Salvatore Scibona – Der Freiwillige

Vom Dschungel Vietnams bis nach Hamburg. In seinem Roman Der Freiwillige spannt Salvatore Scibona einen weiten Bogen – und scheitert an den eigenen Ambitionen.


Dabei ist der Auftakt zu Scibonas zweitem Roman (zuletzt „Das Ende“, erschienen 2012 bei Arche) durchaus vielversprechend. Ein Junge steht menschenverlassen auf dem Hamburger Flughafen, keine Spur von Erziehungsberechtigten. Die Ermittlung der Identität des Jungen stellt sich als schwierig heraus. Von dort aus springt der Roman dann einige Jahrzehnte zurück, um im ersten Teil die Geschichte von Vollie zu schildern.

Salvatore Scibona - Der Freiwillige (Cover)

Dieser meldet sich als Freiwilliger für den Vietnamkrieg und verlängert sein Engagement dort sogar noch einmal. Er gerät in Kriegsgefangenschaft und erlebt den Wahnsinn des Kriegs hautnah mit. Später wird er nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst auf eine Spionagemission geschickt. In Queens soll er den Verbleib eines Mannes herausfinden. Sollte er erfolgreich sein, erwartet ihn eine finanzielle Entlohnung. Doch bis sich diese Geschichte mit der des verlassenen Jungen auf dem Hamburger Flughafen verbindet, wird noch einige Zeit vergehen.

Es sind durchaus vielversprechende Zutaten, die Salvatore Scibona für seinen Roman verwendet. Schilderungen des Vietnamkriegs, die Frage von familiärer Verbundenheit, der Blick auf das gesellschaftliche Leben abseits des öffentlichen Interesses. All das spielt in dem Buch eine Rolle, mag sich aber nicht zu einem überzeugenden Ganzen verbinden.

Ein Buch, das den Fokus verliert

Beginnt das Buch mit einer klaren Schlagrichtung, nämlich den Schilderungen des Kriegs in Vietnam, verliert sich dieser Fokus bereits nach dem ersten Teil. Scibona springt zurück nach Hamburg, erzählt von dem Jungen, der unter die Fittiche eines Priesters genommen wird. Dann ändert er den Erzählfokus, rückt Vollie (der inzwischen seine Identität bereits zum ersten, aber nicht letzten Mal gewechselt hat) an den Rand der Erzählung. Er beendet den Teil um die Spionageerzählung, um dann weiter zu einer Kommune in New Mexico zu springen. Vollie, sein Sohn, der Junge in Hamburg – immer mehr lösen sich die Erzählstrukturen auf, enden oftmals wahllos und in großer Beliebigkeit. Viele eingeführte Konflikte enden im Nichts, immer zielloser wird dieser wild mäandernde Erzählstrom. Auch bleiben die meisten Figuren völlig unkonkret, obwohl Scibona viel Zeit zur Schilderung dieser verwendet.

Das ist schade, denn so bleibt bei mir der Eindruck eines Buchs, bei dem deutlich mehr dringewesen wäre. Schon die Schilderungen des Kriegs in Vietnam wirken eingedenk einer Fülle an Filmen und Romanen überholt. Andere Schriftsteller haben gezeigt, wie man heute modern und mit Erkenntnisgewinn von diesem Krieg erzählen kann. Scibona wirkt hier etwas antiquiert und fällt ästhetisch hinter ein solches Erzählen zurück. Und da dieser Teil der überzeugendste des Buchs ist, bekommt man eine Ahnung, wie der Rest dieses Romans versandet. Zwischen all den Identitäts-und Schauplatzwechseln stellte sich bei mir eine Müdigkeit ein, die ein guter da fokussierter Roman so hätte nicht entstehen lassen.

Das ist schade, denn mit einer klareren Stoßrichtung, einer prägnanteren Figurenzeichnung und einer überzeugend durchgeführten Entwicklung hätte aus Der Freiwillige ein echter Klassiker werden können. So bleibt Scibonas Roman weit hinter seinen Möglichkeiten zurück und erzeugte zumindest bei mir etwas Ratlosigkeit ob der erzählerischen Orientierungslosigkeit.


  • Salvatore Scibona – Der Freiwillige
  • Aus dem Englischen von Bettina Arabarnell und Nikolaus Hansen
  • ISBN 978-3-8270-1383-5 (Berlin-Verlag)
  • 560 Seiten. Preis: 25,00 €

Titelbild: „1968 Helicopter Lands Jungle Clearing US Soldiers Vietnam War UPI Photo“ by manhhai is licensed under CC BY 2.0

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Samantha Harvey – Westwind

Frage ich hier in der Bücherei suchende Kund*innen nach einem Vergleichstitel für einen historischen Roman, dann fällt schnell der Titel Der Name der Rose. Wie viele der Kund*innen allerdings tatsächlich Ecos sperrigen Roman gelesen haben, als vielmehr Jean-Jacques Annauds Verfilmung des Buchs vor Augen haben, das weiß ich nicht. Was ich allerdings weiß, ist, dass Samanta Harvey ein Buch geschrieben hat, das erstaunlich viele Berührungspunkte mit Umberto Ecos Roman aufweist. Der Titel des Buchs: Westwind.


Darin erzählt sie die Geschichte des Priesters John Reve. Vier Tage sind es, die uns der Geistliche schildert, oder besser gesagt: beichtet. Denn mit der Beichte kennt er sich aus. Als zuständiger Geistlicher im kleinen Örtchen Oakham sitzt er tagein, tagaus im eigens für die Kirche angeschafften Beichtstuhl und hört sich die Sünden seiner Schäfchen an. Manche bereuen aufrichtig, andere gestehen Quisquilien und noch andere lassen ihre Verfehlungen nicht mehr schlafen. Reve muss sich als Seelsorger um sie alle kümmern und zweifelt so manches mal auch an sich und seinen Fähigkeiten.

Besondere Aufregung herrscht im Dorf am Ende der Faschingszeit, nachdem ein Mitbürger verschwunden ist. Der reichste Mann des Dorfes hatte zuvor die Pläne für einen Brückenbau vorangetrieben. Hat er sich in die Fluten gestürzt? Wurde er ermordet? VierTage lang lauscht Reve den Beichten der Dorfbewohner und befragt sich selbst. Angetrieben wird er dabei auch von seinem Dekan, der extra angereist ist und ihn unter Druck setzt.

Diese vier Tage schildert uns John Reve allerdings nicht chronologisch. Vielmehr wählt Samantha Harvey einen besonderen erzählerischen Clou. Denn die vier Tage werden uns rückwärts erzählt, beginnend beim Fastnachtdienstag, endend am Fastnachtssamstag. Alles beginnt mit der Sichtung der Leiche, alles endet mit dem Verschwinden des Dorfbewohners.

Ein origineller historischer Krimi

Samantha Harvey - Westwind (Cover)

Dadurch weiß sich Westwind von der Fülle anderer historischer Krimis abzusetzen. Auch gelingt es Samantha Harvey eindrücklich, das Dorf und das soziale Leben dort im Mittelalter zu schildern. Die große Armut, die Versuche der Dorfbewohner*innen, sich ein ökonomisches Alleinstellungsmerkmal zu verschaffen, die dumpfe Enge und intellektuelle Armut in Oakham. All das schildert Harvey eindrucksvoll und lässt so das „dunkle“ Mittelalter noch einmal auferstehen.

Wie ihr Priester tagein, tagaus im Beichtstuhl sitzt, die Geständnisse seiner Mitbewohner*innen entgegennimmt und ihnen die Absolution erteilt, mal gelangweilt, mal abgestoßen, mal interessiert, das vermag sie gut zu schildern. Allerdings ist diese Routine und erzählerische Gemächlichkeit ein Knackpunkt des Buchs, an dem sich die Leseerwartungen scheiden dürften. Denn Westwind ist alles andere als ein vorwärtsdrängender und pulsierender Thriller. Auch ein Ermittlerkrimi ist Harveys Werk nur bedingt.

Ein Bild aus Beichten

Die Spannung in diesem Buch speist sich aus der Frage, was mit dem Verschwundenen passiert ist. Der Wahrheit kommen wir als Leser*innen allerdings nur langsam auf die Spur. So ergeben viele Ereignisse erst in der Rückblende über die vier Tage einen Sinn. Mit dem Rückschritt in der Zeit verbinden sich langsam viele Punkte zu einem Muster. Die verschiedenen Beichten fügen sich langsam zusammen und lassen klarer sehen. Hierfür braucht es aber Geduld, denn die Handlung ergibt sich hier weniger aus der Außenhandlung, denn aus dem geistigen Puzzlearbeit.

In dieser Herangehensweise steht Harvey auch in der Tradition von Umberto Eco. Wie sich sein William von Baskerville unter den Mönchen umhört, mit ihnen spricht und so einen Eindruck gewinnt, das erinnert an die Beichtarbeit des Priesters, wenngleich wir hier anstelle von Adson von Melk die Assistenten sind, die sich ihre Gedanken machen. Das alleine als Analogie wäre allerdings reichlich dünn, eine Vielzahl von Krimis folgen ja diesem erzählerischen Grundmuster. Warum also meine Assoziation zu Der Name der Rose?

Viele weitere Merkmale von Westwind ähneln denen in Ecos Roman. Ein Geistlicher als Ermittler im tiefsten Mittelalter, ein rätselhafter potentieller Todesfall, ein abgeschlossener Kosmos voller Verdächtiger, Menschen, die die Bibel als Leitstern, aber auch als Drohkulisse interpretieren – und aus der Ferne drohen auch noch die Mönche der nahegelegen Abtei, den Grundbesitz der Dörfler zu beschneiden. Das alles sind Elemente von Samantha Harveys Buch, die einen ungewöhnlichen Mittelalterroman verfasst hat.

Fazit

Sollte künftig also wieder der eine Leser oder die andere Leserin nach einem Buch in der Tradition von Der Name der Rose fragen – jetzt habe ich einen guten Vergleichstitel, der durch seine verschachtelte Konstruktion und einen erzählerischen Clou überzeugt. Ein Buch, das das Dorfleben im Mittelalter plastisch beschreibt. Und das zeigt, wie komplex die Suche nach einer vermeintlich einfachen Wahrheit sein kann.


  • Samantha Harvey – Westwind
  • Aus dem Englischen von Steffen Jacobs
  • ISBN 978-3-85535-077-3 (Atrium)
  • 350 Seiten. Preis: 22,00 €
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Sophie Hardcastle – Unter Deck

Das Schiff als Handlungsort für Romane liegt im Trend. Die Vorteile für den Schauplatz liegen auf der Hand: ein hermetisch abgeschlossener Ort, ein überschaubares Figurenensemble (wenn man nicht gerade von einem Kreuzfahrtschiff ausgeht) und viele Möglichkeiten zur Entwicklung dieser Figuren durch Ausnahmesituationen.

Egal ob Walfänger (Ian McGuireNordwasser), mittelalterliches Schiff (Stuart TurtonDer Tod und das dunkle Meer) oder Yacht (Amity GaigeUnter uns das Meer) – zumeist geraten die Held*innen dieser Bücher in Ausnahmesituation, müssen mal ihr Leben, mal ihre Ehe retten. In Sophie Hardcastles Roman Unter Deck ist das nicht anders. Und dennoch gelingt ihr ein eigenständiger Roman von großer Eindringlichkeit, Farbigkeit und Dramatik. Sie kombiniert die Schiffsreisen einer jungen Frau mit der Erzählung eines sexuellen Missbrauchs und deR schwierigen Verarbeitung des Erlebten.

Beyond the sea

Dabei dauert es in Hardcastles Roman eine ganze Weile, bis es zur dramatischen Schiffspassage kommt, von der der Klappentext kündet. Zunächst lernen wir die junge Olivia kennen, die sich auf einem Boot als Opfer einer Entführung wähnt. Doch was sich für sie zunächst nach einer Entführung anfühlt ist vielmehr eine ritterliche Tat von Mac, so der Name des bärtigen Bootsbesitzers. Er hat Olivia betrunken aufgelesen und sie auf sein Boot in Sicherheit gebracht. Dort soll sie ausnüchtern. Doch bei dieser einen Rettungstat wird es nicht bleiben. Immer wieder wird Mac in den folgenden Jahren zu einem sicheren Hafen für die junge Frau werden.

Sophie Hardcastle - Unter Deck (Cover)

Im Anschluss an die vermeintliche Entführung macht er Olivia mit seiner Frau Maggie bekannt. Die beiden Frauen bemerken schon bald eine verbindende Art von Seelenverwandschaft. Denn während Maggie blind ist, prägt eine Synästhesie Olivias Wahrnehmung. Sie erkennt in Lautäußerungen Farben und Stimmungen (was Sophie Hardcastle wieder für adjektivsatte und sehr eindrückliche Schilderungen der maritimen Lebenswelt zu nutzen weiß).

Nachdem sie den Erwartungen ihrer fordernden und lieblosen Eltern entgehen möchte und die Beziehung zu ihrem Freund Adam auch nicht mehr zufriedenstellt, wagt sie mit Mac und Maggie einen Törn. Die beiden laden sie auf ihr Schiff ein – und schon bald werden der Seebär und die blinde Skipperin zu einer Ersatzfamilie für sie. Sie zeigen der jungen Frau eine andere Art des Umgangs miteinander auf. So lesen sie sich zum Frühstück Gedichte vor, die Wohnung der beiden ist voller Kunst und vor der Reise packen sie jede Menge Romane und Lyrik in ihr Reisegepäck (unter anderem wandert Rebecc Solnit mit ihrem Essayband Die Kunst, sich zu verlieren ins Reisegepäck).

Es ist eine Art Paradies, die Sophie Hardcastle rund um die drei so unterschiedlichen Menschen inszeniert. Man fängt Fische, taucht inmitten von Korallenwäldern und lauscht dem Walgesang. Allerdings sollte man sich von diesen bunten und verlockenden Schilderungen nicht aufs Glatteis führen lassen. Denn nach diesem Hymne auf das maritime Leben führt uns Sophie Hardcastle in völlig andere Untiefen.

Fünf Männer und eine Frau an Bord

Nach einem Zeitsprung sind wir wieder bei Olivia, die als Smutje bei einer Schiffsüberführung von Australien nach Neuseeland anheuert. Trotz der alten seemännischen Vorbehalte des Skippers Vlad gegen Frauen an Bord wird Olivia in die Truppe aufgenommen. Doch schon nach wenigen Tagen kippt die Stimmung an Bord gefährlich. Nicht alle Männer sind ihr wohlgesonnen, sie bricht sich eine Rippe und dann wir es vollends kompliziert, als sie Sympathien für ein Crewmitglied entwickelt. Eines Nachts kommt es zu einem Übergriff, der Olivia in den kommenden Jahren unlässig begleiten wird. Sophie Hardcastle inszeniert diesen erfreulich vielschichtig, differenziert und nachvollziehbar. Die entscheidende Nacht ist hier nicht schwarz oder weiß, sondern eben auch in Grautönen changierend. Immer wieder wird Olivia die Erfahrungen neu überdenken und durchleben.

Davon erzählt Hardcastle dann in den letzten beiden Teilen des Buchs. Nach einem weiteren Zeitsprung arbeitet Olivia dann in London in einer Galerie und geht eine Beziehung mit dem Bruder ihrer Chefin ein. Die Dämonen des Übergriffs lassen sie allerdings auch in dieser Beziehung nicht los. Stets löst das Element des Wassers in ihr Abscheu aus und holt Verdrängtes wieder ans Tageslicht. Das schwierige Leben mit dem Erlebten und Verdrängten wird dann auch im letzten Teil des Buchs behandelt. So bekommen ihre Schutzengel Mac und Maggie hier noch einmal einen Auftritt.

Unter Deck erzählt vom Kampf mit dem Erlebten. Beeindruckend schildert Sophie Hardcastle die Dämonen, die Olivia nicht mehr loslassen wollen. War das Buch bis zur Schiffspassage nach Neuseeland in weiten Teilen eine nahezu paradiesische Schilderung (in der alle Elemente des Folgenden allerdings auch schon angelegt waren), so kippt das Buch ab der Hälfte völlig. Angenehm schwankend und sehr nachvollziehbar gelingt ihr diese schwierige Schilderung, wo sich andere Erzählerinnen ins Quasi-Dokumentarische verlegen. Der Fortgang des Romans wird logisch aus dem Erlebten entwickelt und man ist ganz nah an dieser Heldin dran.

Fazit

Unter Deck ist Roman mit einem schwierigen Thema, das Sophie Hardcastle bravourös schildert. Um diesen Kern herum legt sie ein Sprachgewebe, das durch seine Farbigkeit und Opulenz besticht (übersetzt von Verena Kilchling). Liegen auch die einzelnen Teile zeitlich und räumlich auseinander, so gelingt es der 1993 geborenen Autorin, diese Teile logisch miteinander zu verbinden und so die Erfahrungen eines sexuellen Missbrauchs und die Konsequenzen nachvollziehbar und plastisch zu schildern. Ihr Debüt ist kein Buch, das gute Laune oder leichte Unterhaltung bietet. Aber es ist ein wichtiges und wuchtiges Buch. Eines, in dem das Boot auf dem weiten Meer zur Metapher auf die Verfasstheit der Heldin gerät. Lohnenswert und in meinen Augen besser gelungen als Bettina Wilperts nichts, was uns passiert. Eine klare Empfehlung und deutlich mehr als „nur ein Schiffsroman“.


  • Sophie Hardcastle – Nichts was uns passiert
  • Aus dem Englischen von Verena Kilchling
  • ISBN: 978-3-0369-5831-6
  • 320 Seiten. Preis: 23,00 €
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Donald Ray Pollock – Die himmlische Tafel

Keine Hoffnung, nirgends. Donald Ray Pollock entführt in seinem dritten auf Deutsch vorliegenden Roman Die himmlische Tafel in eine Welt, in der Not, Elend und Gewalt dominieren. Eine triste Reise, mitreißend geschildert.


Alles beginnt mit dem Farmer Pear Jewett. Dieser legt mit seinen Söhnen einen protestantischen Arbeitseifer an den Tag. Bettelarm schuftet er mit ihnen Tag für Tag und hat sein großes Ziel vor Augen: einen Platz an der himmlischen Tafel, den er sich verhofft. In Kontakt mit dem Jenseits gerät er allerdings schneller als gedacht. Schon zu Beginn des Buchs verstirbt er und hinterlässt seinen drei Jungen keinerlei irdischen Besitz. Im ärmlichen Georgia beschließen die drei, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Orientierung verheißt ihnen dabei der Groschenroman Bloody Bill Bucket, der das Leben eines Outlaws beschreibt.

Die drei Brüder eifern ihrem Vorbild nach und beschließen, eine Bank zu überfallen. Doch bei einem Überfall soll es nicht bleiben. Und schon bald zieht sich eine Schneise der Gewalt und Brutalität durch ganz Georgia. Allerdings machen auch eine ganze Reihe von Bürgern Jagd auf die drei. Vom Playboy bis zum ausgeraubten Händler jagen alle möglichen Verfolger den Outlaws hinterher. Da wird es schwierig mit einem Platz an der himmlischen Tafel.

Eine Hymne auf den Dilettantismus

Die himmlische Tafel ist ein Buch, das den Diletantismus feiert und in allen Facetten inszeniert. Denn wenngleich man mit den Stichworten Outlaws, Banküberfälle und Fluch viel Hollywoodglanz á la Butch Cassidy and the Sundance Kid verbindet, besitzt Donald Ray Pollocks Buch nichts davon. Die Überfälle sind dilettantisch, die Verfolger stolpern oftmals eher über die eigenen Füße denn über die Gesuchten. Bis es zum (ebenfalls recht schlampig und fehlerhaft) durchgeführten Showdown kommt, vergehen viele hundert Seiten.

Diese Seiten sind randvoll mit Gewalt, Hoffnungslosigkeit und Armut, die plastisch geschildert werden. So etwas wie Sympathieträger findet man in Roman eh kaum. Vielmehr zeigt Donald Ray Pollock Figuren, die denkbar weit weg sind vom amerikanischen Traum. Im Militär herrschen intellektuelle Ödnis, dumpf brodelndes Machotum und Homophobie, die Farmer schuften und arbeiten sich auf, ohne je einen Silberstreif am Horizont zu erahnen. Hochstapler, Huren und und Hallodris bevölkern das Pollock’sche Georgia 1917 en masse. So entsteht ein schmutziger Thriller, der das Tun und Treiben der drei Outlaws genau betrachtet, sich aber auch Zeit für etwas grimmigen Humor nimmt.

Fazit

Die himmlische Tafel ist ein Buch, das sehr explizit die Gewalt schildert, die die drei Brüder im Hinterland der USA hinterlassen. Dabei gelingt Donald Ray Pollock ein Buch, das eine Vielzahl von Figuren in den Blick nimmt. Eindringlich schildert er das Leben im amerikanischen Hinterland, das sich trotz des Jahres 1917 eher wie das 18. Jahrhundert anfühlt. Ein Buch mit hoher Plastizität, zurecht mit dem Deutschen Krimipreis 2017 ausgezeichnet und famos ins Deutsche übertragen von Peter Torberg. Eine echte Backlistperle aus dem Liebeskind-Verlag!


  • Donald Ray Pollock – Die himmlische Tafel
  • Aus dem Englischen von Peter Torberg
  • ISBN 978-3-95438-065-7 (Liebeskind)
  • 432 Seiten. Preis: 22,00 €
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James McBride – Der heilige King Kong

Ein heruntergekommener Treffpunkt im Brooklyn Ender der 60er Jahre. Jugendliche Drogendealer, ein Hehler mit italienischen Wurzeln namens Elefante, abgewirtschaftete Häuser, wenig Perspektive und mittendrin die Kirchengemeinde Five Ends. Das ist das Setting von James McBrides Roman Der heilige King Kong.


Eine schwer fassliche Tat wirbelt das Leben dort gehörig durcheinander. Denn eines Tages betritt der betagte Diakon Cuffy „Sportcoart“ Lambkin den Platz, an dem die Jugendlichen ihre Drogen hndeln. Er hält dem Anführer der Bande seinen alten Revolver ins Gesicht und drückt ab. Der Dealer überlebt verletzt die Tat und die Gemeinde ist aus dem Häuschen. Was hat den alten Diakon zu der Tat motiviert? Schließlich trainierte der alte Mann den Dealer einst als Kind, eine große Karriere als Quarterback hätte ihm in Aussicht gestanden. Nicht einfacher wird es, da Cuffy zu Hochprozentigem neigt und sich schon kurz nach der Tat nicht mehr an seinen verhängnisvollen Schuss erinnern kann.

King Kong im sozialen Brennpunkt

Wie bei einem Dominospiel löst der Schuss eine ganze Kette an Folgeereignissen aus. Drogendealer, Polizisten, die Mitglieder der Kirchengemeinde. Sie alle werden durch Sportcoats Tat beeinflusst. James McBride beobachtet und beschreibt all dies in der Folge, in dem er immer wieder den Blickwinkel wechselt. Dabei wählt er verschiedene Stilmittel zu Erzählung. Es gibt Passagen voller Slapstick, andere Passagen erinnern an eine Seifenoper, Thriller oder einschlägige Sozialreportagen.

„Nun wars ab, Mister. Ich werd dir ’n paar Sachen erzählen, die jeden zur Flasche greifen lassn. Und wenn ich fertig bin, ges du und tus, was immer du tun muss. Aber zuerst: Wo iss mein Käse?“

„Was?“

„Mein Käse.“

„Ich hab kein Käse.“

„Dann iss das das, was ich dir zuerst erzähle“, sagte sie, „Denn es iss alles miteinaner verbunden. Ich erzähls dies eine Mal. Aber komm nich noch mal durch meine Türe, wenn du mein Käse nich hass.“

James MacBride – Der heilige King Kong, S. 398

So entsteht ein literarisch diverses und umfassendes Bild des Lebens dort im Brooklyner Außenseiterbezirk. Gelungen schafft es McBride dabei, alle Fäden gemeinsam zu verknüpfen, sodass man am Ende sogar erfährt, woher der geheimnisvolle Edelkäse stammt, der sich wie durch ein Wunder jede Woche im Keller einer der Sozialwohnungen materialisiert.

Eine verbesserungswürdige Übersetzung

James McBride - Der heilige King Kong (Cover)

Ein wenig fraglich ist für mich nur die Übersetzung des Buchs durch Werner Löcher-Lawrence. So stolperte ich, auch eingedenk aktueller Übersetzungs- und Identitätsdebatten immer wieder über die N**** Worte, mit der sich die Protagonisten dort im Brennpunkt bedenken. Auch liest man immer wieder von „Farbigen“, einem Wort, das auf mich doch sehr überkommen wirkte. Lila, hellgrün oder sosa sind die Menschen ja kaum, es handelt sich um Latinos, Italiener und eben auch Schwarze. Ob es da die Vielzahl an N****-Worten gebraucht hätte, das frage ich mich wirklich. Auch befremdete mich das übersetzte Idiom der Bewohner dieses Fleckchens in Harlem. Alle Bewohner klingen durchweg ungebildet, simpel und fast etwas minderbemittelt. Allerdings lag mir das übersetzte Original nicht vor, sodass Werner Löcher-Lawrence‘ Übertragung auch eng am Original liegen mag. Im Deutschen liest es sich alles etwas ungelenk und naiv.

Immer wieder drängte sich mir während der Lektüre die Frage auf, ob es 2021 für ein solches Buch nicht eine zeitgemäßere und bessere Übersetzung für schwarzen Soziolekt und fragwürdige Termini gibt. Auch wenn ich selbst keine Patentlösung für das Poblem habe, zeigen doch etwa Miriam Mandelkow oder Uda Strätling in ihren präzisen Übersetzungen, wie moderne und nicht-rassistische Übersetzungsarbeit gehen kann. Schön wäre es, wenn man dieses Buch als Ausgangspunkt für eine Debatte nehmen könnte, wie modernes, inklusives und trotzdem originalgetreues Übersetzen solcher Texte aussehen könnte. In Zeiten zunehmender Sensibilisierung und breit geführter Debatten wäre so etwas auch für Übersetzungen in meinen Augen wünschenswert.

Einen ähnlichen Kritikpunkt äußert auch Sieglinde Geisel in ihrer Besprechung des Buchs für SRF Kultur 2. Auch Isabella Caldart schlägt auf ihrem Blog in diese Kerbe. Thomas Wörtche hingegen lobt den großen Wurf McBrides im Deutschlandfunk Kultur.


  • James McBride – Der heilige King Kong
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN: 978-3-442-75924-8 (btb)
  • 448 Seiten. Preis: 22,00 €
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