Es fehlt von ihnen jede Spur, die Wanduhren sind stehengeblieben, der Turm von innen verriegelt. Was bei Ellery Queen oder John Dickson Carr ein klassischer Rätselkrimi geworden wäre, wird bei Emma Stonex zu einer Meditation um Verlust und den Umgang mit dem Ungewissen.


Es mutet wirklich wie ein Rätsel aus einem Kriminalroman aus dem Goldenen Zeitalter der 20er und 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts an. Ein verschlossener Leuchtturm auf der Insel Maidens Rock, 28 Kilometer südlich von Land’s End gelegen. Seine Bewohner, drei Männer, ohne jedes Lebenszeichen verschwunden. Und so schießen nach dem Bekanntwerden der Umstände die Spekulationen ins Kraut. Handelt es sich um einen Mord? Wurden die drei Männer entführt? Oder ist es zu einer Tragödie auf Maidens Rock gekommen?

Es bleibt nicht mehr viel übrig vom Turm. Nur noch die Laterne. Acht Etagen durchsucht und acht Etagen leer. Also hinauf auf die Spitze, und da ist sie, die Laterne der Maiden, ein riesiger Glühstrumpf umschlossen von Linsen so zart wie Vogelschwingen.

»Das war’s. Sie sind weg.«

Am Horizont ziehen Federwolken heran. Die Brise frischt auf, ändert die Richtung, treibt weiße Kämme über die tanzenden Wellen. Es ist, als wären die Wärter nie hier gewesen. Entweder das, oder als wären sie ganz nach oben geklettert und einfach davongeflogen.

Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter, S. 28 f.

Verschwunden aus dem Leuchtturm

Emma Stonex - Die Leuchtturmwärter

Um das zu herauszufinden, will sich ein Schriftsteller mit den drei hinterbliebenen Partnerinnen der Leuchtturmwärter treffen. Er möchte ein Buch über das Rätsel von Maiden Rock verfassen und sucht hierfür das Gespräch mit den Frauen. Doch nicht alle der drei Frauen wollen mit dem Autoren reden. Auch untereinander herrscht überwiegend Funkstille, da die Frauen ganz unterschiedliche weitere Lebenswege eingeschlagen haben. Eine neue Familie oder Einsamkeit, Verdrängung der Geschehnisse oder ruheloses Grübeln. In den Gesprächen, die wir aus Perspektive des Autors erleben, entstehen langsam drei ganz unterschiedliche Leben, die sich um die Leerstelle in ihrem Leben herum gebildet haben.

Dabei erzählt Emma Stonex abwechselnd aus der Perspektive der drei Frauen, die durch die Nachforschungen des Reporters im Jahr 1992 aufgewühlt werden und ihre Sicht auf das Geschehen schildern. Aber auch die drei Leuchtturmwärter kommen zu Wort, die von ihrem Alltag auf dem Leuchtturm zwanzig Jahre zuvor erzählen. Man erhält Einblicke in eine Welt voller Einsamkeit, die ganz eigene Riten, Abläufe und Codes besitzt, die sich auch durch die Tätigkeit fernab der Zivilisation bedingen.

Drei Männer, drei Frauen – und ihre Perspektiven

Allmählich puzzelt Emma Stonex diese sechs Perspektiven aus den unterschiedlichen Jahren zusammen, um eine Variante anzubieten, was sich in der Silvesternacht auf Maidens Rock abgespielt haben könnte. Jeder der Wärter und jede der drei Frauen trägt ihr Scherflein zu der Entwicklung bei, die am Ende auch nur ein Erklärungsversuch bleibt, der aber keinen allgemeingültige Anspruch formuliert. Das macht das Buch so überzeugend, weil neben den Perspektiven der drei Paare und der Befragten auch Raum für Spekulationen und Schwebendes bleibt.

Das Ganze basiert dabei aber auf tatsächlichen Begebenheiten, wie schon die Anmerkung der Autorin zu Beginn des Buchs klarmacht.

Im Dezember 1900 verschwanden drei Wärter von einem abgelegenen Leuchtturm auf der Insel Eilean Mòr in den Äußeren Hebriden. Sie hießen Thomas Marshall, James Ducal und Donald MacArthur. The Lamplighters wurde von diesem Ereignis inspiriert und in respektvoller Erinnerung daran geschrieben, aber es ist eine fiktionale Geschichte und hat keine Ähnlichkeit mit dem Leben und der Persönlichkeit dieser Männer.

Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter, Anmerkung

Und auch an dieser Stelle geht Emma Stonex noch einmal auf die Hintergründe zu den Taten ein, die ihren Roman um das Verschwinden der drei Leuchtturmwärter inspirierte.

Fazit

So ist Die Leuchtturmwärter eine Studie über den Verlust im Leben und auch ein genaues Bild, was die Einsamkeit der Leuchtturmwärter belangt. Die Autorin lässt eventuelle Erwartungen eines Rätselkrimis ins Leere laufen und zeigt vielmehr Einsamkeit und Entfremdung in allen möglichen Schattierungen. Ein überraschendes Buch, das Erwartungen zuwiderläuft und wenig romantisierenden vom Alltag im Leuchtturm und dem Umgang mit Leerstellen im Leben zeigt.


  • Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter
  • Aus dem Englischen von Eva Kemper
  • ISBN 978-3-10-397037-1 (S. Fischer)
  • 432 Seiten. Preis: 22,00 €
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Anuk Arudpragasam – Nach Norden

Eine Reise zu den Schmerzpunkten verschiedener Leben und denen eines ganzen Landes. Anuk Arudpragasam schickt in Nach Norden seinen Protagonisten auf eine Reise durch das vom Bürgerkrieg gezeichnete Sri Lanka und spürt dabei dem Schmerz in vielen Facetten nach.


Fast sechs Stunden dauert es laut Google Maps, möchte man mit dem Auto von Colombo bis nach Kilinochchi im Norden Sri Lankas reisen. Begibt man sich in die Hände des Reiseleiters Anuk Arudpragasam, so wird aus dieser knapp 340 Kilometer langen Strecke eine Lesereise von annähernd ähnlich vielen Seiten, die tief in die Geschichte Sri Lankas führt.

Dabei beginnt alles mit zwei Nachrichten, die in Krishan, dem Helden von Anuk Arudpragasams Roman, starke Erinnerungen und Bewegungen auslösen.

Zwei Nachrichten und eine Reise

So schreibt ihm Anjum, seine ehemalige Geliebte, die er einst in Indien kennenlernte und die sich nun nach langer Stille bei Krishan über dessen Verbleib erkundigt. Und dann stirbt auch noch Rani, die die Betreuung von Krishans pflegebedürftiger Großmutter Appamma übernommen hat.

Rani stammte aus dem Nordosten Sri Lankas, ein Gebiet, das lange vom Bürgerkrieg und dem Kampf der tamilischen Tiger geprägt war. Sieverlor in diesem Krieg ihre beiden Söhne, den jüngeren tragischerweise noch am vorletzten Tag jenes Krieges, der viele zehntausende Opfer forderte und erst 2009 nach fünfundzwanzig Jahren des blutigen Kampfes beendet wurde. Dieser Kampf, die Erinnerungen an Anjum und sein eigenes kurzzeitiges Engagement dort im Norden lösen vielfältiges Erinnern aus.

In den Jahren seit dem Ende der Kämpfe war er besessen geworden von den Massakern, die im Nordosten stattgefunden hatten, mehr und mehr hatte ihn die Schuld des Überlebenden ergriffen, und er sehnte sich nach der Art Leben, die er vielleicht führen könnte, wenn er die träge akademische Welt verließ, in die er sich abgesondert hatte, und an einem Ort lebte und arbeitete, der ihm etwas bedeutete.

Anuk Arudpragasam – Nach Norden, S. 21

Von Colombo nach Kilinochchi

Anuk Arudpragasam - Nach Norden  (Cover)

Krishan beschließt, sich von seinem aktuellen Wohnort Colombo an der Westküste Sri Lankas nach Kilinochchi im Norden der Insel zu begeben. Von dort stammt Rani, dort verunglückte sie und dort soll sie nun im Kreis ihrer Familie beerdigt werden. Und dorthin zieht es nun auch Krishan, der sich dort seinen Gedanken und Erinnerungen stellen möchte.

Während er also per Bahn in den Norden reist, stürmen die Erinnerungen immer stärker auf ihn ein. Seine Großmutter Appamma und ihr Abgleiten in die Hilflosigkeit und ihr Schwanken zwischen Selbstbehauptung und dem Einfordern von Hilfe. Die Anstellung von Rani, die nach dem Tod ihrer Söhne in Depressionen verfiel, die sie mit immer stärker werdender Elektroschocktherapie zu bekämpfen versuchte, ehe sie in der Anstellung als Betreuerin von Rani in Colombo neuen Sinn fand. Die Erinnerungen an Anjum, ihr gemeinsames Kennenlernen in Indien, die langsame und intensive Romanze, die sich entspann. All diese Erinnerungen stürmen auf den Erzähler ein – genauso wie zahlreiche Erinnerungen an Gedichte, Dokumentarfilme und Legenden, derer sich der junge Mann erinnert.

Eine Reise zu den Schmerzpunkten eines ganzen Landes und seiner Bewohner

Dabei ist Nach Norden ein Buch der Erinnerung, das konsequent die Schmerzpunkte eines Landes und seiner Bewohner umkreist und auch berührt. So schon sich schon Krishan wenig, wenn er mit akribischer Genauigkeit der verflossenen Romanze zwischen Anjum und ihm nachspürt, sich ihr ganzes Kennenlernen noch einmal vor Augen führt, was den Schmerz der Trennung noch einmal deutlicher werden lässt.

Auch das familiäre Gefüge mit der verfallenden eigenen Großmutter und den notwendigen Kraftanstrengungen, die die heimische Pflege erfordert, beschreibt uns Krishan ungeschönt. Er führt dies von der persönlichen Ebene dann auf die nationale Ebene, wenn langsam die ganze Bedeutung des Bürgerkriegs, die Zerstörung, das persönliche Leid und das der Gesellschaft in Nach Norden offenbar wird. Hier schon jemand weder sich noch sein Land, um die einschneidende Bedeutung des Bürgerkriegs dort im Norden der Insel zu vermitteln.

Ein genauer Beobachter

Zudem ist erweist sich der junge 1988 geborene Tamile Arudpragasam hier auch als genauer Beobachter, der seine Sprache bewusst wählt und bei der es ein Fehler wäre, allzu schnell über sie hinwegzugehen oder sie nur als Vehikel der Erzählung zu begreifen.

Egal ob erotisch aufgeladene nächtliche Begegnungen im Schlafwagen oder die Bestattungszeremonie von Rani – diese Prosa der Gedanken- und Erinnerungsschleifen gleicht in manchen Szenen einer hochauflösenden Zeitlupe, in der sich der tamilische Erzählung manchmal schon schmerzhaft viel Zeit nimmt, um die Handlung und inneren Bewegungen zu schildern.

Nach Norden ist ein Roman, der sich Zeit lässt, der seine Themen genau umkreist und der alle Wahrnehmungen in langen Satzperioden genau nachzubilden und abzubilden versucht (Übersetzung durch Hannes Meyer):

Als er sie beobachtete und sie ihn, hinter ihr die Landschaft vorbeirauschte, er aber nur das Blinzeln ihrer Augen und das Schlagen seines Herzens wahrnahm, war Krishan dankbar, dass sie beide Teil desselben Ortes und derselben Zeit waren, dass sie zumindest jetzt diesen Augenblick teilten, einen Augenblick, der nicht nur Nahes und Fernes enthielt, sondern auch Vergangenes und Zukünftiges, ein Augenblick ohne Länge und Breite und Höhe, der aber alles von Bedeutung in sich barg, so als wären alle anderen Bestandteil der Welt bloß kosmische Kulisse, eine Illusion, die nun verschwinden konnte, da sie entlarvt war. Was man in Ermangelung eines besseren Ausdrucks oft Liebe nannte, das wurde ihm in jener Nacht klar, war weniger die Beziehung weiter Menschen an und für sich als vielmehr eine Beziehung zwischen zwei Menschen und der Welt, deren Zeugen sie waren, einer Welt, deren Oberflächen und Äußerlichkeiten sich allmählich auflösten, währen die beiden Menschen tiefer und tiefer in ihrer Liebe versanken.

Anuk Arudpragasam – Nach Norden, S. 176 f.

Fazit

Mit Nach Norden nimmt uns Anuk Arudpragasam mit auf die zerrissene Insel Sri Lanka und zeigt ein Land fernab der touristischen Glanzpunkte. Vielmehr sind es die Schmerzpunkte, die Arudpragasam auf persönlicher genauso wie auf gesellschaftlicher Ebene interessieren. Seine Reise wird zu einer Reise in die Vergangenheit eines vom Bürgerkrieg gezeichneten Landes und auch zu einer Reise des eigenen seelischen Schmerzes. Gewiss keine leichte Literatur, aber ein Buch, auf das man sich mit genügend Zeit einlassen sollte und dessen Sprache das ideale Vehikel für Arudpragasams Erzählansatz der Langsamkeit und Nachdenklichkeit ist.


  • Anuk Arudpragasam – Nach Norden
  • Aus dem Englischen von Hannes Meyer
  • ISBN 978-3-446-27381-8 (Hanser)
  • 320 Seiten. Preis: 25,00 €
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Ernest Cline – Ready Player One

Lektüre für Geeks, Gamer und Kinder der 80er Jahre. Ernest Cline lässt im Gewand eines Gamer-Romans in Ready Player One die 80er-Jahre in ihrer kulturellen Breite auferstehen und verschmilzt mittelalterliche Ritter-Literatur mit einem dystopischen Setting, in dem der Gamer Wade Watts unendliche digitale Weiten durchstreift, immer auf der Suche nach dem Heiligen Gral, auch wenn sich dieser hier zwischen Arcade-Spielen und Pixelwolken versteckt.


Schon der Name des digitalen Alter Egos des Helden Wade Watts weist ganz eindeutig auf die literarische Bezugslinie hin, in dessen Nachfolge Ready Player One steht. So trägt Watts in den digitalen Weiten der OASIS den Namen Parzival. Unter diesem Titel durchstreift der moderne Gralssucher in den 2040er Jahren die OASIS, jene allumfassenden Weltensimulation, in der Ready Player One zum überwiegenden Teil spielt.

Doch es ist nicht nur die Namensgebung seines Helden, durch die sich Ernest Clines Roman in die Tradition des mittelalterlichen Ritter-Romans stellt. Auch der Inhalt selbst ist eine Wiederkehr der Themen der mittelalterlichen Heldendichtung, die die Ependichtung Wolfram von Eschenbachs oder Hartmann von Aues in die Gegenwart beziehungsweise hier eher in die Zukunft überführt. Denn auch in den Weiten der OASIS muss Parzival Aventüren bestehen, Drachen erlegen, Zauberer besiegen und der Minne huldigen, auch wenn sich diese in der Zwischenzeit nur noch über Avatare und Chatfenster abspielt.

Eine Heldenreise in dystopischem Setting

Dabei sind die äußeren Umstände des Romans weniger schillernd als die digitalen Welten, die es zu entdecken gibt. Denn Energiekrisen, Hunger, Ausbeutung des Planeten und viele weitere Faktoren haben dafür gesorgt, dass die Welt kontinuierlich ein immer lebensfeindlicherer Ort wurde. Die Mängel der äußeren Welt haben aber zu einem Erblühen der digitalen Welten geführt, die mithilfe von Virtual Reality und leistungsstarken Simulationen zu einem Ort geworden sind, der sich für die meisten inzwischen mehr nach „echter“ Welt anfühlt als das, was die Menschen draußen vor ihrer Haustür vorfinden.

Auch Wade Watts ist ein solcher Bewohner der digitalen Welt. Im wahren Leben lebt er bei seiner Tante in einer Armensiedlung namens Portland Avenue Stacks,

einem Bienenstock aus blechernen Schuhschachteln, die am Rand der I-40, unmittelbar westlich des Stadtkerns von Oklahoma City mit seinen verfallenen Wolkenkratzern, vor sich in rosteten. Die über fünfhundert Stapel waren durch ein behelfsmäßiges Geflecht aus recycelten Rohren, Stahlträgern, Stützpfeilern und Fußgängerbrücken miteinander verbunden. Ein Dutzend uralter Baukräne stand am Rand des sich immer weiter ausdehnenden Viertels – sie leisteten die eigentliche Stapelarbeit.

Ernest Cline – Ready Player One, S. 34

Eine Traumimmobilie sieht anders aus. Zudem ist das Miteinander auf dem engen Raum eine explosive Angelegenheit. Seiner Tante ist Wade nämlich verhasst. Allein die ihm zustehenden Essensgutscheine sind für seine kaltherzigen Verwandtschaft der einzige Grund, ihn in den Stacks bei sich zu beherbergen.

Die Jagd auf Hallidays Easteregg

Ernest Cline - Ready Player One (Cover)

Und so ist es kein Wunder, dass Wade nach einer Ablenkung sucht. Diese hat er wieder fast alle anderen Mitmenschen in den unendlichen Weiten der OASIS gefunden. Diese wurde von James Halliday erfunden, nachdem dieser zunächst zusammen mit Ogden Morrow ein erfolgreiches Games-Unternehmen gegründet hatte. Doch die OASIS stellte alles bisher Dagewesene auf den Kopf.

In dieser virtuellen Welt können Spieler ihre digitalen Avatare durch unendliche Welten steuern. Verschiedene Planeten mit unterschiedlichen Welten die von Nachbauten von fiktiven und realen Welten bis hin zu ausgelagertem Schulunterricht reichen, das alles und noch viel mehr lässt sich in der OASIS entdecken.

Mit dem Tod von James Halliday, dem legendären Begründer dieser Welten, kam es dann aber zu einer bemerkenswerten Tat, die fortan Wade Watts Leben und das tausender anderen Menschen entscheidend beeinflusst. Denn James Halliday hinterließ eine Abschiedsbotschaft, in der die Existenz eines Ostereis, eines Easter Eggs, irgendwo in den Weiten der OASIS verkündete. So habe er drei verschiedene Schlüssel an ganz unterschiedlichen Orten der virtuellen Welt versteckt. Wer diese Schlüssel zuerst finde, dem offenbarten sie den Weg zu Hallidays Schatz, dem Osterei, dessen Finder*in das gesamte Vermögen Hallidays gehörte, so der OASIS-Begründer in seiner letzten Botschaft.

In den Weiten der OASIS

Dieser Nachricht elektrisierte die OASIS, deren Bewohner fortan das von Halliday installierte ScoreBoard immer ganz genau im Auge behielten. Wer würde der erste sein, der einen der drei Schlüssel fand und damit auf der Suche nach Hallidays Osterei dem Schatz ein Stück näherkam?

Am 11. Februar 2045 ist es soweit und Wades Alter Ego Parcival erscheint ganz oben auf der Bestenliste. Wie es dazu kam und wie sich die Schnitzeljagd nach Hallidays Schlüsseln ab diesem Zeitpunkt gestaltete, das erzählt Parcival im Folgenden.

Dabei ist es ein geschickter Schachzug von Ernest Cline, dass er seine Erzählung in den Weiten eines Computerspiels ansiedelt. Denn damit immunisiert sich Ready Player One schon im Vorfeld gegen einige Vorwürfe wie die von Stereotypen, allzu klaren Abgrenzungen von Gut und Böse und hölzernen bis kitschigen Dialogen, die sich immer wieder im Buch finden. Denn Clines Buch eifert erkennbar den digitalen Vorbildern von Point and Click-Abenteuern und anderen Videospielen aus der Frühzeit der Computer nach. Ebenso schematisch wie diese Spiele ist auch die Gestaltung von Ready Player One, das ganz videospiel-gemäß in drei große Hauptkapitel eingeteilt ist, die hier als Level bezeichnet werden.

Und doch überzeugt das Buch trotz mancher Klischees durch seine Kreativität und das Update von mittelalterlicher Ritter-Aventüre. So sind die Rätsel dieser digitalen Schnitzeljagd in Reime verpackt (übersetzt von Sara und Hannes Riffel) und laden zum Mitraten ein (wenngleich die Auflösung nur durch Wissen über den Ready Player One-Kosmos zu lösen ist).

Eine Hommage an die 80er

Die Handlung drängt voran, selbst wenn die Suche nach den Schlüsseln einige Durchhänger hat. Aber durch das Wettrennen zwischen den Guten (in Form von Wade und anderer freier Gamer) und den Bösen (in Form des skrupellosen Konzern IOI) bleibt man gerne dran an dieser Schnitzeljagd und wohnt den Heldenprüfungen des jungen Parzival bei. Und nicht zuletzt ist Ready Player One auch ein Fest der 80er-Jahre, von Billy Idols Rebell Yell bis zu Monty Pythons Die Ritter der Kokosnuss. Dieses Buch ist wirklich bis zum Anschlag von der Popkultur der 80er durchsättigt.

Hierbei bleibt nur noch ein weiterer Kritikpunkt meinerseits zu nennen, den Ernest Cline dann zwar mit einer Schlusspointe noch einigermaßen ausmerzt, aber der doch über weite Teile des Buchs für sich steht. Die Rede ist von der weißen, männlichen Gamer-Kultur, deren Bild Ready Player One ein Stück weit festzementiert, gerade in Passagen wie der folgenden:

Wenn es um Recherche ging, zog ich alle Register. Während der letzten fünf Jahre hatte ich sämtliche Bücher durchgearbeitet, die für einen Jäger von Interesse waren. Douglas Adams. Kurt Vonnegut. Neal Stephenson. Richard K. Morgan. Stephen King. Orson Scott Card. Terry Pratchett. Terry Brooks. Bester, Bradbury, Heinlein, Tolkien, Vance, Gibson, Gaiman, Scalzi, Zelazny. Ich las jeden Roman aller Lieblingsautoren Hallidays.

Aber nicht nur das.

Ich schaute mir auch jeden Film an, der im Almanach erwähnt wurde. Hallidays Lieblingsfilme wie WarGames, Ghostbusters, Was für ein Genie, Lanny dreht auf oder Die Rache der Eierköpfe schaute ich mir immer wieder an, bis ich jede einzelne Szene mitsprechen konnte.

Ganz zu schweigen von den Filmen, die Halliday als „Die heiligen Trilogien“ bezeichnete: Star Wars (die Original- und die Prequel-Trilogie, in dieser Reihenfolge), Herr der Ringe, Matrix, Mad Max, Zurück in die Zukunft und Indiana Jones (Halliday hatte einmal gesagt, dass es ihm lieber gewesen wäre, die anderen Indiana-Jones-Filme, ab Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels, gäbe es gar nicht. Ich konnte ihm nur zustimmen).

Darüber hinaus zog ich mir die komplette Filmographie seiner Lieblingsregisseure rein. Cameron, Gilliam, Jackson, Fincher, Kubrick, Lucas, Spielberg, Tarantino. Und, natürlich, Kevin Smith.

Ernest Cline – Ready Player One, S. 94 f.

Wer sich an solch zitierter männlicher Monokultur nicht stört und das Buch eher als Dokument der tendenziell eher wenig divernsen und wenig gleichberechtigten Vergangenheit der 80er-Jahre liest, der bekommt eine spannende Schnitzeljagd in einem dystopischen Zukunftszenario geboten, deren globaler Erfolg und filmische Adaption durch den prägenden Regisseur der 80er, nämlich den oben zitierten Steven Spielberg, nicht überrascht.

Trailer zur Verfilmung von Ready Player One durch Steven Spielberg

Fazit

Popkulturgesättigt und sehr nerdig ist Ready Player One ein Lesespaß, dem es gelingt, das Videospiel in Literatur zu überführen, auch wenn man literarisch den ein oder anderen Abstrich in Kauf nehmen muss. Aber mit diesem Buch schafft es Cline, eine enorm große Gefolgschaft hinter sich zu versammeln, die von Fans der 80er Jahre bis hin zu Game-Nerds reicht. Und trotz seines großen Umfangs von über 500 Seiten ist Ernest Cline eine kreative und spannende Heldenreise gelungen, die auch den ein oder anderen Jugendlichen aufgrund des Themas und der niedrigschwelligen Umsetzung sehr begeistern dürfte – und was kann man mehr von einem Buch wollen? Deshalb: Insert Coin und Ready Reader One!


  • Ernest Cline – Ready Player One
  • Aus dem Englischen von Sara und Hannes Riffel
  • ISBN 978-3-596-70664-8 (Fischer TOR)
  • 539 Seiten. Preis: 14,99 €
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Meine besten Bücher 2022

Viel habe ich auch im vergangenen Jahr gelesen und auch viel besprochen. Über 100 Rezensionen sind neben Meinungsstücken, Vorschauberichten und Co. zusammengekommen. Dabei ist dieses Jahr zum ersten Mal ein Schwerpunkt bei den weiblichen Erzählerinnen, von denen ich mehr Bücher besprochen habe denn von männlichen Autoren. Dass dabei viele Highlights darunter waren, die dementsprechend auch die Liste dominieren, das sollte nicht überraschen. Besonders konnten mich in diesem Jahr auch die Verlage Ullstein und Hanser mit ihrem Programm überzeugen. Auch das schlägt sich in der Auswahl nieder.

In der Rückschau sind es die folgenden sechzehn Bücher, die ich zu meinen persönlichen Highlights des Jahres zähle und dementsprechend noch einmal kurz würdigen möchte. Bücher, die über die Lektüre und weit darüber hinaus in meinem Kopf blieben und denen eine Qualität innewohnt, die sie auch über kurzlebige Trends erhebt und von denen ich mir sicherlich den ein oder anderen Titel auch ein zweites Mal vornehmen werde.

Ausführliche Besprechungen und bibliographische Daten finden sich wie immer nach einem Klick auf die entsprechenden Cover. Nun hier also mein literarisches Best of des Jahres 2022:

Percival Everett – Erschütterung

Percival Everett - Erschütterung (Cover)

Dieses Buch habe ich gleich zu Beginn des Jahres gelesen – und es ist bei mir in Gedanken geblieben, bis zum Ende des Jahres. Percival Everett gelingt es in Erschütterung, die Geschichte des Universitätsprofessors Zach Wells mitreißend zu erzählen, obwohl dessen Lebenswelt und Schicksal so gar nichts Mitreißendes an sich hat. Wie er diesen Zach Wells zeigt, der sämtlichen Halt im Leben verliert, das ist große Kunst. Dabei verschmilzt Everett Themen wie Migration, Campusroman und Krankheitsgeschichte miteinander. Was freue ich mich schon auf den neuen Roman von Everett, der schon bald abermals bei Hanser erscheinen wird!

Annika Büsing – Nordstadt

Mit Nordstadt hat Annika Büsing den Trend des Schwimmbad-Romans losgetreten, der im kommenden Jahr viele Nachahmer finden wird. Bei ihr ist das Hallenbad der Handlungsort, in dem die Bademeisterin Nene ihren Dienst versieht und auf Boris trifft. Zwischen den beiden Außenseitern aus prekären Verhältnissen entspinnt sich eine widerborstige Romanze. Stilistisch toll erzählt und in meinen Augen auch eine hervorragende Klassenlektüre für gehobene Klassenstufen.

Natalie Buchholz – Unser Glück

Welchen Preis sind wir bereit, für unser Wohnglück zu zahlen? Diese Frage verhandelt Natalie Buchholz in ihrem neuen Roman Unser Glück, indem sie eine Münchener Kleinfamilie in den Mittelpunkt stellt, die eine bezahlbare Traumimmobilie gefunden hat, noch dazu in Schwabing. Wenn da nur nicht der Haken mit dem anderen, undurchsichtigen Untermieter wäre, der sich ein Zimmer in ihrer Immobilie ausbedungen hat…

Anna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt

Immer wieder kommt es zu ganz unwahrscheinlichen Schwerpunkten in verschiedenen Büchern einer Saison – so auch bei Anna Bervoets‘ Roman, der ebenso wie Berit Glanz in Automaton den Alltag einer Content-Moderatorin in den Mittelpunkt stellt und dabei eindringlich spürbar macht, wie die Seele bei dieser Art von Arbeit Schade nimmt

Lauren Groff – Matrix

Ein Utopie weiblicher Selbstverwaltung und Autarkie, angesiedelt im Mittelalter. In Matrix erzählt Lauren Groff die Geschichte der Äbtissin Marie de France, die als illegitimer Königsspross von ihrer Schwester, Eleanore von Aquitanien, dem Thron möglichst weit fortgehalten werden soll – und so ein Kloster zu unbekannter Blüte führt. Hier trifft historischer Roman auf Science Fiction, großartig erzählt und gestaltet.

Fatma Aydemir – Dschinns

Völlig überladen und überfrachtet, und zugleich doch so gut, so relevant und wichtig, dieser Roman von Fatma Aydemir. Als Stellvertreterfiguren erzählt sie von den vier Kindern Hüseyins, die sich nach dem Tod des Famileinvaters aufmachen zu dessen Beerdigung und dabei alle möglichen Probleme im Gepäck haben. Auch die Mutter kommt zu Wort. So bekommt man ein ganzes Panorama von Migrantenschicksalen der ersten und zweiten Generation zu lesen. Beeindruckend!

Claire Keegan – Kleine Dinge wie diese

Ein meisterlicher Weihnachtsroman, gespeist aus Dicken’schem Geist, und das als Lektüre im Sommer? Unbedingt empfehlenswert! Während draußen die Temperaturen neue Höchststände erreichten, las ich Claire Keegans kleinen, aber schwergewichtigen Roman, der an den Weihnachtstagen in einem von Armut geprägten Irland des Jahres 1985 spielt und der trotzdem von Hoffnung und Mut kündet – und der ein Loblied auf den Mut des Einzelnen singt.

Melinda Cowley – Heller – Der Papierpalast

Für mich der perfekte Sommerroman. Warum? Weil er nicht sonnenhell und kitschig ist, sondern auch die von den Schattenseiten des Lebens erzählt. Untreue, Begehren und Lebenslügen sind Thema in diesem Roman, der um die 50-jährige Elle Bishop kreist und in dem Melinda Cowley-Heller zeigt, dass sich die Sommeridylle dort im sogenannten Papierpalast an der Küste Neuenglands als erstaunlich brüchig erweisen kann. 

Eckart Nickel – Spitzweg

Kunstvolles Parlando, konsequentes l’art pour l’art, das ist Spitzweg von Eckart Nickel, eine ebenso knallige wie stilbewusste Dreiecksgeschichte dreier Schulfreund*innen, bei der die Kritik eines Kunstwerks in der Schule einen wilden, geradezu anachronistischen Reigen aus Ereignissen auslöst. Nicht zuletzt auch äußerlich ein wahres Kunstwerk, dessen inhaltliches Gewicht man besser nicht hinterfragen sollte, sondern sich eher auf die Schauwerte einlassen sollte.

Maggie Shipstead – Kreiseziehen

Dieses Buch ist für mich die Definition eines guten Schmökers. Denn das Buch vereint das Doppelporträt einer jungen, skandamumwitterten Schauspielerin und einer unbeugsamen Pilotin, deren ungeklärtes Schicksal Ausgangspunkt einer Verfilmung ist, in der die Schauspielerin jene Pilotin verkörpern soll. Unterhaltung mit Anspruch, ein großartiges Erzähltalent – und viele hunderte Seiten, um darin zu versinken!

Eberhard Seidel – Döner

Zugegeben, ich bin kein großer Freund des Döners. Zu mächtig, olfaktorisch zu belastend, gerade in Mittagspausen – meine Vorbehalte gegen diese Speise waren nicht gerade klein. Und dennoch gelingt Eberhard Seidel  ein Buch, das mich über die Maßen begeistert hat, verknüpft er doch die Kulturgeschichte des Döners mit der der Migration und erzählt von den Ausgrenzungen und tödlichen Gefahren, die ebenfalls mit dem Döner assoziiert werden.

Amor Towles – Lincoln Highway

Zwei Jungen auf der Suche nach ihrer Mutter, der legendäre Lincoln Highway als Reiseroute – und dennoch entwickelt sich alles anders als geplant in Amor Towles‘ neuem Roman, der einem wilden Roadtrip gleicht, den sich Mark Twain und Jules Verne zusammen ausgedachte haben könnten. Ein Buch von alter amerikanischer Romanschule und dabei stets unvorhersehbar. Tolle Unterhaltung!

Lucy Fricke – Die Diplomatin

Ich habe ja bekanntlich eine Schwäche für gut gemachte politische Romane. Und auch Lucy Frickes neues Werk fällt in diese Kategorie. Ihr gelingt das Kunststück, ebenso mitreißend, wie lustig, berührend und gesellschaftlich relevant von der Diplomatin Fred zu erzählen, die von einem Einsatz in Südamerika bis zu einer Botschaftsposition in der Türkei die ganze Ohnmacht unserer demokratischen Handlungsweisen zu spüren bekommt.

Deb Colin Unferth – Happy Green Family

Politisch im weiteren Sinne ist auch Deb Colin Unferths großartiger Roman Happy Green Family, der von einer waghalsigen Rettungsaktion erzählt. Ein einzelnes Huhn ist dabei der Auslöser, der zu einer ganzen Lawine aus Chaos und Gefahr führt. Denn drei ganz unterschiedliche Figuren sagen hier der industriellen Hühnerzucht und Eierproduktion den Kampf an und wollen eine bessere Welt. Ob das funktionieren kann?

Négar Djavadi – Die Arena

Wie würden eigentlich Victor Hugo oder Honoré de Balzac von Paris schreiben, wenn sie in diesen Tagen leben würden? Vermutlich genau so, wie das Négar Djavadi in Die Arena tut. Sie erzählt von Politiker*innen, einem Spindoktor, Polizist*innen und jugendlichen Gangs, die in dieser Arena namens Paris aufeinandertreffen – mit explosiven Folgen.

Gabriele Riedle – In Wüsten. In Dschungeln. Im Krieg.

Hätte es die Longlist des Deutschen Buchpreises 2022 nicht gegeben, wäre mir dieses Buch wirklich entgangen, obwohl ich es schon dienstlich für meine Bibliothek erworben hatte. So habe ich nun dank der Nominierung ein sprachlich anspruchsvolles und im besten Sinne welthaltige Buch entdeckt, das ebenso vom Newsdruck wie auch vom Seelenleben einer Kriegsreporterin erzählt. Vor allem ist das Buch ein Dokument von der Unrast unserer Tage.

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